Tradierung in der Erziehung - Fotoanalysen, Tischgespräche und Interviews mit Familien aus St. Petersburg


Magisterarbeit, 2006

86 Seiten, Note: sehr gut (1,0)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Theoretisches Vorwissen
1.1 Tradition und Tradierung
1.2 Tradition in Russland
1.3 Tradition und Migration und Kultur und Migration
1.4 Tradierung, Familie und Erziehung in der neuesten deutschen erziehungswissenschaftlichen Forschung

2 Familien in Russland
2.1 Zum Stand und zur Bedeutung der Familie im heutigen Russland
2.1.1 Familie in der Sowjetunion
2.1.2 Familie im neuen Russland
2.2 Familie als Forschungsgegenstand in Russland

3 Methodische Vorgehensweise und Auswahl der Familien
3.1 Forschungsgegenstand
3.1.1 Migration aus Russland
3.1.2 Feldbestimmung
3.1.3 Die untersuchten Familien im Einzelnen
3.1.3.1 Die Familie aus St. Petersburg
Familie Butow
3.1.3.2 Die St. Petersburger Familien in Deutschland
Familie Schilow
Familie Nikolin
3.2 Forschungsmethoden
3.2.1 Zum Auswertungsverfahren
3.2.1.1 Formulierende Interpretation
3.2.1.2 Reflektierende Interpretation
3.2.1.3 Fallbeschreibung
3.2.1.4 Typenbildung
3.2.2 Die dokumentarische Methode der Bildinterpretation
3.2.2.1 Die Arbeitsschritte der dokumentarischen Methode der Bildinterpretation
3.2.3. Die Erhebungsverfahren
3.2.3.1 Das Leitfadeninterview
3.2.3.2 Der Leitfaden für die Befragung der Eltern
3.2.3.3 Tischgespräche
3.2.3.4 Fotoanalyse
3.3 Erhebungsablauf

4 Empirische Ergebnisse
4.1 Familie Butow
4.1.1 Leistungsorientierung
4.1.2 Geschlechterverhältnisse
4.1.3. Erziehungsstil
4.1.4 Eltern-Kind-Verhältnis
4.1.5 Die zu vermittelnden Werte
4.1.6 Elemente der geschlechtspezifischen Erziehung
4.2 Familie Schilow
4.2.1. Leistungsorientierung
4.2.2 Geschlechterverhältnisse
4.2.3 Erziehungsstil
4.2.4 Eltern-Kind-Verhältnis
4.2.5 Religiosität
4.2.6 Die zu vermittelnden Werte
4.2.7 Geschlechtsspezifische Erziehung
4.3 Familie Nikolin
4.3.1 Leistungsorientierung
4.3.2 Geschlechterverhältnisse
4.3.3 Erziehungsstil
4.3.4 Eltern-Kind-Verhältnis
4.3.5 Die zu vermittelnden Werte
4.3.6 Geschlechtsspezifische Erziehung

5 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die Erforschung familialer Erziehung, die auf der Übermittlung und Weitergabe von Werten, Wissen, Einstellungen und Verhaltensmustern der Eltern an ihre Kinder beruht, ist keineswegs ein neues Thema in der deutschen Erziehungswissenschaft. Schon Klassiker wie Schleiermacher und Kant haben sich aktiv mit der Thematik der intergenerativen Erziehung befasst (vgl. Ecarius 1998:42-43; Kraul 2003a:284-288). Dabei scheint das Interesse der Forschung, insbesondere die Frage: Was wird heute in Familien von den älteren Generationen an die jüngeren weitergegeben? zur Zeit größer denn je zu sein. Angeregt von den wissenschaftlichen Debatten über den Verfall der traditionellen Werte, über den Niedergang der familialen Traditionen sowie über die Auflösung der Familie selbst, geraten die Prozesse der intergenerativen Tradierung in den letzten zehn Jahren zunehmend in das Blickfeld des wissenschaftlichen Interesses der deutschen erziehungswissenschaftlichen Forschung. So liegen gegenwärtig einige neue empirische Ergebnisse zur familialen Tradierung in der Erziehung vor (Ecarius 2002; Bohnsack/Gebhard/Kraul/Wulf 2002; Brake/Büchner 2003), die zeigen, dass trotz vieler Prophezeiungen nicht von einem generellen Werte- und Traditionsverlust in der familialen Erziehung oder von einer Abkehr von der Familie in Deutschland ausgegangen kann. Die oben zitierten Veröffentlichung weisen nämlich u. a. darauf hin, dass die alten Werte wie Ehrlichkeit, Fleiß, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Anständigkeit, Pflichterfüllung immer noch eine hohe Konjunktur in der Familienerziehung haben. Ebenso findet die Familienerziehung immer noch in einem Mehrgenerationengefüge statt, so dass weiterhin nicht nur die Eltern, sondern auch die Großeltern zur Weitergabe von sozialem und kulturellem Kapital beitragen.

In Migrantenfamilien jedoch ist die Übermittlung und Weitergabe von Werten, Normen und Einstellungen, d.h. Tradierungsprozesse in der Erziehung, bislang auf viel weniger Interesse seitens der deutschen erziehungswissenschaftlichen Forschung gestoßen[1]. Man weiß immer noch wenig darüber, wie die Prozesse der Tradierung und Erziehung während des Migrationprozesses verlaufen und wie sie von den Familien selbst gestaltet und erlebt werden. Ausgehend von der in der Migrationsforschung gängigen Annahme, dass die Migranten, wenn sie auf die deutsche Gesellschaft treffen, phasenhaften Wandlungsprozessen ausgesetzt sind (vgl. Herwartz-Emden 2003:20), ist anzunehmen, dass solche migrationspezifischen Prozesse natürlich die familialen Erziehungs- und Tradierungspraktiken verändern. Ein Ziel dieser Arbeit ist die Rekonstruktion dieser Veränderungen.

Meine Aufmerksamkeit richtet sich in diesem Zusammenhang auf die Tradierungsprozesse in der Erziehung von Familien russischer Herkunft aus St. Petersburg, die eine bisher sehr selten untersuchte Migrantengruppe darstellen[2]. Die zentrale Frage meiner Arbeit ist folgende: Welche Konsequenzen hat die Migration nach Deutschland für die Inhalte und Modi der familialen Tradierung in der Erziehung in den St. Petersburger Familien? Bleiben die nach Deutschland migrierten Familien mit ihren aus Russland mitgebrachten Erziehungs- und Wertevorstellungen sowie Traditionen fest verwurzelt oder entstehen in der Migration neue Vorstellungen und Orientierungen, und wenn ja, dann welche? Welche Inhalte der Tradierung geben die St. Petersburger Familien in der Migration auf und wie begründen sie das? Von Interesse ist auch die Frage: Welche Tradierungsinhalte nehmen für die Familien in der Situation der Migration eine zentrale Bedeutung ein? Diese Fragen zu beantworten ist nur durch einen empirischen Vergleich der nach Deutschland migrierten St. Petersburger Familien mit solchen, die immer noch in St. Petersburg wohnen, möglich.

In der vorliegenden Arbeit werden demnach die Tradierungsprozesse in der Erziehung in den jungen Familien aus Sankt Petersburg und den Sankt Petersburger Familien in Deutschland empirisch untersucht. Dabei wird zum Ziel gesetzt, den Inhalten der Tradierung, also dem, was in diesen Familien von den älteren Generationen an die jüngeren weitergegeben und überliefert wird, mit Hilfe von verschiedenen Erhebungsverfahren auf die Spur zu kommen. Zweitens wird hier von Anfang an ein empirischer Vergleich der Tradierungsinhalte in den beiden Familientypen, also in den Familien mit den Migrationserfahrungen[3] und in den Familien ohne diese Erfahrungen, eine komparative Analyse vorgenommen. Im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses steht dabei die Frage: In wieweit lassen sich Inhalte der Tradierung in Familien aus St. Petersburg von Tradierungsinhalten in den St. Petersburger Familien, die nach Deutschland migriert sind, unterscheiden?

Dann wäre es interessant zu klären, welchen Einfluss die gesellschaftlichen Transformationsprozesse der 90er Jahre in Russland auf die innerfamilialen Erziehungs- und Tradierungsprozesse hatten. Lassen sich vielleicht schon neue Inhalte des Tradierten, die auf die Bedingungen der Wende zurückzuführen sind, bei den in St. Petersburg wohnenden Familien feststellen?

Methodisch basiert diese Arbeit auf drei Erhebungsverfahren: dem Tischgespräch, dem Leitfadeninterview und der Fotoanalyse. Die mit Hilfe dieser drei Methoden erhobenen empirischen Daten werden mit der dokumentarischen Methode der Interpretation von Ralf Bohnsack ausgewertet.

Untersuchungsgegenstand der Arbeit sind drei Familien. Es handelt sich erstens um eine junge Familie mit zwei Kindern aus St. Petersburg und zweitens um zwei St. Petersburger Familien, die vor einiger Zeit nach Deutschland migriert sind. Da aber familiale Tradierungsprozesse in der Erziehung nicht nur durch Migration beeinflusst werden können, sondern vom Herkunftskontext der Erforschten abhängen, wurden Familien aus gleichen soziokulturellen Milieus als Vergleichsfälle in die Untersuchung mit einbezogen. Insgesamt beziehen sich meine Ausführungen auf Familien aus dem akademischen Milieu einer russischen Großstadt.

Meine Arbeit habe ich folgendermaßen aufgebaut: Im ersten Kapitel wird eine Klärung der das Forschungsfeld und die Fragestellung beeinflussenden Begriffe vorgenommen sowie der Forschungsstand zur Thematik Tradierung, Erziehung und Familie skizziert. Das zweite Kapitel stellt sowohl die sowjetische als auch die Familie im heutigen Russland vor. Das dritte Kapitel beinhaltet die Darstellung der methodischen Vorgehensweisen der Arbeit. Ich beschreibe zunächst den Forschungsgegenstand der Untersuchung. Danach stelle ich die Auswertungsmethode der dokumentarischen Interpretation dar, gefolgt von den verwendeten Erhebungsverfahren, und schließlich beschreibe ich den Untersuchungsablauf der Arbeit. Im vierten Kapitel werden die empirischen Ergebnisse der Studie in drei Unterkapitel präsentiert, dabei werden die drei Familien jeweils für sich dargestellt. Das letzte Kapitel dient der Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse. Als Anhang sind dieser Arbeit beigefügt:

- Interviewleitfaden,
- Transkripte der drei Tischgespräche,
- exemplarische Analyse eines Tischgesprächs,
- Fotografien, die im Rahmen dieser Arbeit Gegenstand einer Analyse sind,
- exemplarische Analyse einer Fotografie.

1 Theoretisches Vorwissen

Um die in der Einleitung vorgestellte Fragestellung zu bearbeiten, werden zunächst einige theoretische Grundannahen und Kategorien geklärt. Ich beginne mit den Begriffen Tradition und Tradierung.

1.1 Tradition und Tradierung

Tradition ist ein sich aus dem lateinischen Substantiv „traditio“ herleitender Begriff, der ganz allgemein Übergabe bedeutet (vgl. Duden 1989:1546). Bei den alten Römern wurde aber der Begriff traditio meist im juristischen Sinne gebraucht und bezeichnete die Übergabe eines Gegenstands im Rahmen einer Erbschaft. Heutzutage ist der Gebrauch des Begriffs Tradition (sowohl in der Alltagssprache als auch in der Wissenschaft) nicht mehr so einheitlich. Schon in der alltagsprachlichen Verwendung wird Tradition unterschiedlich verstanden: einerseits als Handlungsweisen, die einfach üblich sind, so etwa das Eröffnen des Hochzeitsballs durch Braut und Bräutigam; andererseits als ein regionales Brauchtum, wie z.B. das Münchner Oktoberfest oder das Göttinger Gänselieseküssen, oder aber Tradition als eingelebte Gewohnheit wie z.B. der gleiche Sonntagspaziergang. Im Folgenden werde ich einige Überlegungen zum Traditionsbegriff anfügen, wie sie in der sozialwissenschaftlichen Literatur erwogen werden.

Max Weber hat sich Anfang des vorigen Jahrhunderts explizit dem Phänomen Tradition zugewandt. Er zählt die Orientierung an Tradition, d.h. das traditionale Handeln und das wertrationale Handeln (im Sinne einer bewusst erhaltenen Tradition), zu zwei der wichtigsten Grundtypen des sozialen Handelns (vgl. Weber 1976:12-15). Nach ihm ist ein wertrationales Handeln ein Handeln, das „durch bewussten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg“ (1976:12) bestimmt ist. Traditionales Handeln ist, wie Weber es formuliert, ein Handeln, das „durch eingelebte Gewohnheiten“ (1976:12) markiert ist. Nach Weber hat Tradition demnach zwei Ebenen: einerseits Tradition als eingelebte Einstellungen und Gewohnheiten und andererseits Tradition als bewusst aufrecht erhaltenes Handeln. Das traditionale Verhalten steht bei ihm an der Grenze zum wertrationalen. Obwohl in der Alltagspraxis das streng traditionale Verhalten über das wertrationale Verhalten dominiert, kann es leicht in das sinnhaftorientierte übergehen, weil „die Bindung an das Gewohnte in verschiedenem Grade und Sinne bewusst aufrecht erhalten werden kann“ (1976:12). Somit ist in Anlehnung an Weber die soziale Wirklichkeit „durch eine wechselseitige Durchdringung bewusster, halbbewusster und vorbewusster Ein- und Vorstellungen“ (Kraul 2003b:10) geprägt.

Anknüpfend an die Feststellungen Webers setzten sich Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhunderts mit den sozialen Bedingungen, die Handlungsroutinen und eingelebte Gewohnheiten bewirken, auseinander und stellten fest, dass sowohl Mentalität als auch Habitus[4] zu diesen Bedingungen gehören (vgl. Kraul 2003b:10). Dabei betonen sie, dass sie Mentalität und Habitus „als objektive Determinanten des Handelns und nicht über die Erfahrungen der Handelnden vermittelt betrachten“ (2003b:10).

Josef Pieper (1963) versteht Tradition als einen Vorgang, als einen geschichtlichen Prozess, der sich „zwischen zwei Partnern, einem ältern und einem jüngeren, zwischen Vater und Sohn, zwischen den Generationen abspielt“ (Pieper 1963:22). Dabei handelt es sich nicht um einen Dialog, nicht um Austausch, sondern „um eine sozusagen ‚einseitige’ Mitteilung“ (1963:22). Nach Pieper heißt Tradition nicht einfach etwas „aushändigen“, sondern: “etwas zuvor Eingehändigtes wiederum aushändigen“ (1963:23). Damit kann „der Letzte in der Reihe“ (1963:23) etwas ihm Dargebotenes nur dann annehmen und wiederum weitergeben, wenn er das Dargebotene tatsächlich in selbsterlebter Praxis erworben, d.h. zu Eigenem gemacht hat.

Für Antony Giddens (1993, 1995) ist Tradition „eine Routine voll innerer Sinnhaftigkeit und nicht bloß leere Gewohnheit um der Gewohnheit willen“ (Giddens 1995)[5], „aufs Engste mit dem Gedächtnis, insbesondere mit dem ‚kollektiven Gedächtnis’, wie es der französische Soziologe Maurice Halbwachs beschrieben hat, verbunden [...] ist, und verfügt im Gegensatz zum Brauchtum über bindende moralische und emotionale Kraft“ (Giddens 1993:450). Nach Halbwachs, so Giddens, dient das „kollektive Gedächtnis“ zur Rekonstruktion der Vergangenheit auf Basis der Gegenwart. Traditionelles zu bewahren heißt nach Halbwachs also, Vergangenheit unter dem gewichtigen Einfluss der Gegenwart zu rekonstruieren. Die Rekonstruktion der Vergangenheit ist grundsätzlich kollektiver Natur und ist an die soziale Praxis fest gebunden (vgl. Giddens 1993:450-451), d.h. das kollektive Gedächtnis ist immer konkret an Gruppen, in denen wir leben, also an ein konkretes soziales Milieu gebunden. Milieuspezifische, bzw. gruppenspezifische Erfahrungsräume liefern uns nach Halbwachs Anhaltspunkte und Anlässe für unsere Erinnerungen und hinterlassen Spuren in unserem Bewusstsein (vgl. Halbwachs 1991:2). Der größte Rahmen in Zusammenhang mit dem kollektiven Gedächtnis ist nach Halbwachs das nationale Milieu (vgl. Halbwachs 1991:41). Giddens zeigt außerdem, dass Tradition immer zwischen dem Eigenen und dem Anderen, Außenstehenden unterscheidet (vgl. Giddens 1993:464), denn nur da, wo man einander unmittelbar versteht, kann ein kollektives Gedächtnis gebildet werden. Dennoch hat Karl Mannheim darauf hingewiesen, dass nur innerhalb konjunktiver Erfahrungsräume, d.h. innerhalb der Gemeinsamkeiten des biographischen Erlebens, Gemeinsamkeiten der Sozialgeschichte, des Schicksals ein „unmittelbares Verstehen“ (Mannheim 1980[6]) möglich ist, dort aber, wo das nicht der Fall ist, ist Verständigung auf wechselseitiges „Interpretieren“ angewiesen (vgl. Bohnsack 1998b:120). Tradierung als Prozess, der die Weitergabe der Sinngehalte der Traditionen selbst bezeichnet, ist somit im Sinne von Mannheim, Giddens und Halbwachs auf kollektives Gedächtnis, auf Verständigung gestützt und an konjunktive Erfahrungsräume gebunden[7].

1.2 Tradition in Russland

Während der Begriff Tradition in der westeuropäischen Kultur einen per se zentralen Begriff darstellt, so hatte dieser in der Kultur des sowjetischen Russland einen marginalen Wert. In den sowjetischen Geistes- und Sozialwissenschaften wurden keinerlei Versuche unternommen, theoretische Erkenntnisse zu Traditionen eines sozialistischen Arbeiter- und Kolchosbauerstaates zu gewinnen. Die Überwindung des zaristischen Erbes wie bürgerliche, kleinbürgerliche, bäuerliche und religiöse Traditionen wurde sogar propagiert und gefordert. Es bleibt also nur noch zu vermuten, was sich mit dem Begriff sowjetische Tradition identifizieren lässt.

Erst nach der Wende, in den Zeiten des Umbruchs und der Veränderungen, sind Traditionen ein wichtiges Thema der sozialwissenschaftlichen Diskussion in Russland geworden. Die russische Kunstwissenschaftlerin Tatjana Čeredničenko[8] (1999) nennt das Wort tradicija (Tradition) sogar das ein in der Literatur der 90er Jahren des 20. Jahrhunderts am meisten zitierte Wort Russlands. Sie schreibt, dass im postsowjetischen Russland eine Sonderform der Tradierung, nämlich die Rückwendung und die Rückbesinnung auf frühere kulturelle Inhalte des zaristischen Russland, eine weite Verbreitung gefunden hat (vgl. Čeredničenko 1999:11-12). So wurden z.B. in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts in Russland Lehranstalten gegründet, wie slawische Gymnasien oder Kadettenkorps, die bewusst auf traditionelle russische Bildungsinstitutionen der Zarenzeit zurückgreifen (vgl. Gromyko 1996:50-51). Bezogen auf die explodierende Zahl der neugegründeten landwirtschaftlichen Familienbetrieben kann man wohl über ein Wiederaufleben des bäuerlichen Bewusstseins, bäuerlicher Traditionen im heutigen Russland sprechen. Besonderes stark ist Tendenz zur Wiederherstellung der Traditionen aber im Bereich der Kirche.

1.3 Tradition und Migration und Kultur und Migration

Im gängigen Wortgebrauch beinhaltet Tradition in Zusammenhang mit Migration oft Folgendes: Tradition gib es nur im Herkunftsland. Die Migranten treten in die Aufnahmegesellschaft ein und bringen die Traditionen aus den Herkunftsländern in die neue Gesellschaft mit. In der neuen Gesellschaft werden die Traditionen entweder weitergeführt oder gehen verloren. Jedoch geht Tradition im Kontext der Migration weit über dieses Alltagsverständnis hinaus und umfasst viel mehr. Für Ursula Apitzsch (1996, 1999) hat Tradition mit „etwas, was in der Migration entsteht“ (Apitzsch 1996:11) und, bei der Bewältigung von „Migrationssituationen“ (1996:15) neu gebildet wird, zu tun, als mit „Altem“ und „Hergebrachtem“ (vgl. Apitzsch 1996:11-15; 1999:11). Sie definiert Traditionsbildung als eine Art Synthesearbeit: „Als diese Form der Synthese ist Traditionsbildung weder bloße Zurückspiegelung der rahmenden Bindungen, d.h. der sich überlagerten Mikro-, Meso- und Makrostrukturen, unter denen sie erzeugt wurde, noch ist sie bloße „identity history“, eine Narration, die mit nichts als sich selbst vergleichbar ist“ (Apitzsch 1999:11). Für Apitzsch ist Traditionsbildung also nicht eine einfache Übernahme der verfügbaren Verhaltensregeln und Normen oder eine bloße Selbstdarstellung, sie ist viel mehr eine individuelle Leistung der Migranten, die in der Auseinandersetzung mit den Migrationserfahrungen erst entsteht. „Sie ist ‚identity-work’, die Reproduktion eines ‚Eigenen’, welches jedoch nur im Zusammenhang der Aneignung des ‚Anderen’, nämlich der Integration in die Ankunftsgesellschaft, einen Sinn ergibt“ (1999:11)[9].

Da die Migranten zu einer bestimmten kulturellen Gruppe gehören, bringen sie nicht nur Traditionen, sondern auch ihre eigene Kultur in die Aufnahmegesellschaft mit. Kultur wird hier in der Funktion symbolischer Bedeutungssetzungen betrachtet und als „das Orientierungssystem, das unser Wahrnehmen, Bewerten und Handeln steuert, das Repertoire an Kommunikations- und Repräsentationsmitteln, mit denen wir uns verständigen, uns darstellen, Vorstellungen bilden“ definiert (Auernheimer 1999:28). Anders gesagt, wird Kultur in Anlehnung an Auernheimer und sein Konzept der interkulturellen Erziehung als übergeordnete Sinn- und Orientierungsstruktur einer Gruppe verstanden. Auernheimer verweist außerdem auf zwei wichtige Merkmale von Kultur, erstens auf ihren Symbolcharakter und zweitens auf die Orientierungsfunktion der Kultur in Form von Kontrollmechanismen und kulturellen Programmen. Zusammenfassend sagt Auernheimer (1999:32-33), dass Kultur sich, wenn sie als ein Orientierungssystem verstanden wird, mit der Änderung der Lebensverhältnisse auch verändern müsse, „um weiter zur Orientierung tauglich zu sein“ (1999:32).

Im Kontext der Migration ist Veränderung bzw. Neugestaltung von Kultur besonders zu beachten, da bei den Menschen in der Migration abrupte Veränderungen in den Lebensverhältnissen stattfinden. Mehrere Studien über die türkischen Migranten haben gezeigt, dass Migration die Bildung einer besonderen Migrantenkultur zur Folge hat. Das zeigt sich z.B. daran, dass Migranten sich in der Aufnahmegesellschaft nicht nur auf ihre Herkunftskultur, sondern viel mehr auf eine eigenständige, in der Migration entstandene Kultur, die Anteile sowohl der Herkunfts- als auch der Aufnahmekultur beinhaltet, beziehen. Es zeigt sich aber auch daran, dass bei einer Rückkehr nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt die türkischen Rückkehrer nicht mehr ohne weiteres in das kulturelle Gefüge ihres Landes passen (vgl. Gemende 1999:13). Herwartz-Emden (2003:22) spricht in Zusammenhang von Migration von einer „Mischkultur“, die auch Aussiedler aus dem postsowjetischen Russland in Deutschland entwickeln[10]. Deutlich wird dies in erster Linie bei der Sprache. So stellten Nina Berend (1998) und Katharina Meng (2001) in ihren Untersuchungen zur sprachlichen Integration von Aussiedlerfamilien und Elena Zemskaja (2001) in einer Studie zur Sprache der zweiten Generation der russischen Immigranten in Berlin fest, dass das in Deutschland gesprochene Russisch viele Veränderungen, besonderes auf der lexikalischen Ebene, gegenüber dem Mutterlandrussischen aufweist. Die russischsprachigen Migranten in Deutschland entwickeln quasi eine eigene russische Sprache. In der slavischen Sprachwissenschaft entstand in den letzten Jahren sogar der Terminus „Diasporarussisch“ (Steinke 1999), der das Russische in der fremdsprachigen Umgebung vom Mutterlandrussischen abgrenzen soll. Dementsprechend sind die Veränderungen in der kulturellen Praxis der Migranten als unvermeidliche Folge der Veränderungen ihrer Lebensbedingungen und ihrer Lebenszusammenhängen zu sehen. Es wäre folglich falsch, die Mischkulturen der Migranten als defizitär zu bezeichnen, sie sind eher kreative, individuelle Leistungen, die Migranten für ihr Überleben in der Migration hervorbringen.

1.4 Tradierung, Familie und Erziehung in der neuesten deutschen erziehungswissenschaftlichen Forschung

In der vorliegenden Arbeit werden Tradierungsprozesse, die im Inneren der Familie statt- finden, untersucht. In dieser Arbeit schließe ich mich dem Familienbegriff an, der Jutta Ecarius (2002) Untersuchung „Familienerziehung im historischen Wandel - eine qualitative Studie über Erziehung und Erziehungserfahrungen von drei Generationen“ zugrunde liegt. Ecarius fasst Familie begrifflich wie folgt: „Familie verstehe ich als ein gegenseitig aufeinander bezogenes Miteinander verschiedener Generationen[11], die in unterschiedlichen sozialen und biographischen Zeitstrukturen den Erziehungsprozess durchlaufen und gleichzeitig durch ein interaktives Beziehungsgeflecht miteinander verbunden sind“ (Ecarius 2002:37). Dieser Begriff kann sich sowohl auf die Zwei-Generationen-Familie (Kernfamilie) als auch auf die Mehr-Generationen-Familie beziehen.

Jutta Ecarius beginnt ihr Buch mit den Worten: „Familie ist ein Ort der primären Erziehung“ (2002:13). Demnach ist für sie Familie der pädagogische Ort, an dem Heranwachsende von Erwachsenen erzogen werden. Was ist aber Erziehung? In der erziehungswissenschaftlichen Literatur gibt es keine einheitliche Auffassung darüber, was der Begriff Erziehung genau beschreibt. Gudjons (1993) schreibt z.B., dass mit dem Begriff Erziehung „inzwischen so Unterschiedliches und Vielfältiges gemeint (ist), dass er seine Kontur verliert“ (Gudjons 1993:76). Tenorth (1988) spricht von „Begriffswirrwarr“ (Tenorth 1988:12). Schwenk (1989) postuliert sogar die Auflösung des Erziehungsbegriffs. Unter Erziehung wird in der Erziehungswissenschaft u. a. der „Versuch der Verbesserung einzelner Qualitäten“ (Olkers 1991)[12] oder aber die dauerhafte Verbesserung des „Gefüges der psychischen Dispositionen“ des Kindes verstanden (vgl. Brezinka 1975:95).

Jutta Ecarius (1998, 2002) versucht aber den Blick in der Erziehungsbegriffsdebatte explizit auf die familiale Erziehung zu lenken, weil sie genau wie viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Familie als ersten Ort, wo erzogen wird, versteht (vgl. Ecarius 1998:57). In Anlehnung an die Studie von Mollenhauer, Brumlik und Wudtke zur Familie in Deutschland in den 60er Jahren definiert sie die Gesamtheit der Familienerziehung allein mit Hilfe des Begriffes Interaktion: “Familienerziehung als familiale Generationsbeziehung lässt sich als eine Form familialer Interaktion zwischen älteren und jüngeren Generationen charakterisieren“ (Ecarius 2002:45). Jede Familie entwickelt aber ihre eigenen, ganz spezifischen Muster der familialen Interaktion, „die über positive und negative Bestätigung verfestigt werden“ (2002:46). Ähnlich wie bei Watzlawicks Axiom (1996) über die Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren, postuliert Ecarius die These, dass es in der Familienerziehung nicht möglich ist, nicht zu erziehen (vgl. Ecarius 2002:51). Auch in den Situationen, wo versucht wird, Erziehung zu „verneinen“ (2002:51), wird in den Interaktionsprozess der Erziehung eingetreten. „Familiale Interaktion findet nicht nur dann statt, wenn sie absichtlich, bewusst oder erfolgreich ist. Sie besteht auch dann, wenn kein gegenseitiges Verständnis zustande kommt, sich Generationen streiten und der Interaktionsprozess durch gegenseitige Vorwürfe erschwert ist. Da die Familienerziehung als ein Teilbereich in die familiale Interaktion der Generationen eingebunden ist und teilweise darin aufgeht, gilt für die Familienerziehung, dass es nicht möglich ist, nicht zu erziehen“ (2002:51).

Bei der Interpretation der empirischen Ergebnisse ihrer Studie (2002), in der 27 Familien in Generationslinie (Großeltern, Eltern, Kinder) in Deutschland untersucht wurden, stellt Ecarius fest, dass Familienerziehung sich auch in Form der Tradierung vollzieht, denn teilweise versuchen einige Eltern der zweiten (1939-1953) und sogar dritten (1967-1975) Generation, die traditionelle Machtbalance mit einem asymmetrischen Muster, die sie selbst in der Familie vor 20-30 Jahren erlebt haben, zu praktizieren, auch wenn sie die auf Strafe und Gehorsam setzende Erziehung der eigenen Eltern offen kritisieren (vgl. Ecarius 2002:222-228; 261). Außerdem versuchen Eltern mit landwirtschaftlichen Betrieben, die ländliche Lebensweise trotz vieler Schwierigkeiten und veränderter Bedingungen ihren Kindern attraktiv zu machen (vgl. Ecarius 2002:256). Sie setzen somit bewusst Traditionen ihrer Lebensorientierung und Lebensführung fort. Demzufolge werden in der Familienerziehung, die in Form von Familieninteraktionen stattfindet, einerseits „die kognitiven Schemata der Familie“ (2002:257) wie z.B. die Muster des Umgangs mit Kindern, andererseits die kompletten Lebensweisen tradiert.

Im Rahmen einer weiteren empirischen Studie, die die Tradierungsprozesse in der Erziehung sowie deren Veränderungen in Familien aus der Koblenzer Gegend und aus Potsdam untersuchte, kamen Ralf Bohnsack, Winfried Gebhard, Margret Kraul und Christoph Wulf (2002) zum Ergebnis, dass unter dem, was in der Erziehung tradiert wird, in erster Linie soziale Güter wie Werte, Normen und Einstellungen zu verstehen sind. Ferner werden Handlungs- und Erziehungsorientierungen, habituelle Praktiken (z.B. Essgewohnheiten, Konsum-, Wohn-, Kleidungsverhalten, Freizeitaktivitäten) sowie innerfamiliale Kommunikationsstile in den untersuchten Familien aus Ost- und Westdeutschland in unterschiedlicher Weise tradiert. Zentral ist in dieser Studie die Aussage, dass es sich bei Tradierungsprozessen nie um Einbahnstrassen handelt: Die Interaktionen und das Verhandeln mit den Kindern führen auch auf Seiten der Eltern zu Modifikationen der Tradierungsinhalte (vgl. Kraul 2003b:295-296).

Bei Anna Brake und Peter Büchner (2003) geht es auch im Zusammenhang mit der Mehrgenerationenfamilie als einem Erziehungs- und Bildungsort um die Weitergabe und Aneignung von kulturellem und sozialem Kapital. Die Autoren sehen u. a. die alltäglichen kulturellen Praktiken (Musizieren, Spielen, Essen, Urlaub, Wohnen, Hobbys usw.), Denkweisen, Geschmackspräferenzen[13], Umgangsformen, sprachliche Ausdrucksfähigkeit, Medienkompetenz sowie Konfliktfähigkeit, Verantwortungsbereitschaft und Selbstbestimmungsfähigkeit[14] als zentrale Dimensionen des kulturellen und sozialen Kapitals, die im Zuge der intergenerativen Transmission[15] in den Familien von ihren Mitgliedern erworben werden können (vgl. Brake 2003:628-634).

2 Familien in Russland

2.1 Zum Stand und zur Bedeutung der Familie im heutigen Russland

Die gegenwärtige Situation der Familie in Russland kann nicht ohne die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Transformationsprozesse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion betrachtet werden. Die politischen, sozioökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, die sich im Zuge dieses Transformationsprozesses verändert haben, wie der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft, die starke soziale Polarisierung der Gesellschaft, die zunehmende Bedeutung der russisch-orthodoxen Kirche, die Liberalisierung der Lebensformen usw. wirken in unterschiedlicher Weise auf den Bereich Familie ein. Darauf, wie sich die familiale Wirklichkeit in Russland verändert, wird im Folgenden eingegangen. Dabei werde ich nur solche besonderen Merkmale der modernen russischen Familie darstellen, die für dieser Arbeit relevant sind, präsentieren. Weil alle an der Untersuchung beteiligten Eltern zur Sowjetzeit geboren wurden und in „sowjetischen“ Familien aufwüchsen, wird zuerst das sowjetische Familienbild kurz vorgestellt.

2.1.1 Familie in der Sowjetunion

Die traditionelle, aber auch politisch propagierte Familienform in der Sowjetunion war die Familie mit verheirateten Eltern und ihren leiblichen Kindern. Die Ehe war sogar die einzige von der Gesellschaft akzeptierte und legitime Form des Zusammenlebens von Männern und Frauen. Nichteheliche Partnerschaften wurden als unmoralisch gebrandmarkt und juristisch nicht anerkannt. Voreheliche sexuelle Beziehungen und Kontakte der Jugendlichen wurden mit allen Mitteln (Verbote und Moralpredigten der Eltern, Pädagogen und Ärzte) zu verhindern versucht. Und es scheint so, dass der aktive „Schutz“ der Jugend vor den Gefahren der frühzeitigen Sexualisierung gewirkt hat, denn der offiziellen sowjetischen Statistik zu Folge machten die meisten Jugendlichen vor 20 bis 30 Jahren ihre ersten sexuellen Erfahrungen erst nach dem Erreichen des offiziellen Heiratsalters, also mit 18 Jahren, und bei 70% der jungen Frauen und 45% der jungen Männer erst nach der Heirat, also in der Ehe (vgl. Ahlberg 1969:145-146).

Geheiratet wurde in der Sowjetunion relativ früh. Die Frauen heirateten im Durchschnitt mit 20 bis 21 Jahren (mit 28 oder 30 Jahren galt eine unverheiratete Frau sogar als „alte Jungfer“, der es gebührte, sich dem Beruf und den Verwandten zu widmen). Die Männer leisteten zunächst im Alter von 18 bis 20, 21 Jahren ihren Militärdienst ab. Erst dann heirateten sie. Deshalb lag das durchschnittliche Heiratsalter bei Männern um drei Jahre (24) über dem der Frauen[16] (vgl. Goehrke 2005:342). Das erste Kind wurde bei den meisten jung Verheirateten schon vor dem 25. Lebensjahr der Frau geboren; die damalige Familienpolitik war um die Geburt gesunder Neugenerationen als Sicherung der Zukunft der Gesellschaft und Wirtschaft besorgt. Die historisch bedingte positive Lebenseinstellung zur Großfamilie sowie der Wohnungsmangel waren die Gründe dafür, dass etwa sechs von zehn jungen Leute ihr Elternhaus auch nach der Heirat nicht verließen (vgl. Goehrke 2005:343). In vielen Wohnungen wohnten zwei bis drei Generationen zusammen[17].

Ein zentrales Charakteristikum des Familienlebens in der Sowjetunion war die Berufstätigkeit beider Elternteile. Für Frauen in Sowjetrussland brachte die Berufstätigkeit soziale Anerkennung mit sich und war eine absolute Selbstverständlichkeit. Sie schloss für eine Mehrheit der Frauen das Wohl der Kinder nicht aus. Beide Bereiche, Beruf und Familie, galten als miteinander vereinbar. Buntes Zusammenleben innerhalb einer Großfamilie (denn in einer Großfamilie gab es immer jemanden, der auf die Kinder aufpassen konnte), sowie ausreichende infrastrukturelle Unterstützungssysteme für erwerbstätige Mütter in Form von öffentlichen Kinderkrippen, Kindergärten und Kinderhorten ermöglichten, dass die Frauen in Sowjetrussland auch nach der Geburt der Kinder berufstätig blieben und eine erfolgreiche Karriere machen konnten.

Die Großmütter (Babuškas) waren sehr häufig an der Erziehung der heranwachsenden Generationen aktiv beteiligt. Goehrke (2005:348) schreibt sogar, dass, der Schätzung der sowjetischen Soziologen zufolge, etwa drei Viertel der Anfang der 70er Jahre in Moskau Geborenen im Wesentlichen von ihren Großmüttern erzogen worden sind.

Was die Frage nach der Organisation des sowjetrussischen innerfamilialen Alltags angeht, so war sie durch die ungleiche Arbeitsteilung zwischen Frau und Mann charakterisiert. Dass die Ehefrauen in viel stärkerem Maße als die Ehemänner trotz Berufstätigkeit beider Teile an der Erziehung der Kinder und an der alltäglichen häuslichen Arbeit beteiligt waren, ist ein Faktum (vgl. Herwartz-Emden 2003:210). Diese Situation wurde u. a. durch den traditionellen Glauben, dass Hausarbeit unmännlich sei, verstärkt. Nur in Teilen der „Intelligenzija-Familien“ (Familien der Intellektuellen) beteiligten sich Väter aktiv bei der Hausarbeit und Erziehung der Kinder (vgl. Goehrke 2005:345). Aber auch da hatte die Berufskarriere des Ehemanns immer Priorität, etwa wenn es um die innerfamilialen Alltagsfragen ging wie z. B.: Wer muss wegen Krankheit des Kindes zu Hause bleiben? Damit lastete die Verantwortung für Kinder und Haushalt in Sowjetrussland in erster Linie auf den Frauen.

Als eine Selbstverständlichkeit wurde in sowjetrussischen Familien eine starke Beteiligung der Kinder im Haushalt empfunden. Kinder hatten eine Reihe von Pflichten im familialen Alltagsleben wie Einkaufen, Aufräumen, Hüten von kleinen Geschwistern usw.

2.1.2 Familie im neuen Russland

Heute leben in Russland etwa 42 Millionen Familien, 33% davon haben ein Kind, 20% zwei Kinder, 4% drei und etwa 2,8% der Familien gehören zu kinderreichen Familien mit vier und mehr Kindern (vgl. Skasyrskaja 2004:2). Etwa vier von zehn Familien bleiben heute kinderlos, 1970 war es noch zwei von zehn (vgl. Goehrke 2005:341).

Zweifelsfrei haben die tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse der Gegenwart in Russland für den Familienbereich gravierende Konsequenzen[18]. Die durch die allgemeine Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens gewonnenen Freiheiten breiteten sich auch auf die zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Die Folge ist eine Pluralisierung des Familienlebens. Neben der traditionellen Familienform, in der verheiratete Eltern mit ihren leiblichen Kindern zusammenleben, gehören heute auch andere Formen wie Stieffamilien, Ein-Eltern-Familien, Familien ohne Trauschein, sogar Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern[19] zum russischen Alltag. Die traditionelle Familie aus zwei oder drei Generationen setzt sich, der aktuellen Statistik nach, jedoch immer noch eindeutig durch.

Ehen werden im heutigen Russland noch immer früh geschlossen. Und obwohl es in den letzten 10 Jahren zu einer Erhöhung des Heiratsalters bei den Russen und Russinnen kam,beträgt das Durchschnittsheiratsalter heute in Russland bei Erstheirat 23 Jahre bei Frauen und 25 Jahre bei Männern, was immer noch deutlich unter dem Niveau Westeuropas liegt[20].

Während sich in der Sowjetzeit ein Familienmodell mit der erwerbstätigen Mutter etablierte, wird heute in Russland die patriarchalisch orientierte Familie zu einem gewissen gesellschaftlichen Ideal hochstilisiert. Die geschlechtspezifische Rollenverteilung in diesen neuen sog. Ernährer-Familien ist genau wie vor 100 Jahren definiert: Die Mutter ist nicht erwerbstätig und kümmert sich ausschließlich um Kinder und Haushalt, der Vater ist der alleinige Versorger der Familie und das uneingeschränkte Familienoberhaupt. In diesem Zusammenhang sprechen einige Wissenschaftler über eine „Renaissance des Patriarchats“ (Godel 2002:262) in Russlands Familien. Nach Einschätzung der russischen Soziologen wählt heute etwa ein Drittel der Ober- und Mittelschichtfamilien Russlands ein Familienmodell mit traditionellen Geschlechterrollen als allein mögliches für sich[21]. Solche Familien sind nicht zahlreich und in der Regel gut situiert. Familienväter, die sich eine nichterwerbstätige Ehefrau (Hausfrau) leisten können, gehören entweder sehr reichen Schichten, den sog. „neuen Russen“[22], oder der neuen Mittelschicht (den erfolgreichen Selbstständigen, großen und kleinen Unternehmern) an (vgl. Lacis 2005:2). Die Erwerbstätigkeit der Frau wird von den oben genannten Männern aus Ober- und Mittelschicht als kontraproduktiv betrachtet: „Meine Frau hat es nicht nötig, Geld zu verdienen“, und eine Ehefrau, die nicht gezwungen ist zu arbeiten, wird sogar als ein Statussymbol gesehen (vgl. Gobel 2002:262).

Was aber die Durchschnittsfamilie heute in Russland betrifft, so ist sie aus existenzieller Notwendigkeit wie nie zuvor auf zwei Einkommen angewiesen. Weil ohne ihr Einkommen ein durchschnittliches Lebensniveau der Familie meistens nicht aufrecht erhalten werden kann, haben die Mütter in den russischen Familien in der Regel keine andere Wahl, als berufstätig zu sein. Im Jahre 1999 stellten Frauen etwa 47,6% der arbeitenden Bevölkerung Russlands (vgl. Gobel 2002:263). Aber nicht nur die schwierige wirtschaftliche Situation zwingt die Frauen im heutigen Russland auch nach der Geburt der Kinder berufstätig zu bleiben. In empirischen Umfragen betonen die befragten russischen Frauen in ihrer Mehrheit stets, dass sie arbeiten wollen. Sie sind an ihre Ernährerrolle und an die wirtschaftliche Unabhängigkeit gewöhnt. Etwa 40% des Familieneinkommens werden heute weiterhin von den Frauen erwirtschaftet (vgl. Godel 2002:264).

Was aber die innerfamiliale Rollenverteilung in den russischen Familien mit berufstätigen Müttern angeht, so konnte die traditionelle, geschlechtsspezifische innerfamiliale Aufgabenverteilung bis heute nicht durchbrochen werden. Die Verantwortung für die Kindererziehung und den Haushalt liegt immer noch bei den Frauen (vgl. Lacis 2005:1). Somit sind Russlands Frauen genau wie zur Sowjetzeit der dreifachen Belastung durch Beruf, Haushalt und Kindererziehung ausgesetzt. Diese Belastung ist, der wissenschaftlich belegten Einschätzungen zufolge, nach den Umbauprozessen in der russischen Gesellschaft noch härter geworden (vgl. Herwartz-Emden 2003:209; Gobel 2002:261-262). Infolge der wirtschaftlichen Umstrukturierungen sind nach der Wende die öffentlichen Kindergärten- und Kinderkrippenplätze und Ferienlager für Kinder knapp geworden. Auf die Großmütter als eine „Kinderbetreuungsressource“ kann jetzt nicht mehr, wie früher, zurückgegriffen werden, da immer mehr Rentner in Russland auch nach der Pensionierung berufstätig bleiben, um ein Abrutschen in die Armut und die Abhängigkeit von den Kindern zu vermeiden[23]. Hieraus ergibt sich eine gravierende Belastung für die meisten russischen Frauen, die dem Anspruch ausgesetzt sind, nicht nur erwerbstätig und Mutter, sondern auch Ehefrau und Hausfrau im heutigen Russland sein zu müssen.

2.2 Familie als Forschungsgegenstand in Russland

Die Familie als Gegenstand der empirischen Forschung wurde in Russland in all den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion kaum in den Blick genommen (vgl. Safarova 2002). Die meisten soziologischen Veröffentlichung im Bereich der Familienforschung in den letzten 15 Jahren beziehen sich mit wenigen Ausnahmen[24] auf die amtlichen Statistiken Russlands und beschäftigen sich in erster Linie mit der Auswirkung der kritischen demographischen Situation Russlands (Geburtenrückgang, interne Migration, steigende Sterblichkeitsrate) auf die Familie, mit der Armut in den Familien usw. Eine Ausnahme bildet die neuste Untersuchung russischer Soziologen über die Stellung der Familie im Wertesystem der Russen. Die Ergebnisse dieser im Jahre 2000 in 41 Regionen Russlands, u. a. in St. Petersburg, durchgeführten repräsentativen Untersuchung (N = 2000) zeigen, dass der Stellenwert der Familie von den Bürgern Russlands auch in Zeiten gesellschaftlicher Veränderungen sehr hoch eingeschätzt wird. 65% aller Befragten in ganz Russland bezeichneten den Lebensbereich Familie als „sehr wichtig“, für Moskau und St. Peterburg liegen diese Werte mit 72% sogar noch höher. Die Untersuchung zeigt außerdem, dass in der Hierarchie der Werte das glückliche Familienleben den höchsten Rang einnimmt (für 40% der Russen ist ein glückliches Familienleben das Wichtigste), den zweithöchsten Rang belegt der Wunsch nach Wohlstand im Land (39%) und an dritter Stelle stehen Sicherheit und Geborgenheit (38%). Für 73,3% aller Befragten kommt nur die Ehe als akzeptable Lebensgemeinschaft in Frage, 6% halten eine nichteheliche Lebensgemeinschaft für eine bessere Alternative als eine Ehe, und nur 3% der Befragten orientieren sich auf ein Single-Dasein hin. Für 73,2% der Befragten ist eine Familie mit Kindern sehr wichtig, um ein glückliches Leben zu führen (vgl. Safarova 2002:51-55).

Zusammenfassend zeigen die von Safarova (2002) vorgelegten Daten, dass die sehr hohe Wertschätzung von Familie, Ehe und Kindern im heutigen Russland, ganz im Gegensatz zu den vorherrschenden Stereotypen, die einen Bedeutungsverlust der Familie im neuen, sich schnell wandelnden Russland vermuten, weiterhin besteht.

[...]


[1] Es liegt in Deutschland so gut wie keine Forschung vor, die Migrantenfamilien in Zusammenhang mit generationenübergreifenden Prozessen der Tradierung und Erziehung zum Thema haben. So stellt eine der wenigen Studie von Nauk (1997) die Transmissionsprozesse in Deutschland wohnenden türkischen Familien dar. Und die Untersuchung von Lingau (2000) geht den tradierten Erziehungseinstellungen der Aussiedlerinnen aus Russland nach.

[2] Auch eine von außen als homogen wahrgenommene Migrantengruppe ist keineswegs homogen, z. B handelt es sich bei den Migranten aus Russland in erster Linie um Aussiedler und um Kontingentflüchtlinge, aber auch um diejenigen, die aus beruflichen Gründen, zu Studienzwecken oder im Zuge der Heirat mit einem Deutschen/einer Deutschen nach Deutschland gekommen sind.

[3] Unter der Migrationserfahrung wird hier diejenige Erfahrungsdimension verstanden, „die auf dem Wege der Migration Hinzugetretenen spezifisch ist“ (Nohl 2001:31).

[4] Der Begriff Habitus wurde von Pierre Bourdieu (1991) eingeführt und kennzeichnet spezifische Verhaltensdispositionen einer Person, die Rückschlüsse auf die Klassenzugehörigkeit und damit auf bestimmte Einstellungen und Prägungen dieser Person zulassen.

[5] zitiert nach Kraul (2003b:11)

[6] zitiert nach Bohnsack (1998b:120)

[7] Familie stellt so einen konjunktiven Erfahrungsraum, in dem ein unmittelbares Verstehen besteht, dar. Denn zur Familie gehören diejenigen, die „die Gemeinsamkeiten und Besonderheiten einer konkreten familialen Alltagspraxis miteinander teilen“ (Bohnsack 2001b:231).

[8] Die Transliteration kyrillischer Buchstaben erfolgt in dieser Arbeit nach DIN 1460 (s. Duden 2004:114).

[9] Unter Migration wird in dieser Arbeit gemäß der am weitesten verbreiteten Definition ein auf Dauer angelegter Wechsel in eine andere Gesellschaft von einzelnen oder mehreren Menschen verstanden (vgl. Morokvasic-Muller 2003:144). „So verstandene Migration setzt erwerbs-, familienbedingte, politische oder biographisch bedingte Wanderungsmotive und einen relativ dauerhaften Aufenthalt in der neuen Region oder Gesellschaft voraus; er schließt den mehr oder weniger kurzfristigen Aufenthalt zu touristischen Zwecken aus“ (Treibel 1999:21). Ein Migrant ist demzufolge ein Mensch, der an einem anderen Ort als seiner Heimat auf Dauer seinen Wohnsitz aufgenommen hat. Der Begriff Migration deckt eine Vielfalt von Migrationsmustern ab und ersetzt inzwischen die bisher üblichen Bezeichnungen Emigration (Auswanderung) und Immigration (Einwanderung) weitgehend, da die Unterscheidung in ein- und auswandern häufig keine zutreffende Beschreibung mehr liefert (vgl. Treibel 1999:18-21).

[10] Nach Untersuchungen von Herwartz-Emden (2003) durchlaufen Migranten vier Entwicklungsphasen, um eine neue „Mischkultur“, die Anteile beider Kulturen verarbeitet, zu entwickeln. Die erste Phase ist die Phase der interkulturellen Orientierungslosigkeit und des Identitätsverlustes; die zweite Phase ist durch tiefes Gespaltensein entweder mit Integrationsverweigerung oder mit Überanpassung an die Aufnahmekultur gekennzeichnet; die dritte Phase ist die Phase des Verlustes und der Trauerarbeit mit der reflektierten Krise der Entfremdung in der neuen Interpretation von Selbst und Umwelt. Erst in der darauffolgenden vierten Phase entsteht das Gefühl der lebensgeschichtlichen Selbstverständlichkeit der bikulturellen Zugehörigkeit (vgl. Herwartz-Emden 2003:20).

[11] Unter Generation wird im Rahmen dieser Arbeit im Sinne von K. Mannheim eine „soziale Lagerung“ (Mannheim 1964:524) verstanden, d.h. eine etwa in der gleichen Zeit geborene Kohorte, die durch chronologische Gleichzeitigkeit der Geburt gemeinsam von bestimmten historischen Ereignissen geprägt ist. Nach Mannheim lässt sich die Generationenlagerung im Gegensatz zur „konkreten Gruppenbildung“ (1964:524) wie Familie, Sippe usw. nicht durch Interaktion, Nähe und Bekanntschaft charakterisieren. Das Besondere der Individuen in diesem Gefüge ist, dass sie von der Zeitgeschichte, in der sie leben, ähnlich beeinflusst sind und gleiche, spezifische Erfahrungen haben. Da die in dieser Arbeit untersuchten Eltern ungefähr im gleichen Zeitraum geboren sind, zwischen 1960 und 1967, sind die Erfahrungen und das Erleben von Gorbatschows Perestrojka-Zeit für sie gemeinsam. So kann man im Rückgriff auf Mannheim als „Perestrojka-Generation“ (Slepzov 1993:5) diejenigen bezeichnen, die zu Beginn der Perestrojka im Jahre 1985 mindestens 17 und höchstens 25 Jahre alt waren (also die Jahrgänge 1960-1968) und die die Perestrojka bewusst erlebt haben. „Durch die Zugehörigkeit zu einer Generation, zu ein und demselben ‚Geburtenjahrgange’, ist man im historischen Strome des gesellschaftlichen Geschehens verwandt gelagert“ (Mannheim 1964:527). Demzufolge bedeutet Generation für Mannheim eine „Verwandtschaft“, nicht aber die biologische, sondern biographische und sozialisationsgeschichtliche. Zusammenfassend sagt er: „Dieselbe Jugend, die an derselben historisch-aktuellen Problematik orientiert ist, lebt in einem ‚Generationszusammenhang’, diejenigen Gruppen, die innerhalb desselben Generationszusammenhanges in jeweils verschiedener Weise diese Erlebnisse verarbeiten, bilden jeweils verschiedene Generationseinheiten im Rahmen desselben Generationszusammenhanges“ (Mannheim 1964:544).

[12] zitiert nach Herbert Gudjons (1993:76)

[13] In erster Linie auf dem Feld der Musik, der Kunst, beim Konsum kultureller Güter sowie in der Freizeit- und Urlaubsgestaltung (vgl. Brake 2003:630).

[14] Unter Selbstbestimmungsfähigkeit verstehen die Autoren „die Fähigkeit eines jeden Einzelnen, seine individuellen Lebensbeziehungen und Sinndeutungen sozialer, beruflicher und ethischer Art zu gestalten“ (Brake 2003:634).

[15] Transmission meint einen bildungsbezogenen Austausch- und Aushandlungsprozess, in dem Bildungs- und Kulturtransfer nicht nur von der älteren Generationen auf die jüngere erfolgt, sondern auch im umgekehrter Richtung verlaufen kann (vgl. Brake 2003:622).

[16] 1970 lag das durchschnittliche Heiratsalter in der BRD bei Erstheirat bei Männern bei 25,6 Jahren und bei 23 Jahren bei den Frauen, also nur etwa um zwei Jahre über dem Durchschnittsheiratsalter in der Sowjetunion zu gleicher Zeit (vgl. Schäfers 2002: 143-145).

[17] Obwohl es in der sowjetischen Statistik keine offiziellen Zahlen zur Wohnsituation der Bürger bis 1989 gab, kann man davon ausgehen, dass für eine Mehrheit der jungen Paare nichts anderes übrig blieb, als zusammen mit den Eltern und oft mit den Großeltern der Frau oder des Manns zu wohnen (vgl. Bertaux /Malysheva 2004:199).

[18] Wenn man die Titel der gesellschafts- bzw. sozialwissenschaftlichen Studien aus dem russischen Raum betrachtet, springen immer wieder ähnliche Schlagworte ins Auge: Es ist oftmals von „Umbruch“, „Transformation“, „Umgestaltung“, „Wandel“ und „Wende“ die Rede. Das sind mit Recht Wörter, die die Prozesse in der postsowjetischen Gesellschaft Russlands am besten repräsentieren. Die 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts sind also in der russischen Föderation eine Zeit fundamentaler Veränderungen gewesen. Sie haben mit Forderungen nach mehr Pluralismus und Offenheit (Glasnost’) angefangen und endeten mit einem raschen Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft. Gleichzeitig fand auf politischer Ebene eine Transformation einer auf kommunistischer Ideologie aufgebauten Regierungsform zur Demokratie statt. Der gesellschaftliche Umgestaltungsprozess beeinflusste natürlich alle sozialen Gruppen, und es wird kaum eine Person in Russland geben, die die große Dynamik der gesellschaftlichen Veränderungen nach 1985 entgehen konnte. Natürlich waren (und sind immer noch) auch die Familien mit in den gesellschaftlichen Transformationsprozess miteinbezogen. Der Umbau des gesellschaftlichen Grundgerüsts bedeutete für die Familien einen rapiden Verlust der traditionellen Gegebenheiten, der stabilen sozialen Netzwerke, der feststehenden individuellen Biographien, d.h. einen Verlust aller vorgegebenen durchregulierenden Mechanismen, die für Gestaltung und Planung des Lebens bestimmend waren. Das entstehende neue System musste schnell von den Familienmitgliedern selbst und jetzt ohne Hilfe der staatlich vorgegebenen Orientierungen bewältigt werden. Dies eröffnete den Bürgern im neuen Russland nicht nur Möglichkeiten und Chancen, sondern zwang sie vielmehr in großem Maß zur eigenständigen Lebensgestaltung. Wer in der Nach-Perestroika-Zeit in Russland Lebensbewältigungsversuche unternimmt, ist somit im Grunde genommen alleine gelassen, praktisch auf sich selbst angewiesen und handelt gemäß individueller Zukunftsinterpretationen und -erwartungen.

[19] Die vor wenigen Jahren massiv verpönten und rechtlich verfolgten gleichgeschlechtlichen Beziehungen sind heute in Russland weitgehend akzeptiert. Die sog. „sexuellen Minderheiten“ kämpfen offen für ihre Rechte und gesellschaftliche Akzeptanz.

[20] http://www.russland-aktuell.ru (13.05.2005)

[21] Nach den Angaben der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde machten 2003 die Mittelschichten etwa 20% der Gesamtbevölkerung Russlands aus. Zur russischen Oberschicht gehörte in dieser Zeit weniger als 1% der Bevölkerung an (vgl. Schröder 2004:3).

[22] In der russischen Öffentlichkeit werden als „neue Russen“ diejenigen bezeichnet, die das durch Reformen der früheren 90er Jahre ausgelöste Wirtschaftschaos dazu genutzt haben, um „schnelles Geld“ zu machen.

[23] Der aktuellen Schätzungen des Goskomstats (Staatliche Kommission für Statistik) nach sind etwa 61% der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, Rentner, verfügbar über: http://www.weltpolitik.net/-Rigionen/Russland (07.05.2005).

[24] Nur wenige Untersuchungen haben das Thema „Russische Familie in den neuen Zeiten“ aufgegriffen. Hervorzuheben sind erstens eine im Jahre 1991 von Olga Zdravomyslova geleitete und von der Arbeitsgruppe für Bevölkerungsfragen der Vereinten Nationen finanzierte Untersuchung „Familie: Ost-West“ zur Erstellung der standardisierten Befragung des „Family Survey“ Russlands (vgl. Lacis 2005; Zdravomyslova 1994) und zweitens die 1994 von Daniel Bertaux und Marina Malysheva durchgeführte sozialgeschichtlich-familienbiografische Erhebung in den Arbeiterfamilien Moskaus (Bertaux/Malysheva 2004).

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Tradierung in der Erziehung - Fotoanalysen, Tischgespräche und Interviews mit Familien aus St. Petersburg
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Pädagogisches Seminar)
Note
sehr gut (1,0)
Autor
Jahr
2006
Seiten
86
Katalognummer
V72666
ISBN (eBook)
9783638627948
Dateigröße
789 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tradierung, Erziehung, Fotoanalysen, Tischgespräche, Interviews, Familien, Petersburg
Arbeit zitieren
Anna Bolshukhina (Autor:in), 2006, Tradierung in der Erziehung - Fotoanalysen, Tischgespräche und Interviews mit Familien aus St. Petersburg, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72666

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