Zu Zeiten der Romantik stießen nicht nur die Brüder Grimm mit ihrer Märchensammlung „Kinder- und Hausmärchen“ auf reges Interesse seitens der zumeist gebildeten Leserschaft. Fast parallel zu der – wohlgemerkt nicht einzigartigen – Märchensammlung entwickelte sich ein anderes, nah verwandtes literarisches Phänomen, das Kunstmärchen:
„In derselben Zeit wurde das erzählende Mährchen vom blonden Eckbert gedichtet, welches der Anfang einer Reihe von Erfindungen und Nachahmungen war, die alle mehr oder minder die Farbe und den Ton des Eckberts hatten.“
Mit dieser „Reihe von Erfindungen und Nachahmungen“ sind die romantischen Kunstmärchen gemeint, denen sich ab dem Zeitpunkt, da Tieck den „blonden Eckbert“ geschrieben hatte, 1796, ein Gros der Romantiker verschrieben.
Die Faszination, die das Dichten eines Kunstmärchens gerade auf die Romantiker ausübte, aufzuzeigen, wird Teil dieser Arbeit sein. Die erzählerischen und formalen Möglichkeiten, die es in sich birgt, sind nahezu unbegrenzt und entsprechen dem romantischen Programm wie kaum ein zweites Genre, was auch aus den oben zitierten Worten Novalis' herauszulesen ist, die ich versuchen werde, zu verifizieren.
Was das Kunstmärchen auszeichnet, welchen Stellenwert es im Kanon romantischer Literatur einnimmt, dass und wie es die Progressive Universalpoesie nach Friedrich Schlegel widerspiegelt, dies alles sind Themen, die im Laufe der Arbeit geklärt werden.
Am Ende erfolgt eine Textanalyse des Kunstmärchens „Der blonde Eckbert“ von Ludwig Tieck, in der die zuvor theoretisch getroffenen Feststellungen exemplarisch am Text belegt werden.
Gliederung
1. Einleitung
2. Die Progressive Universalpoesie als Schlüsselbegriff der romantischen Literaturtheorie
2.1 Transzendentalpoesie
2.2 Das Fragment und die Verschmelzung der Gattungen
3. Das romantische Kunstmärchen
3.1 Abgrenzung zum Volksmärchen
3.2 Wesenszüge des romantischen Kunstmärchens
4. „Der blonde Eckbert“ als Inbegriff des Kunstmärchens und der Progressiven Universalpoesie
4.1 Die Binnenerzählung: Wanderung zwischen den Welten
4.2 Fragmentarische Einschübe
5. Schluss
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
„Das Märchen ist der höchste Kanon der Poesie.“
(Novalis)
1. Einleitung
Zu Zeiten der Romantik stießen nicht nur die Brüder Grimm mit ihrer Märchensammlung „Kinder- und Hausmärchen“ auf reges Interesse seitens der zumeist gebildeten Leserschaft. Fast parallel zu der – wohlgemerkt nicht einzigartigen – Märchensammlung entwickelte sich ein anderes, nah verwandtes literarisches Phänomen, das Kunstmärchen:
„In derselben Zeit wurde das erzählende Mährchen vom blonden Eckbert gedichtet, welches der Anfang einer Reihe von Erfindungen und Nachahmungen war, die alle mehr oder minder die Farbe und den Ton des Eckberts hatten.“[1]
Mit dieser „Reihe von Erfindungen und Nachahmungen“ sind die romantischen Kunstmärchen gemeint, denen sich ab dem Zeitpunkt, da Tieck den „blonden Eckbert“ geschrieben hatte, 1796, ein Gros der Romantiker verschrieben.
Die Faszination, die das Dichten eines Kunstmärchens gerade auf die Romantiker ausübte, aufzuzeigen, wird Teil dieser Arbeit sein. Die erzählerischen und formalen Möglichkeiten, die es in sich birgt, sind nahezu unbegrenzt und entsprechen dem romantischen Programm wie kaum ein zweites Genre, was auch aus den oben zitierten Worten Novalis' herauszulesen ist, die ich versuchen werde, zu verifizieren.
Was das Kunstmärchen auszeichnet, welchen Stellenwert es im Kanon romantischer Literatur einnimmt, dass und wie es die Progressive Universalpoesie nach Friedrich Schlegel widerspiegelt, dies alles sind Themen, die im Laufe der Arbeit geklärt werden.
Am Ende erfolgt eine Textanalyse des Kunstmärchens „Der blonde Eckbert“ von Ludwig Tieck, in der die zuvor theoretisch getroffenen Feststellungen exemplarisch am Text belegt werden.
2. Die Progressive Universalpoesie als Schlüsselbegriff der romantischen Literaturtheorie
Die Progressive Universalpoesie geht hauptsächlich auf theoretische Schriften Friedrich Schlegels zurück, die dieser im gemeinsam mit seinem Bruder August Wilhelm selbst begründeten Publikationsorgan Athenäum veröffentlichte. Das Athenäum erschien von 1798 bis 1800 mit je zwei Jahresausgaben und sollte den Brüdern Schlegel und anderen Künstlern der frühen Romantik ein Sprachrohr sein, um ihre Ideale, ihr Literatur- und Weltverständnis und vor allem Kritik ausdrücken zu können.[2]
Seine literaturtheoretischen Anmerkungen im Athenäum verfasste Schlegel[3] ausschließlich in Fragmenten. Dies allein, die fragmentarische Gestaltung, setzt bereits Teile seiner Forderungen an eine absolute Poesie um, die die romantische sein soll. „Progressiv“ ist hier im Sinne von „unabgeschlossen“ oder eben „fragmentarisch“ zu verstehen. Weitere Erläuterungen hierzu sind im Punkt 2.2 zu finden.
Um die Idee der Progressiven Universalpoesie in ihren Grundzügen erfassen zu können, muss man zunächst etwas weiter ausholen, auch andere Termini zu Rate ziehen.
2.1 Transzendentalpoesie
Schlegel führt den Neologismus Transzendentalpoesie im 238. Fragment ein, um zu verdeutlichen, dass die romantische Literatur, wie er sie beschreibt, dazu in der Lage ist, das Ideale mit dem Realen zu verknüpfen. Diese Vorstellung Schlegels basiert auf philosophischen Grundsätzen Immanuel Kants, wo es heißt, dass Philosophie nie eine materiale Aussage treffen kann, „ohne ihre formalen Voraussetzungen überprüft und mitbedacht zu haben“.[4] Im Klartext muss Philosophie also immer selbstreflexiv arbeiten, um in ihren Ergebnissen korrekt und überzeugend dargestellt werden zu können. Johann Gottlieb Fichte sagt in anderem Zusammenhang, dass „Transzendentalphilosophie nur zugleich Philosophie und Philosophie der Philosophie“[5] sein kann. Analog dazu stellt Schlegel die „Gleichung“ auf, dass Transzendentalpoesie „zugleich Poesie und Poesie der Poesie“[6] sei. Er fordert von der romantischen Poesie also, zugleich künstlerische Komposition und theoretische Selbstreflexion, in seinen Worten „schöne[...] Selbstbespiegelung“[7] zu sein. Ins Praktische übertragen heißt das also, dass ein romantischer Text gleich welcher Gattung, wobei Gattungen ohnehin eine untergeordnete Rolle spielen, wie später ausgeführt werden wird, nicht nur rein erzählend oder rein lyrisch sein kann. Die Forderung nach „Poesie der Poesie“ beinhaltet, dass neben der rein literarischen Gestalt auf einer textuellen Metaebene ein ständiger Bezug zum romantischen Programm, eine „Reflexion über die Bedingungen der Möglichkeit von literarischer Kunst“,[8] stattzufinden hat. Dieser ist freilich theoretischer, auch philosophischer Art. Das Besondere dabei ist nun, dass diese beiden Stränge nicht unkontrolliert nebenher laufen, sondern sich in poetischer Form im Text vereinen, gar verschmelzen sollen. Dabei liegt die „Kraft“[9] des Textes in seinem Sein an sich, nicht im Darstellen von Inhalten. Der Text existiert „[...] in einer Form, die, da sie alle Formen einschließt, [...] das Ganze nicht verwirklicht, es aber bezeichnet, indem sie es außer Kraft setzt oder sogar sprengt.“[10] Unter Miteinbeziehung der noch folgenden Paradigmen entsteht somit am Ende ein literarisches Gesamtkunstwerk.
2.2 Das Fragment und die Verschmelzung der Gattungen
Als gewichtiges Kriterium innerhalb der progressiven Universalpoesie stellt Schlegel das Fragmenthafte des romantischen Kunstwerks heraus. Es darf nicht abgeschlossen im formalen Sinn stehen, sondern eine Aneinanderreihung, ein Schmelztiegel von Fragmenten sein. Wobei das Fragment an sich zwar autonom, also unabhängig nach außen hin, jedoch nach innen unendlich kunstvoll sein soll.[11]
„Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerk von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.“[12]
Das aus vielen einzelnen Fragmenten zusammengefügte Kunstwerk soll ebenso unabgeschlossen, also ebenso nur als großes Fragment vorhanden sein. Eine formal abgeschlossene Form widerstrebt der Vorstellung des romantischen Freigeistes, denn gerade diese extrem freie Form soll befreiend für den Künstler sein, ihn all sein Potential ausschöpfen lassen. Dies ist nicht so zu verstehen, dass der romantische Schriftsteller Gattungsexperimente innerhalb eines Werkes durchführt, bis er die Lust daran verliert, das Werk als fragmentarisch im Sinne des Schlegel’schen Ideals hinstellt und aufgibt. Nein, die geforderte Offenheit kann ebenso in einem abgeschlossenen Werk ihren Platz finden. Doch gerade ein - bewusst - unvollendetes Werk propagiert den Geist der Romantik, denn „[...] das Fragment ist weniger Fragment als nicht Vollendetes denn Fragment als nicht zu Ende Geführtes. Offenheit anstelle von Abschluß.“[13]
3. Das romantische Kunstmärchen
Unternimmt man den Versuch, eine allgemeingültige Definition für die Erzählgattung „Kunstmärchen“ aufzustellen, stellt man relativ schnell fest, dass eine solche nirgends zu finden ist. Trotz der Vielzahl an Kunstmärchenstudien wurde die Gattung noch nie vollends definiert.[14] „Kunstmärchen ist ein Begriff von zweifelhaftem definitorischem Wert.“[15] Um sich der Materie schrittweise anzunähren, ist zunächst ein Vergleich mit einem nah verwandten Genre, dem Volksmärchen sinnvoll.
[...]
[1] Fischbacher, Andrea: Freundschaft und Einsamkeit. Erzähltheoretische Überlegungen zu Ludwig Tiecks Der blonde Eckbert. In: Ferdinand von Ingen u. Christian Juranek (Hg.): Ars Et Amicitia. Beiträge zum Thema Freundschaft in Geschichte, Kunst und Literatur. Festschrift für Martin Bircher zum 60. Geburtstag am 3. Juni 1998 . S. 609-622. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1998 (= Chloe. Beiträge zum Daphins. Bd. 28), S. 610.
[2] Vgl. Pikulik, Lothar: Frühromantik. Epoche – Werk – Wirkung. 2. Auflage. München: C.H. Beck 2000. S. 70f
[3] Ist hier und in der Folge von „Schlegel“ die Rede, ist damit Friedrich Schlegel gemeint.
[4] Pikulik 2000, S. 8
[5] Ebd., S. 9
[6] Kremer, Detlef: Romantik. 2. Auflage. Stuttgart, Weimar: Verlag J. B. Metzler 1993, S. 90
[7] Ebd., S. 91
[8] Kremer 1997, S. 9
[9] Vgl. Blanchot, Maurice: Das Athenäum. In: Volker Bohn (Hg.): Romantik. Literatur und Philosophie. S. 107-121. Frankfurt a.M.:Suhrkamp 1987, S. 110.
[10] Ebd.
[11] Vgl. Kremer, Detlef: Prosa der Romantik. Stuttgart, Weimar: Verlag J. B. Metzler 1997 (= Sammlung Metzler Bd. 298), S. 18
[12] Ebd.
[13] Gockel, Heinz: Friedrich Schlegels Theorie des Fragments. In: Ribbat, Ernst (Hg.): Romantik. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. S. 22-37. Königstein: Athenäum Verlag 1979, S. 23.
[14] Vgl. Grätz, Manfred: Kunstmärchen. In: Rolf Wilhelm Brädnich (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 8. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1996, S. 615.
[15] Ebd., S. 612.
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