Über Franz Kafkas "Das Urteil" und das Recht des Vaters


Essay, 2007

13 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Ein Körnchen Wahrheit in jedem Satz

Inhaltliche Struktur von „Das Urteil“ und Eingliederung der Textstelle
Erster Abschnitt: Georg und der Jugendfreund
Zweiter Abschnitt: Georg und der senile Vater
Dritter Abschnitt: Der Ausbruch des Vaters und das Urteil

Detaillierte Analyse des Wendepunkts: der Ausbruch des Vaters
Die subtil verklemmte Art von Georgs Darstellungen
Die Diskrepanz zwischen Schein und Sein im Vater
Der Freund als passiver Vater

Die glaubhaft unglaubliche Welt der Sprache

Franz Kafkas „Das Urteil“ und das Recht des Vaters

Ein Körnchen Wahrheit in jedem Satz

„Das Urteil“[1] ist ein Text, auf den man hereinfallen muss. Georg Bendemann nimmt einen völlig gefangen. Und es ist nur Kafkas erzählerischer Virtuosität zu verdanken, dass man erst beim erneuten und erneuten und erneuten Lesen merkt, wie sehr doch der große Wendepunkt, die Wahrheit dahinter, im ganzen Text vorbereitet und angelegt wird. Hinter der einfach zu glaubhaften Nüchternheit, mit der sowohl eine unbekannte, allwissende Instanz, als auch der einfache Kaufmann selbst zu erzählen scheint, liegt des Urteils Lösung versteckt. In jedem Satz verbirgt sich ein Körnchen der Wahrheit, die man nicht sieht, nicht sehen will, bis man sie nicht mehr übersehen kann, weil der Vater sie in seinem großen Wutanfall herausschreit. In dem folgenden Aufsatz soll eben dieser große Wutanfall aus Franz Kafkas „Das Urteil“ genauer betrachtet und analysiert werden. Zum besseren Verständnis wird die Passage erst inhaltlich in den Gesamttext eingegliedert. Darauffolgend werde ich die Textstelle Satz für Satz chronologisch durchgehen und eine wortgetreue Analyse im Kontext versuchen, welche die Rolle des Freundes in den Mittelpunkt meiner Interpretation rücken lässt.

Inhaltliche Struktur von „Das Urteil“ und Eingliederung der Textstelle

Franz Kafkas „Das Urteil“ handelt von Georg Bendemann, einem jungen Kaufmann. Ich sehe den Text inhaltlich in drei Abschnitte gegliedert:

Im ersten geht es um Georg und einen seit drei Jahren im Ausland lebenden Jugendfreund. Georg, der bald heiraten wird, hat soeben einen Brief an ihn verfasst. Durch die Gedanken Georgs erfährt der Leser, dass er seinem Freund nicht von der Hochzeit hatte berichten wollen. Georg begründet dies mit der Charakterisierung des Freundes: ausgewandert, bzw. „geflüchtet“ (S. 51), Junggeselle, beruflich nicht erfolgreich und kränklich. Er bezeichnet dessen „bisherigen Versuche [als] mißlungen“ (S.52). Dem Freund, denkt Georg, konnte oder wollte er sein eigenes Glück, das nicht nur die zukünftige Ehe, sondern auch beruflichen Erfolg bedeutete, nicht zumuten. Überraschend ändert Georg schlussendlich, im Zusammensein mit seiner Verlobten, allerdings seine Meinung: „so bin ich und so hat er mich hinzunehmen“ (S. 54) und erzählt im Brief an den Freund von seiner Braut.

Den Brief in der Tasche geht Georg zu seinem Vater, womit der zweite Abschnitt eingeleitet wird. Er habe dem Freund geschrieben, erzählt er. Der Vater allerdings behauptet, sich nicht an den Freund zu erinnern, bzw. fordert Georg auf, die Wahrheit zu sagen oder aber ihn mit dieser „Kleinigkeit“, die „nicht des Atems wert“(S. 57) sei, zu verschonen. Georgs Versuch die Erinnerung des Vaters an seinen Freund wiederaufzufrischen, wird im Folgenden verwoben mit Georgs Wahrnehmung des Vaters als senil, gebrechlich und verwahrlost. Georg entkleidet den Vater, trägt ihn an seiner Brust ins Bett und deckt ihn zu.

Doch im dritten Abschnitt, welchen die im Detail zu analysierende Textstelle einleitet, schlägt die Richtung der Erzählung gänzlich um. Georgs Vater wirft mit gehöriger Kraft plötzlich die Decke von sich, schnellt hoch und springt auf seinem Bett. Er ruft, er habe seinen Sohn durchschaut, der sich täusche, wenn er denke den Vater unterkriegen zu können. Er verhöhnt Georgs verlobte als Flittchen, sowie Georg als lüsternen Freier. Überraschend weiß Georg dem Vater nicht standzuhalten, kann ihm, dem Alten, weder körperlich noch verbal entgegentreten. Abrupt beendet der Vater seine „Aufführung“, indem er Georg „zum Tode des Ertrinkens“ (S. 63) verurteilt. „Das Urteil“ endet, als Georg darauffolgend nach draußen stürzt und von einer Brücke springt.

Detaillierte Analyse des Wendepunkts: der Ausbruchs des Vaters

‘Bin ich jetzt gut zugedeckt?’ fragte der Vater noch einmal und schien auf die Antwort besonders aufzupassen.

‘Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt.’

Diese kurze Szene der beiden Charaktere bildet den Anfang der Textstelle (S. 60, Z. 7-35, hier Z. 7-10), die hier Satz für Satz analysiert werden soll. Die beiden einleitenden Dialogsätze spiegeln wieder, wie Vater und Sohn in den ersten beiden Inhaltsabschnitten aus Georgs Perspektive dargestellt werden. Georgs Vater taucht zum ersten Mal im Text auf, als Georg, vom Niedergang seines Freundes ausgehend, über seinen eigenen beruflichen Erfolg nachdenkt (S. 53):

Vielleicht hatte ihn der Vater bei Lebzeiten der Mutter dadurch, daß er im Geschäft nur seine Ansicht gelten lassen wollte, an einer wirklichen eigenen Tätigkeit gehindert, vielleicht war der Vater seit dem Tode der Mutter, trotzdem er noch immer im Geschäft arbeitete, zurückhaltender geworden, vielleicht spielten – was sogar sehr wahrscheinlich war – glückliche Zufälle eine weit wichtigere Rolle, jedenfalls aber hatte sich das Geschäft in diesen zwei Jahren ganz unerwartet entwickelt, das Personal hatte man verdoppeln müssen, der Umsatz hatte sich verfünffacht, ein weiterer Fortschritt stand zweifellos bevor.

Vor dem Ableben der Mutter scheint der Vater die absolute Macht und Entscheidungsgewalt für sich beansprucht zu haben; Georg hingegen kam keinerlei Einfluss oder Verantwortung zu. Doch der Vater ist „zurückhaltend“ geworden, hatte seine Autorität eingebüßt, durch die er „im Geschäft nur seine Ansicht gelten lassen wollte“. Er ist zum pflegebedürftigen Kind geworden: „Bin ich jetzt gut zugedeckt?“. Seit Georgs Übernahme blüht das Geschäft. Durch die andauernde Infragestellung seiner eigenen Darstellung durch „vielleicht“, bewirkt der Erzähler die Gunst des Lesers: bescheiden erscheint Georg, da er den Erfolg nicht als seinen Verdienst darstellt, sensibel („sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt“), da er das Bild des Vaters nicht beschädigt und diesen nicht beschuldigt, ihn unterdrückt zu haben – der Leser glaubt Georgs Darstellungen, gerade weil dieser sie selbst in Zweifel zieht. Für den Fortschritt im Geschäft sieht Georg zwei Möglichkeiten: der eigene Unternehmergeist oder die „glückliche[n] Zufälle“. Davon abgesehen, dass unternehmerischer Erfolg durch Zufall höchst unwahrscheinlich ist, ergänzen sich hier Georgs Aussagen wie in der Mathematik minus mal minus. Durch den mit Gedankenstrichen aus dem Text deutlich hervorgehobenen Einschub, „was sogar sehr wahrscheinlich war“ (minus), hebt er die „weit wichtigere Rolle“ (minus) des Zufalls so stark hervor, dass diese Beteuerungen sich gerade entgegenwirken: der Fortschritt ist Georgs eigener und alleiniger Verdienst (plus). Georg stellt sich auf subtil verklemmte Weise selbst dar. Hinterrücks erreicht er damit, gleichzeitig erfolgreich und fürsorglich zu wirken. Diese verkappte Art mit der Georg sein Ziel verfolgt (und in diesem Fall erreicht), scheint mir der Schlüssel für die Interpretation von „Das Urteil“ schlechthin zu sein. Nur geht Georgs Rechnung nicht auf; der Vater fragt ein zweites Mal „und schien auf die Antwort besonders aufzupassen“, Seite 60, Zeile 11-14:

‘Nein!’ rief der Vater, daß die Antwort an die Frage stieß, warf die Decke zurück mit einer Kraft, daß sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett.

Bis zu dieser Textstelle scheint ein solches Verhalten des Vaters physisch wie psychisch unmöglich. Denn der Vater ist nicht nur „zurückhaltend“ geworden im Geschäft. Der zweite Inhaltsabschnitt bekräftigt, was Georg bereits durch wenige Worte im Ersten angedeutet hat. Der Vater wirkt senil, da er sich nicht an Georgs Jugendfreund erinnert, mit dem er sich unterhalten und dessen Anekdoten er sogar selbst zum besten gegeben hatte (S. 59). Und Georgs Vater erläutert selbst (S. 57):

Im Geschäft entgeht mir manches (...), ich bin nicht mehr kräftig genug, mein Gedächtnis läßt nach, ich habe nicht mehr den Blick für alle die vielen Sachen. Das ist erstens der Ablauf der Natur, und zweitens hat mich der Tod unseres Mütterchens viel mehr niedergeschlagen als dich.

Der letzte Satz ist ein direkter Vorwurf an Georg, er habe seine Mutter nicht genügend geliebt, und impliziert: nur deshalb kannst du, Sohn, deinem Vater überhaupt das Wasser reichen. Mit autoritärer Bestimmtheit streitet der Vater die Existenz eines Jugendfreundes seines Sohnes ab (S. 58) und stellt damit dessen volles Bewusstsein in Frage. Der Vater erscheint als alternder Tyrann, der den Verdruss über seinen Machtverlust an seinem Sohn auslässt, welcher, so vermutet der Leser, bereits sein ganzes Leben unter diesem Vater gelitten haben muss. Zweidrittel der Erzählung zeigen eine Vater-Sohn-Beziehung, die von väterlicher Macht und Ansprüchen dem Sohn gegenüber dominiert ist, doch findet die Unterdrückung vorerst einen Ausgleich (S. 59):

Währenddessen war es Georg gelungen, den Vater wieder niederzusetzen und ihm die Trikothose, die er über den Leinenunterhosen trug, sowie die Socken vorsichtig auszuziehn. Beim Anblick der nicht besonders reinen Wäsche machte er sich Vorwürfe den Vater vernachlässigt zu haben. (...)

Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett.

Dass der Vater sich nun gegen das Bemühen des Sohnes wehrt, „‘Nein!’“ schreit, die Decke zurückschleudert und seine körperliche Kraft beweist, ist zwar für seine Verfassung überraschend, kann jedoch vorerst wie ein kindlich trotziges Verhalten erscheinen, nicht mit der Aufgabe seiner Privilegien und Einflüsse einverstanden zu sein; nicht einverstanden damit, die Rollen zu tauschen und zum Kind zu werden, das ins Bett getragen werden muss. Die Antwort stößt an die Frage, da die Frage keine Frage ist, sondern ein Vorwurf (S. 60, Z. 14-17):

[...]


[1] Hier verwendete Ausgabe: Kafka, Franz: Das Urteil. In: Kafka, Franz: Erzählungen. Philipp Reclam jun., Stuttgart, 1995. S. 50-64.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Über Franz Kafkas "Das Urteil" und das Recht des Vaters
Hochschule
Universität Leipzig  (Germanistik)
Veranstaltung
Kafkas Welt
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
13
Katalognummer
V73270
ISBN (eBook)
9783638741828
Dateigröße
387 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In diesem Aufsatz wird der Wutanfall aus Franz Kafkas 'Das Urteil' genauer betrachtet und analysiert werden. Zum besseren Verständnis wird die Passage erst inhaltlich in den Gesamttext eingegliedert. Darauffolgend gehe ich die Textstelle Satz für Satz chronologisch durch und versuche eine wortgetreue Analyse im Kontext, welche die Rolle des Freundes in den Mittelpunkt meiner Interpretation rückt.
Schlagworte
Franz, Kafkas, Urteil, Recht, Vaters, Kafkas, Welt
Arbeit zitieren
Carolina Franzen (Autor:in), 2007, Über Franz Kafkas "Das Urteil" und das Recht des Vaters, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/73270

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