„Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und ist sie durch das Naturgesetz gerechtfertigt?“ Diese 1753 gestellte Preisfrage der Akademie von Dijon versuchte Jean-Jacques Rousseau in seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen zu beantworten und vertiefte damit seine Fortschritts- sowie Zivilisationskritik aus der Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, die er nun geschichtsphilosophisch zu begründen versucht. Mit dieser zweiten geschichtsphilosophisch bedeutenden Schrift erregte Rousseau ebenso durch seine gewagten sozialkritischen Thesen, die auch gegenwärtig noch aktuell und nicht minder brisant sind, die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen, da er nicht nur die Gesellschaft, sondern die Vergesellschaftung des Menschen überhaupt in Frage stellt. Indem er den universellen Forschrittsglauben der Aufklärung negiert und ihn in eine Verfallsgeschichte umdeutet, steht er im harten Gegensatz zum Denken seiner Zeit, was die Beschäftigung mit seiner Philosophie umso interessanter gestaltet.
Rousseau zeichnet also in seinem zweiten Discours den Lebenslauf der menschlichen Gattung nach und fällt ein radikales Urteil: Der Mensch ist durch die Zivilisation verfälscht, jede neue Kenntnis entfernt ihn von seiner ursprünglichen Einfachheit und lässt ihn in Konkurrenz zu seinen Mitmenschen treten. Er führt so der bürgerlichen Gesellschaft über den historischen Diskurs ihre eigene Falschheit vor. Die ideale Gemeinschaft, die nur über einen gerechten Vertrag geschaffen werden kann, lebt in mäßigen wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Verhältnissen. Anhand dieser These lässt sich auch gegenwärtig noch streiten, ob Rousseau „ein zukunftsweisender Revolutionär oder ein zivilisationsfeindlicher Reaktionär gewesen ist“.
Sein geschichtsphilosophischer Skeptizismus soll nach einer Überblicksdarstellung im letzten Teil dieser Arbeit explizit betrachtet werden. So sei die Vernunft, trotz ihrer möglichen guten Intentionen hinsichtlich des Fortschritts, für dessen Negativfolgen verantwortlich. Fataler erscheint hier jedoch, dass diese sozial verheerenden Begleiterscheinungen in keiner Weise behebbar wären. Diese und weitere Thesen sollen abschließend diskutiert und kritisch geprüft werden.
Inhaltsverzeichnis
- Teil I: Überblicksdarstellung des zweiten Discours
- 1 Einleitung
- 2 Vorbetrachtungen zum zweiten Discours: Studium des Menschen
- 3 Erster Teil der Abhandlung: Der Mensch im Naturzustand
- 4 Zweiter Teil der Abhandlung: Ursprung und Ausbreitung der Ungleichheit in den weiteren Entwicklungsstadien der menschlichen Gattung
- Teil II: Geschichtsphilosophische Analyse des zweiten Discours
- 1 Merkmale der materialen und formalen Geschichtsphilosophie
- 1. a Aspekte der materialen Geschichtsphilosophie
- 1. b Aspekte der formalen Geschichtsphilosophie
- 2 Merkmale der klassischen Geschichtsphilosophie
- 3 Einflüsse zeitgleicher wissenschaftstheoretischer Entwicklungen
- 4 Merkmale für eine veränderte Erfahrungswirklichkeit
- 5 Diskussion der Leistungen Rousseaus und kritische Prüfung
- 1 Merkmale der materialen und formalen Geschichtsphilosophie
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit Jean-Jacques Rousseaus skeptischer Geschichtsphilosophie, die im zweiten Discours, der 1753 als Antwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon verfasst wurde, ihren Ausdruck findet. Rousseau greift in dieser Schrift die Fortschritts- und Zivilisationskritik aus seiner Abhandlung über die Wissenschaften und Künste auf und untermauert sie mit geschichtsphilosophischen Argumenten. Er stellt die Vergesellschaftung des Menschen in Frage und kritisiert den universellen Fortschrittsglauben der Aufklärung. Die Arbeit analysiert die Argumentationslinie Rousseaus im zweiten Discours und untersucht dessen Geschichtsphilosophie auf der Basis der materialen und formalen Aspekte.
- Die Entstehung und Entwicklung der Ungleichheit unter den Menschen
- Rousseaus Kritik am Fortschrittsglauben der Aufklärung
- Der Naturzustand des Menschen und die Bedeutung der Vernunft
- Die Rolle der Zivilisation in der Verfälschung der menschlichen Natur
- Die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und der Suche nach einer gerechten Gesellschaftsordnung
Zusammenfassung der Kapitel
Der erste Teil der Arbeit bietet eine Übersicht über den zweiten Discours. In der Einleitung wird die Problematik der Ungleichheit unter den Menschen, die Rousseau in seiner Abhandlung zu beantworten versucht, vorgestellt. Es folgt eine Darstellung von Rousseaus methodischem Vorgehen beim Studium der menschlichen Natur und der Darstellung des Naturzustandes. In Kapitel 3 wird der Mensch im Naturzustand als ein Wesen beschrieben, das von Mitleid und Selbsterhaltung geleitet wird und in einem Zustand natürlicher Freiheit und Gleichheit lebt. Kapitel 4 hingegen analysiert die Entstehung und Ausbreitung der Ungleichheit in den weiteren Entwicklungsstadien der menschlichen Gattung. Rousseau argumentiert, dass die Zivilisation zur Verfälschung der menschlichen Natur und zur Entstehung der sozialen Ungleichheit geführt hat.
Der zweite Teil der Arbeit widmet sich einer geschichtsphilosophischen Analyse des zweiten Discours. Es werden die Merkmale der materialen und formalen Geschichtsphilosophie und die Besonderheiten der klassischen Geschichtsphilosophie beleuchtet. Außerdem werden die Einflüsse zeitgleicher wissenschaftstheoretischer Entwicklungen auf Rousseaus Denken untersucht. Die Arbeit diskutiert die Leistungen Rousseaus und prüft seine Thesen kritisch.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit den Schlüsselbegriffen der Geschichtsphilosophie, der Gesellschaftskritik, der Naturphilosophie und der Zivilisationskritik. Themen wie Fortschritt, Verfall, Ungleichheit, Naturzustand, Vernunft, Zivilisation, Gesellschaft, Naturrecht und Freiheit stehen im Mittelpunkt der Analyse.
- Arbeit zitieren
- Anne-Katrin Otto (Autor:in), 2007, Fortschritt als Verfallsgeschichte (?) Die skeptische Geschichtsphilosophie Jean-Jacques Rousseau im zweiten Discours, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/73302