Vergleich der Transformationen der SPD und der Labour Party in den achtziger und neunziger Jahren


Magisterarbeit, 2001

93 Seiten, Note: 2,0 (gut)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.) Einleitung

2.) Das sozialdemokratische 20. Jahrhundert
2.1.) Dahrendorfs These vom Ende der Sozialdemokratie
2.2.) Kommentierung der sozialdemokratischen Niedergangstheorie durch
verschiedene Autoren
2.2.1.) Christian Fenner
2.2.2.) Jens Borchert
2.2.3.) Herbert Kitschelt
2.2.4.) Peter Lösche/Franz Walter
2.2.5.) Thomas Meyer
2.2.6.) Wolfgang Merkel
2.2.7.) Anthony Giddens

3.) Die Transformationen der SPD und der Labour Party
3.1.) Personelle Transformationen
3.1.1.) Labour Party: Foot, Kinnock, Smith und Blair
3.1.2.) SPD: Das Personalkarussell der SPD
3.2.) Organisatorische Transformationen
3.2.1.) Labour Party
3.2.1.1.) Mitgliederrückgang und Bildung des Electoral College
3.2.1.2.) Organisationsstrukturelle Veränderungen unter Kinnock
3.2.1.3.) Labour und die Gewerkschaften
3.2.1.4.) Tony Blairs Organisationsreformen
3.2.2.) SPD
3.2.2.1.) Mitgliederentwicklung in der SPD
3.2.2.2.) Die SPD-Organisationsreform 1993 und ihre Folgen
3.2.2.3.) Das Verhältnis der SPD zu den Gewerkschaften
3.2.3.) Gemeinsamkeiten und Differenzen beider Parteien
3.3.) Programmatische Transformationen
3.3.1.) Labour Party
3.3.1.1.) Der Policy Review
3.3.1.2.) Änderung des Clause IV der Parteisatzung
3.3.1.3.) New Labour s Politikinhalte
3.3.1.4.) Die SPD-Grundwertekommission und New Labour
3.3.1.5.) Zusammenfassung zur Labour Party
3.3.2.) SPD
3.3.2.1.) Programmatische Veränderungen in den 80er Jahren
3.3.2.2.) Das Berliner Grundsatzprogramm von 1989
3.3.2.3.) Modernisierung in den neunziger Jahren
3.3.2.4.) Innovation und Gerechtigkeit
3.3.2.5.) Zusammenfassung zur SPD
3.3.2.6.) Das Schröder/Blair-Papier
3.4.) Wahlen, Wahlkampf und die Rolle der Medien
3.4.1.) Labour Party
3.4.1.1.) Zentralisierung und Professionalisierung der Kommunikation durch
Kinnock
3.4.1.2.) Blairs Mediatisierung der politischen Kommunikation
3.4.1.3.) Analyse von Labour s Wahlsieg 1997
3.4.2.) SPD
3.4.2.1.) Die SPD und die Gefahr einer Medienfalle
3.4.2.2.) Lafontaines wirkungsvolle Medienkommunikation
3.4.2.3.) Der Bundestagswahlkampf 1998
3.4.2.4.) Analyse des Wahlerfolgs der SPD und Ausblick

4.) Schlußbemerkungen

5.) Literaturverzeichnis

1.) Einleitung

In dieser Magisterarbeit werden die personellen, organisatorischen, program-matischen und medienorientierten Transformationen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und der britischen Labour Party in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts analysiert und verglichen.

Ausgangspunkt der Magisterarbeit ist Ralf Dahrendorfs These vom Ende der Sozialdemokratie. Seine Niedergangstheorie, die von verschiedenen Autoren wie Wolfgang Merkel, Thomas Meyer, Anthony Giddens, Herbert Kitschelt, Jens Borchert, Christian Fenner und Peter Lösche/Franz Walter aufgegriffen und kommentiert wurde, soll im ersten Abschnitt der Magisterarbeit betrachtet werden.

Den Hauptteil dieser Arbeit bildet die Darstellung der personellen, organisato-rischen, programmatischen und medienorientierten Transformationen der SPD und der Labour Party. Im Mittelpunkt stehen dabei folgende Fragen:

- Aus welchen Motiven heraus erfolgten die Transformationen und in welchen Etappen verlief der Transformationsprozeß?
- Verlief der Prozeß parallel oder voneinander unabhängig?
- Welche Bedeutung kann man den Transformationen insgesamt bescheinigen?
- Sind die Ergebnisse der Veränderungen eine Angleichung an Liberalismus bzw. Konservatismus oder stellen sie eine eigenständige politische Vision dar?

Ergänzt wird jener Hauptteil durch eine Darstellung der Rolle und des Ein-flusses der Medien sowie durch eine Analyse der Wahl zum britischen Unter-haus 1997 und des deutschen Bundestags 1998.

Aufgabe der Magisterarbeit soll es sein, einen Gesamtüberblick über die Trans-formationen der Sozialdemokratie in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland im genannten Zeitraum zu geben.

Die Methodik ist, anhand der Transformationen der SPD und der Labour Party die These von Ralf Dahrendorf zu falsifizieren. Dahrendorfs These vom Ende der Sozialdemokratie soll widerlegt werden, durch folgende, der Arbeit zu-grundeliegenden, These: Programmatische, organisatorische und personelle Transformationen unterstützt durch medienorientierte Wahlkampfinszenierun-gen führten zu einem neuen erfolgversprechenden Verständnis von Sozial-demokratie, daß in den Wahlerfolgen beider Parteien Ende der 90er Jahre seine Widerspiegelung fand. Die Umgestaltungen der Labour Party waren dabei in ihrer Qualität umfangreicher und radikaler als die der SPD.

Die Magisterarbeit hat folgende Erkenntnisziele:

1.) Einbettung der Transformationen der SPD und der Labour Party in die theoretischen Überlegungen zum möglichen Ende der Sozialdemokatie
2.) Darstellung der Transformationen als Beweis für eine erfolgreiche Revision der Sozialdemokatie
3.) Aufzeigen relevanter Faktoren, die zu den personellen, organisatorischen, programmatischen und medienorientierten Transformationen führten
4.) Erklärung der Wahlerfolge der Labour Party 1997 und der SPD 1998 als Folge der Transformationen

Die Literaturlage zu diesem Thema erwies sich als gut bis sehr gut, wobei wissenschaftliche Aufsätze über die Entwicklung der SPD in den 90er Jahren ungleich weniger erschienen als über die Labour Party. Vor allem die Bücher und Aufsätze von Thomas Meyer, Peter Lösche, Jens Borchert, Uwe Jun, Eric Shaw, Herbert Kitschelt, Donald Sassoon, Peter Shipley und Jon Sopel waren eine gute Grundlage für diese Magisterarbeit.

2.) Das sozialdemokratische 20. Jahrhundert

2.1.) Dahrendorfs These vom Ende der Sozialdemokratie

Ralf Dahrendorf, Wolfgang Merkel, Thomas Meyer, Anthony Giddens und an-dere Kommentatoren stellten übereinstimmend fest, daß das zwanzigste Jahr-hundert ein Jahrhundert der Sozialdemokratie war. Sozialdemokratische Pro-gramme und Ideen, ihre Reformpolitik und ihre historische Beständigkeit hat-ten in allen Ländern Europas die Politik geprägt, wo und solange demokra-tische Verfassungen es zuließen.

Jedoch waren die sozialdemokratischen Parteien Europas seit der zweiten Hälf-te der siebziger Jahre in eine tiefe Krise geraten. Diese äußerte sich auf meh-reren Ebenen zugleich: Wählerverluste und der damit verbundene Verlust von Regierungsmacht, eine langanhaltende geistig-politische Defensive durch die Vorherrschaft des Neoliberalismus in der Wissenschaft und im öffentlichen Diskurs, Mitgliederschwund, interne Spannungen und Identitätszweifel sowie das Bewußtsein, daß die klassischen Rezepte der Wirtschafts- und Sozial-politik für das Erreichen der wichtigsten sozialdemokratischen Ziele in der ver-änderten Welt nicht mehr ausreichten.

Diese Krise hatte Sozialwissenschaftler und Publizisten ganz unterschiedlicher politischer Zuordnung veranlaßt, Theorien vom historischen Ende der Sozial-demokratie zu veröffentlichen, in denen die Übergangskrise der siebziger und achtziger Jahre mit wechselnden Argumenten als Todeskampf dargestellt wur-de, von dem sich die Sozialdemokratie aus objektiven, im Kern unbeeinfluß-baren Gründen nicht mehr erholen könne. Die Gemeinsamkeit dieser Nieder-gangstheorien, waren sie nun ökonomisch, soziologisch oder politisch begrün-det, bestand in der Vorstellung, daß die objektiven strukturellen Faktoren, die die Krise der Sozialdemokratie verursachten, so übermächtig und durch aktives Handeln unbeeinflußbar waren, daß die sozialdemokratischen Parteien prin-zipiell nicht mehr über konstruktive politische Optionen verfügten, um das dü-stere Blatt zu ihren Gunsten noch einmal zu wenden.

Die größte Resonanz fand Ralf Dahrendorf mit einer politischen Variante der Prognose vom Ende des sozialdemokratischen Zeitalters. Sie war in die Form eines vergifteten Lobs gekleidet, denn Dahrendorf prognostizierte das Ende der Handlungsspielräume sozialdemokratischer Politik aus der Diagnose, daß we-sentliche gesellschaftspolitischen Ziele, für die die Sozialdemokraten in Euro-pa historisch angetreten waren, im Laufe der letzten Jahrzehnte erreicht wur-den[1]. Mit der Erfüllung des sozialdemokratischen Programms sei sozialdemo-kratische Politik darum in der Gegenwart gegenstandslos geworden.

Dahrendorf[2] schrieb dazu, daß der sozialdemokratische Konsens die Ideologie der Mehrheitsklasse sei. Alle Bestandteile dieses Konsensus bezögen sich auf soziale Bürgerrechte in einer Welt des Wohlstandes. Zu ihnen gehöre vor allem ein starker, aber wohlwollender Staat in einem korporatistisch gedämpften demokratischen System, eine politisch beeinflußte, aber marktorientierte Wirt-schaft und eine Gesellschaft weitreichender Solidarität. Das Wesen des sozial-demokratischen Konsens bestände darin, daß er ein vernünftiges Gleichge-wicht sucht.

“Die These vom Ende der Sozialdemokratie bedeutet ... nicht, daß der Konsensus der Mehrheitsklasse plötzlich seine Bedeutung verliert, geschweige denn, daß sozialdemokratische Parteien keine Wahlen mehr ge-winnen können. ... Die These besagt vielmehr, daß eine historische Kraft ihre Energie verloren hat. Das ist nicht darum geschehen, weil sie ein Jahrhundert lang die Szene beherrscht hätte, sondern weil sie nach einem Jahrhundert des Kampfes schließlich obsiegt hat.”[3]

Ralf Dahrendorf hatte seine radikalen Behauptungen Ende der 70er Jahre erst-mals aufgestellt und in vielerlei Varianten bis heute wiederholt. Er bezeichnete die Krise der demokratischen Politik als Ergebnis des sozialdemokratischen Konsensus, den sowohl Sozialdemokraten, als auch Konservative und Liberale entwickelt hätten. Es fiele schwer, schrieb Dahrendorf in seiner jüngsten Ver-sion, diejenigen beim Namen zu nennen, die dem sozialdemokratischen Kon-sensus nicht anhängen.[4]

2.2.) Kommentierung der sozialdemokratischen Niedergangstheorie durch verschiedene Autoren

2.2.1.) Christian Fenner

Für Professor Christian Fenner[5] liegt die Stärke der Aussage in ihrer Globali-tät. Das sozialdemokratische Programm habe sich zu Tode gesiegt, da auch die bürgerlichen Parteien den Status quo vertraten. Ausdruck dessen sei, daß die meisten sozialdemokratischen Forderungen von bürgerlichen Regierungen oder von großen Koalitionen durchgesetzt wurden. Ohne das Vorhandensein sozial-demokratischer Parteien hätten Veränderungen aber nicht stattgefunden. “Die neuere Geschichte kennt keine erfolgreichere Version bürgerlicher Gesell-schaft als die sozialdemokratische. Diese Version aber habe sich erschöpft und begänne seine kontraproduktive Wirkung zu entfalten.”[6] Die Folgen des so-zialdemokratischen Konsensus habe zu einer Entmutigung von Initiative und Innovation geführt, zu Bürokratie, Korporatismus, Steuer- und Wohlfahrtsstaat. Deshalb hätten in den achtziger Jahren selbst Mitglieder der Mehrheitsklasse zu zweifeln begonnen.

2.2.2.) Jens Borchert

Die Sozialdemokratie hat nach Einschätzung von Jens Borchert[7] sowohl ihre reformistische Praxis als auch ihre langfristigen Ziele verloren, die jedoch not-wendig seien, um die einzelnen Reformschritte auch im Bewußtsein ihrer An-hänger zu einem Gesamtprojekt zu verbinden, das seinerseits über ein rein reaktives Krisenmanagement hinausgeht. Der sozialdemokratische Politik-modus sei somit Geschichte. Als Ergebnis dieser Entwicklung wurden der Key-nesianische Wohlfahrtsstaat und die Parteiendemokratie entkoppelt, wodurch der Wohlfahrtsstaat zur bloßen Hülle verkam. Die Konservativen hätten die Grundlagen wohlfahrtsstaatlicher Politik in einer Weise verändert, die den bis-herigen sozialdemokratischen Politikkonzepten dauerhaft und irreversibel die Geschäftsgrundlage entzogen habe. Sozialdemokraten würden zwangsläufig in einigen Ländern Wahlen gewinnen, aber diese Erfolge seien kurzlebig und hin-sichtlich ihrer Auswirkungen auf die Politikinhalte wenig einflußreich. “Das grundlegende Problem der Sozialdemokraten ist weder der sozialstrukturelle Wandel noch das Aufkommen post-materialistischer Werte; das Problem ist, daß diese Parteien ihr Anliegen überlebt haben.”[8]

2.2.3.) Herbert Kitschelt

Herbert Kitschelt[9] geht davon aus, daß die Transformation der Sozialdemo-kratie auf drei Ebenen stattfindet:

1.) Die Ebene der Programmatik,
2.) Die Ebene der Organisationsstrukturen und
3.) Die Ebene der Wähler.

Veränderungen der einen Ebene, hätten Rückwirkungen auf die andere. Ihr Zu-sammenwirken solle ein einheitliches Konzept ergeben.

“Nach Kitschelts Interpretation [ist] eine Veränderung der Programmatik, der Organisationsstrukturen und Wählerkoalitionen für das politische Überleben der Parteien unumgänglich, mithin ein Wandel des sozialdemokratischen Mo-dells notwendig.”[10] Die einzuschlagende Richtung liege seiner Auffassung nach in der Betonung von libertären Politikinhalten und -zielen, im Einklang mit Markteffizienz und der Schaffung von flexiblen innerparteilichen Struk-turen. Dies erfordere einen weitgehenden Bruch der Sozialdemokratie mit ihrer bisherigen Politik.

2.2.4.) Peter Lösche/Franz Walter

Für Peter Lösche und Franz Walter[11] zog der Durchbruch der Tertiärisierung einen Schlußstrich unter eine hundert Jahre dauernde Periode der Sozial-demokratie als Partei der Arbeiterklasse. “Erst jetzt zerbrach das überlieferte proletarische Selbstverständnis der Partei, erst jetzt versiegten die historischen Quellen der sozialen Rekrutierung, die die Partei bis dahin ausreichend ver-sorgt hatte.”[12] Die Sozialdemokratie war von diesem Struktur- und Profil-wandel der Arbeitnehmerschaft nachdrücklich betroffen. Schließlich verän-derte sich dadurch ein großer Teil des Wählerpotentials. In erster Linie aber und sehr viel schneller und dezidierter als die Gesellschaft im ganzen wan-delten sich auch ihre eigenen Mitglieder und Funktionäre. Zugespitzt ausge-drückt behaupten Lösche und Walter, daß am Ende der Sozialdemokratisierung der bundesdeutschen Gesellschaft, eine sozial und kulturell von innen heraus radikal gewandelte sozialdemokratische Partei stand, die kaum mehr in der Ar-beiterschaft wurzelte.

2.2.5.) Thomas Meyer

In Dahrendorfs These spiegelt sich für Thomas Meyer[13] ein Stück realer Er-fahrung wider.

“Die über lange Zeit bevorzugte Politik vieler sozialdemokra-tischer Parteien, über zentralistische Sozialstaatsregelungen und eine generelle staatliche Handlungsorientierung eine notwendige Gesellschaftsreform voran-zubringen, bedarf auch nach dem Urteil der meisten sozialdemokratischen Par-teien heute der Korrektur.”[14]

Im übrigen gelangten nicht nur die sozialdemokratischen Parteien selbst, son-dern ein wachsender Teil der Öffentlichkeit, der Medien und der Wissenschaft im Laufe der 90er Jahre zu der Überzeugung, daß einige der Forderungen, die die Entstehung der Sozialdemokratie veranlaßten, in den Gesellschaften der Gegenwart, aufgrund der Wirkungen neoliberaler Politik, wieder in dramati-scher Form spürbar wurden. Dazu gehöre vor allem die Massenarbeitslosigkeit. Somit seien wichtige Voraussetzungen für eine Renaissance sozialdemo-kratischer Politik erfüllt. Die Transformation der Gesellschaften, der Problem-lagen und der Kommunikationsbedingungen verlange von ihnen eine tiefgrei-fende Bereitschaft und Fähigkeit zum Wandel.

So forderte Thomas Meyer den Weg praktischen Lernens und geistig-politi-scher Klärungen bewußt zu halten, weil in ihm die Erfahrungen und die Grün-de verankert sind, die den gegenwärtigen Vorstellungen und Forderungen ihren Sinn und ihre Rechtfertigung im Hinblick auf die klassischen Grundwerte der Sozialdemokratie verleihen.[15] Die Rückbesinnung auf diesen Erfahrungs-prozeß zeige auch, daß die Veränderungen der sozialdemokratischen Program-matik - vom ursprünglichen Entwurf zu dem nüchtern gewordenen Reformpro-gramm der Gegenwart - im wesentlichen nicht aus der in Ermüdung und Ver-drossenheit gründenden Verdrängung der großen Idee des Anfangs resultiere, sondern vielmehr als Kompromiß mit der Realität selbst zu verstehen ist, für deren Veränderung die Programme entworfen werden und in der sie sich letz-ten Endes immer zu bewähren haben. Der Prozeß, die Argumente und die Schritte dieses historischen Wandlungsprozesses seien darum eine Vorbe-dingung für das Verständnis des aktuellen Programms und Selbstverständnisses sozialdemokratischer Politik, denn sie seien in ihre handlungsleitende Philo-sophie ebenso wie in ihre politischen Projekte der Gegenwart eingegangen.

2.2.6.) Wolfgang Merkel

Wolfgang Merkel wendet sich gegen die These vom unvermeidlichen Nieder-gang der Sozialdemokratie, die sich zwar in einer Umbruchsituation befinde, aber nach wie vor ausreichend unterschiedliche Interessenlagen, Konflikte und Regulierungsbedürfnisse repräsentiere.[16] Merkels zentrales Argument ist, daß Dahrendorf Unrecht habe, was man anhand der Wahlergebnisse und der Regie-rungspolitik sozialdemokratischer Parteien nachweisen könne.[17] Merkel zufol-ge gab es keinen einheitlichen Trend von Stimmenverlusten der Sozialdemo-kratie. Am meisten störte Merkel an Dahrendorfs Niedergangstheorie deren ex-pliziter oder verborgener Determinismus und ein linear fortgeschriebener uni-verseller Geltungsanspruch.[18]

Dahrendorfs Niedergangstheorie leide an einer Schwäche: der statischen Wahr-nehmung der sozialdemokratischen Parteien.[19] Sie tauchen nicht im Status von Akteuren auf. Auf der einen Seite präsentiere die Niedergangstheorie eindring-liche Analysen der sich seit den 70er Jahren beschleunigt verändernden ökono-mischen und sozialen Umwelten. Auf der anderen Seite aber betrachte sie die sozialdemokratischen Parteien schlicht als passive Opfer einer sich wandeln-den Welt. Sie vernachlässige deren Fähigkeit, sich an die Umwelt anzupassen und ihrerseits auf sie einzuwirken, und sie unterschätze die revisionistische Fä-higkeit der Sozialdemokratie, Strategien, Ziele und Politiken im Lichte des Wandels zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren, um die Bedingungen ihres Erfolges oder politischen Überlebens herzustellen, zumindest aber zu be-einflussen. Dies müsse um so mehr verwundern, da die Geschichte der Sozial-demokratie des 20. Jahrhunderts vor allem auch eine Geschichte der bestän-digen Revision ihrer Wege und Ziele war.

So gering ein genereller Niedergang der Sozialdemokratie empirisch haltbar postuliert werden könne, so wenig gäbe es eine gemeinsame Zukunft für sie.[20] Zu stark unterscheiden sich die sozioökonomischen Bedingungen, die politi-schen Institutionen, die Wettbewerbssituationen in den Parteiensystemen sowie die Wertekonstellationen und Diskurstraditionen in den jeweiligen Ländern. Diese jeweils variierenden Kontexte würden unterschiedliche Strategien, Agenden und Präferenzen sowohl in der Wahlarena als auch in der Politikge-staltung verlangen. “Dahrendorfs summarisch-apodiktische These vom ‘Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts’ trägt zur Erklärung der divergierenden Strategien und Politikergebnisse nichts bei.”[21]

Ein vorläufiges Fazit mit den Argumenten Merkels könnte lauten: Das von Dahrendorf dramatisierte Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts findet nicht statt, da es weiter Parteien geben wird, die diesen Namen tragen.[22] Große Anpassungsflexibilität vorausgesetzt, würden sie als sozial-liberale Moderni-sierungsparteien und/oder als Garanten gegen einen allzu willkürlichen Abbau des Sozialstaates ihre Klientel vertreten. Die These vom Niedergang der So-zialdemokratie ließe sich kaum halten, da es schwer fällt, eine Grenze anzu-geben, von der an Stimmenverluste der sozialdemokratischen Parteien als sä-kularer Niedergang bezeichnet werden können.

Im Wesentlichen seien es vier Bereiche, in denen sich sozialdemokratische Parteien auch noch nach dem sozialdemokratischen Jahrhundert als eine er-folgreiche politische Kraft profilieren können[23]:

1.) Umbau des Sozialstaats ohne dessen Abbau
2.) Beschäftigungssicherung
3.) Verfolgung einer kollektiv rationalen Umweltpolitik
4.) Ausdehnung gesellschaftlicher Partizipation und Emanzipation

2.2.7.) Anthony Giddens

Anthony Giddens gilt als geistiger Architekt der politischen Philosophie des Dritten Weges. Seiner Ansicht nach könne die Sozialdemokratie nicht nur überleben, sondern sogar prosperieren, und zwar auf theoretischer wie auf praktisch-politischer Ebene. “Das wird ihr aber nur gelingen, wenn sie bereit ist, ihre überkommenen Ansichten grundsätzlich in Frage zu stellen, als sie dies in den meisten Fällen bisher getan hat. Sie muß einen neuen Dritten Weg finden.”[24]

Dieser läßt sich an folgenden, von Giddens konzipierten, vier Schlüsselbegrif-fen erläutern[25]:

- Inklusion
- Exklusion
- Arbeit
- welfare to work.

Der Dritte Weg definiert Gleichheit als gesellschaftliche Inklusion und Un-gleichheit als gesellschaftliche Exklusion. Inklusion bedeutet die formale Zu-schreibung und faktische Wahrnehmung der bürgerlichen und politischen Rechte und Pflichten, die jedes Mitglied einer Gesellschaft besitzen sollte. Die faktische Wahrnehmung der formalen Rechte und Pflichten hängt im hohen Maße von der Herstellung der Chancengleichheit ab. Bei der Exklusion unter-scheidet Giddens zwei Formen in der modernen Gesellschaft, die es zu ver-hindern gelte: nämlich den freiwilligen Selbstausschluß am oberen Ende der Gesellschaft und den meist unfreiwilligen Ausschluß am unteren Ende. Um diese doppelte Exklusion zu verhindern und die gesellschaftliche Inklusion zu ermöglichen, müsse dem Zugang zur Erwerbsarbeit eine überragende Bedeu-tung zugemessen werden. Arbeit und nicht sozialstaatliche Ersatzleistungen werden als der einzige erfolgversprechende Weg aus Armut und gesellschaftli-cher Exklusion gesehen. Um die individuelle Verantwortlichkeit zu stärken, sich wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern und die entsprechenden Qualifi-kationen zu erwerben, müsse der Sozialstaat zum Sozialinvestitionsstaat umge-baut werden. Das Prinzip welfare to work steht für die Idee, daß der Sozial-staat in erster Linie die Reintegration in den Arbeitsmarkt fördern müsse und dies auf keinen Fall behindern dürfe.

Die Muster von politischer Sympathie und Gefolgschaft haben sich allgemein verändert.[26] Das Wahlverhalten entspreche nicht länger der Klassenzugehörig-keit. An die Stelle einer Links-Rechts-Polarisierung sei ein komplexeres Bild getreten. Die sozialdemokratischen Parteien könnten sich nicht mehr auf einen einheitlichen Klassensockel stützen. Da sie sich auf ihre bisherigen Identitäten nicht mehr verlassen können, müssen sie in einem gesellschaftlich und kul-turell unübersichtlichen Umfeld neue Identitäten hervorbringen. Trotz ihrer Wahlerfolge haben die Sozialdemokraten bislang noch keinen neuen und ein-heitlichen Standpunkt entwickelt.

Unter dem Dritten Weg versteht Giddens eine Theorie und eine politische Praxis, mittels derer die Sozialdemokratie den grundlegenden Veränderungen in der Welt Rechnung trage. “Dies ist ein Dritter Weg in dem Sinne eines Versuches, über die Sozialdemokratie alten Stils wie den Neoliberalismus hinauszugelangen.”[27] Das übergreifende Ziel der Politik des dritten Weges müsse sein, den Bürgern dabei zu helfen, sich ihren Weg durch die großen Revolutionen unserer Zeit zu bahnen: die Globalisierung, die Veränderung des persönlichen Lebens und unsere Beziehung zur Natur. Diese Politik solle die Globalisierung bejahen - wenn sie als ein Prozeß verstanden wird, der weit über den globalen Markt hinausreicht. Hauptanliegen der Politik des Dritten Weges müsse die soziale Gerechtigkeit sein. Nach dem Verzicht auf kollektive Lösungen wolle die Politik des Dritten Weges ein neues Verhältnis von Indivi-duum und Gesellschaft herbeiführen und Rechte und Pflichten neu bestimmen. Möglicherweise könne das zentrale Motto der neuen Politik folgendermaßen lauten: Keine Rechte ohne Verpflichtungen. Die Sozialdemokratie alten Stils neigt dazu, Rechte als unbedingte Ansprüche zu behandeln. Giddens Werte des Dritten Weges seien Gleichheit, Schutz der Schwachen und Verletzlichen, Frei-heit als selbstbestimmtes Handeln, keine Rechte ohne Verpflichtungen, keine Entscheidungsmacht ohne demokratisches Verfahren, kosmopolitischer Plura-lismus und philosophischer Konservatismus. Kritiker werfen der Philosophie des Dritten Weges vor, sie tarne sich als Reformpolitik, sei in Wahrheit aber nichts anderes als ein Verzicht auf Politik und die Kapitulation vor dem Machtanspruch des Kapitals.

3.) Transformationen der SPD und der Labour Party

3.1.) Personelle Transformationen

3.1.1.) Labour Party : Foot, Kinnock, Smith und Blair

An der Spitze der Labour -Parteiführung stand von 1979 bis 1983 Michael Foot, anschließend bis 1992 Neil Kinnock, gefolgt von John Smith und seit 1994 hat Tony Blair das Amt inne.

Die Wahl von Neil Kinnock zum Parteivorsitzenden im Jahre 1983 infolge des Debakels bei der Unterhauswahl im selben Jahr bedeutete den Ursprung der Transformationen der Labour Party.[28] Kinnock kam zu dem Schluß, daß aus wahltaktischen Erwägungen eine fundamentale Neubestimmung der Program-matik und der Politik der Partei ebenso notwendig waren, wie genug Macht zu bündeln, um innerparteiliche Widerstände zu überwinden. Kinnock begann ei-nen dualen Prozeß der Transformation. Erstens konzentrierte er auf Kosten der Parteibasis mehr Macht in seinen eigenen Händen. Zweitens nutzte er seine starke Position, um sozialistische Doktrin, die bei den Wählern als überholt und unpopulär angesehen wurden, über Bord zu werfen.

“This was a tortous process: by the 1987 general election Labour policy had changed little in substance - nor did the party’s vote increase by much. After this third successive defeat Kinnock’s ‘modernisation’ of the Party accelerated. Whilst he presented change as the only way for Labour to regain power, critics accused Kinnock of emulating SDP and even Conservative policies. By the 1992 general election Labour had discarded most of the policies on offer in 1983.”[29]

Trotz aller Veränderungen verlor die Labour Party 1992 ihre vierte Unterhaus-wahl hintereinander. Neil Kinnock trat zurück und John Smith übernahm die Führung der Partei. Smith befürwortete einen langsameren Modernisierungs-prozeß. Die einzige signifikante Veränderung unter seiner Regie war die letzte Etappe der One Member, One Vote (OMOV)-Kampagne (siehe dazu auch Kapitel 3.2.1.2.). “During Smith’s short time as leader, the party did not rever-se the modernisation process - nor did it advance that cause much further.”[30] John Smith starb 1994 an einer Herz-attacke.

Tony Blair wurde neuer Parteiführer, nachdem Geordon Brown seinen Ver-zicht auf das Amt bekannt gab. Blair nahm die von Kinnock begonnene Moder-nisierungspolitik auf und führte sie zu neuen Dimensionen.[31] “In the case of Tony Blair’s leadership, the party has witnessed a significant change in terms of its policy discourse.”[32] Während Blair im Bereich der organisatorischen Transformationen die Ideen Kinnocks weiterführte, präsentierte er ideologisch etwas Neues. In Kinnocks ideologischer Herkunft der walisischen La bour-Bewegung wurde die Idee des Kapitalismus als ungerechtes System eingestuft, das eines, wenn auch fernen Tages, durch die Verwirklichung des Sozialismus abgelöst werden sollte. Tony Blair, der einer konservativen Familie entstamm-te, sah Sozialismus nur als eine Anzahl von Werten, die innerhalb des Kapita-lismus angelegt werden. Für ihn war der Kapitalismus unabwendbar und wenn die Labour Party die Regierungsverantwortung haben wolle, habe sie sich als Partei der kapitalistischen Wirtschaft zu bekennen.

Tony Blair hinterließ als neuer Vorsitzender schnell einen vorteilhaften Ein-druck bei den Wählern.[33] Die Klarheit und Anschaulichkeit seiner Worte machten ihn zu einem höchst wirksamen Kommunikator und verliehen ihm ein Maß an Autorität, das kaum einer seiner Vorgänger zu erreichen in der Lage war. Schon bald wurde deutlich, daß der Kurs der Modernisierung mit Vehe-menz beschleunigt werden sollte. In den ersten beiden Monaten seiner Amts-zeit erneuerte Blair die Labour Party aus einer Organisation, die dem Tempo der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen nicht gewachsen war, in eine Partei, die Anspruch auf die Führung der öffentlichen Meinung erhob. Er prägte den Begriff New Labour, um das Ausmaß der Transformationen der Labour Party zu unterstreichen. Am Ende hatte sich die Partei in einem Maße geändert, daß der Kontrast zu Old Labour in vielerlei Hinsicht deutlich zu Tage trat. Eine andere Meinung vertritt Peter Riddell: “The creation of New Labour has been full of ambiguities, as the new party is grafted on to the old one.”[34] Inwiefern Blair einen entscheidenden Generationswechsel in den Reihen der Labour -Politiker bedeutete, zeigte sich binnen weniger Monate, nachdem er die Führung der Partei übernommen hatte. Schon in seiner ersten Parteitags-rede als neuer Vorsitzender sprach er von New Labour. Blair versuchte den Eindruck zu vermitteln, daß seine Partei etwas Neues war.

“Blair pushed ahead with further internal change and policy trans-formation. To this end, he revised Clause IV to indicate Labour ’s formal acceptance of the market. Blair even referred to ‘ New Labour ’ to suggest the extent to which the Party had changed.”[35]

Der neue Parteichef wollte den Trennstrich zu seinen Vorgängern und zu den Fehlschlägen der Vergangenheit. Daß Tony Blair die Erfolge erntete, für die Neil Kinnock den Grundstein gelegt hatte, betonen andere Kommentatoren. “But if political leadership is to be judged in terms of policy rather than tone, Blair must be seen as a beneficiary of his predecessors’ efforts.”[36] Und: “Neil Kinnock may not have had the electoral appeal of [Tony Blair], but the founda-tions he laid as leader - unifying and modernising the party - may still prove to have been the necessary conditions for a [Blair-led] Labour victory.”[37] Jon Sopel[38] betont, daß Blair aus anderem Holz geschnitzt sei als die Parteiführer vor ihm. Er stehe außerhalb vieler Labour -Traditionen, und sein Bemühen, die politischen Anliegen der linken Mitte Großbritanniens in eine neue, mehr plu-ralistische Sprache zu kleiden, rufe - zu annähernd gleiche Teilen - Verblüf-fung, Alarm und Aufregung hervor. Blairs Erfolge wurden darauf zurückge-führt, daß er von seiner Persönlichkeit her ein charismatischer Gewinnertyp sei.

“Tony Blair is a politician of his age, a ... leader who has neither the ambition nor the will to lead anything remotely collective. He has designed New Labour to make the party more electable. He has yet to sign up the Labour Party for a thorough-going socialist revisionist project which would have more long-run consequences than winning the next election.”[39]

Skeptisch über die Langzeitwirkung von Blairs Politik waren Autoren wie z.B. Kevin Davey. “Although Tony Blair has done much to transform the culture and ideology of the Labour Party, there are few signs that New Labour is ... a temporary political formation.”[40]

3.1.2.) SPD: Das Personalkarussell

Bei der SPD drehte sich das Personalkarussell für den Parteivorsitz um ein Vielfaches schneller als bei Labour. Nach der Amtsniederlegung von Willy Brandt übernahm Hans-Jochen Vogel 1987 den Parteivorsitz. Ihm folgten 1991 Björn Engholm, 1993 vorübergehend Johannes Rau, von 1993 bis 1995 Rudolf Scharping und ab 1995 Oskar Lafontaine. Er trat im März 1999 von einem auf den anderen Tag zurück und Gerhard Schröder übernahm den Parteivorsitz.

Zunächst soll jedoch die Betrachtung der Kanzlerkandidaten im Mittelpunkt stehen.

“In the period leading up to the 1987 election, the SPD tried a compromise between old and new politics. It adopted a traditional candidate in the Schmidt mould - namely Johannes Rau. ... After Rau’s defeat, the SPD moved further towards the new politics by adopting Oskar Lafontaine ... as chancellor-candidate.”[41]

Oskar Lafontaine schien Ende der 80er Jahre die richtige Person für die Inte-gration der verschiedenen Wählergruppen zu sein, die die SPD zur Rückkehr an die Macht benötigte.[42] Lafontaine versuchte mit seinen Plädoyers für eine moderne, intelligente marktwirtschaftliche Politik und mit seinen Provoka-tionen und Spitzen gegen die Gewerkschaften, der SPD ein neues Image zu verpassen. Er wollte sie aus dem Ghetto des sozialpolitischen Interessenver-bandes der Arbeitnehmer in strukturschwachen Gebieten herauszuholen und sie vom Bild des politisch verlängerten Arms starrer Gewerkschaftsgroßorga-nisationen zu lösen. Der Einfallsreichtum Lafontaines blieb keineswegs ohne Wirkung. “Doch sein Ziel, die SPD ... wieder als wirtschaftspolitisch undog-matische, moderne, zukunftsorientierte und kompetente Partei salon- und mehrheitsfähig zu machen, erreichte er nicht.”[43]

Anfang der neunziger Jahre fand bei der SPD ein Generationswechsel statt, der als weitgehend gelungen eingeschätzt wurde, was eine beeindruckende Riege von Ministerpräsidenten in den Ländern und von profilierten Sprechern in der Bundestagsfraktion untermauerten.[44] Die neue Generation sozialdemokrati-scher Politiker, die sogenannten Enkel, zu denen neben Lafontaine u.a. Björn Engholm, Gerhard Schröder und Rudolf Scharping gehörten, waren spontaner und ungebundener, und sie äußerten ihren Unmut auch öffentlich.

Auf Bundesebene verlor die SPD jedoch erneut. Vier personelle Gründe sah Thomas Meyer[45] für die Wahlniederlagen in den achtziger und Anfang der neunziger Jahre:

1.) Im Jahre 1990 präsentierte sich der SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine mit meist skeptischen Äußerungen zum Thema deutsche Vereinigung. Er be-tonte vor allem die Schwierigkeiten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozial-union im Verlauf des Einigungsprozesses. Damit stand Lafontaine in direkten Widerspruch zur Stimmung der öffentlichen Mehrheit. Die Konsequenz war, daß die SPD bei den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen im Dezember 1990 eine deutliche Niederlage einstecken mußte.
2.) Der ständige Wechsel der Parteivorsitzenden und der Kanzlerkandidaten vermittelte kein Bild von Konstanz. Bei den Bundestagswahlen präsentierte die SPD jedes Mal einen neuen Kandidaten, nämlich 1983 Vogel, 1987 Rau, 1990 Lafontaine, 1994 Scharping und schließlich 1998 Schröder. Gemeinsam war diesen Kandidaten, außer Vogel, das sie erfolgreiche Ministerpräsidenten in einem Bundesland vor der Nominierung waren und nicht aus der in Opposition befindlichen Fraktionsspitze der Partei kamen. Die Konsequenz dieser un-gleichmäßigen Personalpolitik war ein ernsthafter Mangel an Kontinuität, Vertrauen und Zuverlässigkeit. Eine selbstzerstörerische Verbindung zwischen dem ausbleibenden Wahlerfolg, einem negativen Medienimage und dem hektischen Austausch der Personen entstand.
3.) Keiner der Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten nach Vogel akzep-tierte das Berliner Grundsatzprogramm (siehe dazu Kapitel 3.3.2.2. dieser Ar-beit) in seiner Gesamtheit für seine persönliche politische Position. Stattdessen übernahmen die angesprochenen Personen jeweils einzelne Teile des Pro-gramms, die mit ihrer persönlichen Richtung übereinstimmten.
4.) Die Unklarheiten, Irritationen und Wahlniederlagen sorgten für einen Mangel an Solidarität und Zusammenarbeit an der Spitze der Partei. Die Führungspersonen fochten ihre Machtkämpfe öffentlich in den Massenmedien aus, indem sie jede eventuelle Schwäche ihrer Mitbewerber für ihren eigenen Vorteil nutzten.

Die Konsequenz des entstandenen Imageproblems und der zutiefst unterschied-lichen Positionen führte auf dem Mannheimer Parteitag im November 1995 zur Wahl von Oskar Lafontaine zum Parteivorsitzenden.

“Die Wahl Oskar Lafontaines zum ... SPD-Vorsitzenden kann ... als Versuch verstanden werden, ... drei Defizite auf einmal zu korrigieren: eine stärkere Persönlichkeit an die Spitze zu stellen, dadurch mehr Medienwirksamkeit zu erzielen und sich gleichzeitig programmatisch zu erneuern.”[46]

[...]


[1] Vgl. Thomas Meyer, Die Transformation der Sozialdemokratie. Eine Partei auf dem Weg ins 21. Jahr-

hundert, Bonn 1998, S. 84

[2] Vgl. Ralf Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, München 1994,

S. 174

[3] Ebd., S. 175

[4] Vgl. Christian Fenner, Das Ende der Sozialdemokratie - beschleunigt durch die Einigung?, in: Demokratie in der Krise? Zukunft der Demokratie, hrsgg. v. Thomas Jäger/Dieter Hoffmann, Opladen 1995, S. 86

[5] Vgl. Ebd., S. 87

[6] Ebd.

[7] Vgl. Jens Borchert, Alte Träume und neue Realitäten. Das Ende der Sozialdemokratie, in: Das sozialdemokratische Modell. Organisationsstrukturen und Politikinhalte im Wandel, hrsgg. v. Jens Borchert/Lutz Golsch/Uwe Jun/Peter Lösche, Opladen 1996, S. 71 f

[8] Ebd., S. 73

[9] Vgl. Uwe Jun, Innerparteiliche Reformen im Vergleich. Der Versuch einer Modernisierung von SPD und Labour Party, in: Das sozialdemokratische Modell. Organisationsstrukturen und Politikinhalte im Wandel, hrsgg. v. Jens Borchert/Lutz Golsch/Uwe Jun/Peter Lösche, Opladen 1996, S. 217

[10] Jens Borchert/Lutz Golsch/Uwe Jun/Peter Lösche, Einleitung. Das sozialdemokratische Modell - Krise und Perspektiven, in: Das sozialdemokratische Modell. Organisationsstrukturen und Politikinhalte im Wandel, hrsgg. v. Jens Borchert/Lutz Golsch/Uwe Jun/Peter Lösche, Opladen 1996, S. 15

[11] Vgl. Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD: Klassenpartei - Volkspartei - Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992, S. 82 ff

[12] Ebd., S. 82

[13] Vgl. Meyer, Die Transformation der Sozialdemokratie (Anm. 1), S. 85 f

[14] Ebd., S. 85

[15] Vgl. Ebd., S. 31

[16] Vgl. Borchert/Golsch/Jun/Lösche, Einleitung (Anm. 10), S. 16

[17] Vgl. Borchert, Alte Träume und neue Realitäten (Anm. 7), S. 40

[18] Vgl. Fenner, Das Ende der Sozialdemokratie (Anm. 4), S. 91 ff

[19] Vgl. Wolfgang Merkel, Ende der Sozialdemokratie? Machtressourcen und Regierungspolitik im westeuropäischen Vergleich, Frankfurt am Main/New York 1993, S. 53 f

[20] Vgl. Wolfgang Merkel, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Sozialdemokratie, in: Das sozialdemokratische Modell. Organisationsstrukturen und Politikinhalte im Wandel, hrsgg. v. Jens Borchert/Lutz Golsch/Uwe Jun/Peter Lösche, Opladen 1996, S. 94

[21] Merkel, Ende der Sozialdemokratie? (Anm. 19), S. 366

[22] Vgl. Fenner, Das Ende der Sozialdemokratie (Anm. 4), S. 91 ff

[23] Vgl. Merkel, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Sozialdemokratie (Anm. 20), S. 95 ff

[24] Anthony Giddens, Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie (Übersetzung von Bettina Engels und Michael Adrian), hrsgg. v. Ulrich Beck, Frankfurt am Main 1999, S. 7

[25] Vgl. Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD, Dritte Wege - Neue Mitte. Sozialdemokra- tische Markierungen für Reformpolitik im Zeitalter der Globalisierung, Berlin: September 1999, S. 13 f

[26] Vgl. Giddens, Der dritte Weg (Anm. 24), S. 35 ff

[27] Ebd., S. 38

[28] Vgl. Eric Shaw, Von Old Labour zu New Labour. Die Transformation der britischen Sozialdemokratie (Übersetzung von Uwe Jun), in: Das sozialdemokratische Modell. Organisationsstrukturen und Politik- inhalte im Wandel, hrsgg. v. Jens Borchert/Lutz Golsch/Uwe Jun/Peter Lösche, Opladen 1996, S. 201

[29] Steven Fielding, The Labour Party. ‘Socialism’ and society since 1951, Manchester 1997, S. 125

[30] Steven Fielding, Labour: Decline and Renewal, Manchester 1995, S. 85

[31] Vgl. Colin Leys, The British Labour Party since 1989, in: Looking Left. Socialism in Europe after the Cold War, hrsgg. v. Donald Sassoon, New York 1997, S. 19 f

[32] Michael Kenny/Martin J. Smith, Discourses of Modernization: Gaitskell, Blair and the Reform of Clause IV, in: British Elections & Parties Review, hrsgg. v. Charles Pattie/David Denver/Justin Fisher/Steve Ludlam, London/Portland 1997, S. 110

[33] Vgl. Shaw, Von Old Labour zu New Labour (Anm. 28), S. 187

[34] Peter Riddell, Is there any point left to Labour ?, in: The Times, Nr. 66761 v. 28.02.2000, S. 16

[35] Fielding, The Labour Party (Anm. 29), S. 143

[36] Paul Anderson/Nyta Mann, Safety First. The Making of New Labour, London 1997, S. 385

[37] Anthony Heath/Roger Jowell/John Curtice, Can Labour win?, in: Labour ’s Last Chance? The 1992 Election and Beyond, hrsgg. v. Anthony Heath/Roger Jowell/John Curtice, Aldershot 1994, S. 288

[38] Vgl. Jon Sopel, Tony Blair. Der Herausforderer (Übersetzung von Reinhard Plehwe), Stuttgart 1996,

S. 11

[39] Nina Fishman, Modernisation, Moderation and the Labour Tradition, in: The Blair Agenda, hrsgg. v. Mark Perryman, London 1996, S. 52

[40] Kevin Davey, The Impermanence of New Labour, in: The Blair Agenda, hrsgg. v. Mark Perryman, London 1996, S. 76

[41] Donald Sassoon, One Hundred Years of Socialism. The West European Left in the Twentieth Century, New York 1996, S. 714

[42] Vgl. Lösche/Walter, Die SPD (Anm. 11), S. 101 ff

[43] Ebd., S. 128

[44] Vgl. Ebd., S. 383

[45] Vgl. Thomas Meyer, The transformation of German social democracy, in: Looking Left. Socialism in Europe after the Cold War, hrsgg. v. Donald Sassoon, New York 1997, S. 133 f

[46] Borchert/Golsch/Jun/Lösche, Einleitung (Anm. 10), S. 7

Ende der Leseprobe aus 93 Seiten

Details

Titel
Vergleich der Transformationen der SPD und der Labour Party in den achtziger und neunziger Jahren
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Politikwissenschaft)
Note
2,0 (gut)
Autor
Jahr
2001
Seiten
93
Katalognummer
V736
ISBN (eBook)
9783638104814
ISBN (Buch)
9783638676106
Dateigröße
686 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialdemokratie, SPD, Labour Party, Transformationen
Arbeit zitieren
Ulf Schindler (Autor:in), 2001, Vergleich der Transformationen der SPD und der Labour Party in den achtziger und neunziger Jahren, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/736

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