Seit es Literaturkritik gibt, wird ihre Krise und ihr baldiger Untergang beschworen. Schon Adorno beklagte "Die Krisis der Literaturkritik". Im berühmten "Autodafé" von Walter Boehlich wurde ihr der endgültige Tod bescheinigt – die Literaturkritik überlebte auch dies. Gegenwärtig aber scheint die Literaturkritik vor ihrer größten Veränderung zu stehen. Dazu tragen mehrere Faktoren bei: Das ohnehin schrumpfende Feuilleton der Zeitungen findet zunehmend weniger Leser, Hörfunkrezensenten bleiben für eine Buchbesprechung oft nur noch zwei Minuten, Elke Heidenreichs TV-Sendung „Lesen!“ hat das kritische Gespräch über Bücher durch reine Kaufempfehlungen ersetzt. In einem Medium dagegen blüht die Literaturkritik in ungeahntem Ausmaß: Im Internet. In unzähligen Literaturforen, auf selbst programmierten Homepages, vor allem aber auf den Seiten der großen Online-Buchhändler wie Amazon, Bol und Booxtra, ist ein alter Traum von Bertolt Brecht und Walter Benjamin Wirklichkeit geworden. Der Leser ist aus der passiven Konsumhaltung erwacht und rezensiert als Laienkritiker selbst. Durch dieses mittlerweile massive Auftreten von Laienkritikern im Internet ist eine Demokratisierung der Literaturkritik eingetreten. Die Autorität weniger, professioneller Kritiker wird abgelöst durch die Meinung der Masse. Damit wird die Laienkritik zum Surrogat für die institutionalisierte Kritik. Diese massenhafte Produktion von Laienrezensionen im Internet erscheint vielen Mitgliedern des Literaturbetriebs als Absage einer breiten Leserschicht an die professionell betriebene Literaturkritik. Beobachter des Literaturbetriebs greifen die Rezensionen laienhafter Leser teilweise mit scharfen Worten an. Die Relevanz der Laienkritik, ungeachtet der diskussionswürdigen Qualität mancher Rezensionen, ist allerdings in den Augen ihrer Leser - und so letztendlich für den gesamten literarischen Betrieb - enorm.
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Begriffliche Unterscheidungen
2 Geschichtlicher Exkurs: Frühere Formen von Laienkritik
2.1 Friedrich Nicolais „Allgemeine Deutsche Bibliothek“
2.2 Wandel der Literaturkritik in der Weimarer Republik
2.3 Volkskritik in der DDR
3 Wirtschaftlicher Exkurs: Wachsende Bedeutung des Internet für Buchhandel und Verlagswesen
3.1 Trend zu individualisierten Angeboten im Buchhandel
4 Laienkritik im Internet
4.1 Laienkritik im Internet als Teilphänomen des Bürgerjournalismus
4.2 Vorraussetzungen für die Laienkritik im Internet
4.3 Grenzen der Publikationsfreiheit im Internet
4.4 Formen der Internetkritik
4.4.1 Unterscheidung von Kritiken die für ein Prinmedium geschrieben wurden oder diesen Regeln folgen und genuiner Internetkritik
4.4.2 Literaturkritik in Rezensionsforen
4.4.3 Literaturkritiken als Teil der Internetangebote von traditionellen Medien
4.4.4 Literaturkritik auf den Seiten der Online-Buchhändler
4.4.4.1 Das Problem der Abgrenzung
4.4.4.2 Abgrenzung Profi und Laie
4.4.4.3 Funktionsweise und Nutzcharakter der Kundenrezensionen bei Amazon
5 Merkmale der Literaturkritik im Internet
5.1 Meinungspluralismus und Gesprächscharakter
5.2 Der Leser entscheidet selber, was er rezensiert
5.3 Aus der Momentaufnahme im Journalismus zur ständigen Verfügbarkeit
5.4 Vereinfachung und Verkürzung
5.5. Verstärkung des Mainstreams
5.6 Ausdifferenzierung des Angebots
5.7 Das Problem der Anonymität
5.8 Stilistische Analyse einer Kundenkritik
5.8.1 Persönlicher Stil
5.8.2 Servicecharakter
5.8.3 Oraler Stil
5.8.4 Selbstverständnis des Kritikers
5.8.5 Umfeldanalyse
6 Profi versus Amateur – Die Positionen im Überblick
7 Die Krise der professionellen Kritik
7.1 Dem Internet vorausgegangene Probleme der Literaturkritik
7.1.1 Indifferenz des pluralistischen Marktes
7.1.2 Relevanzverlust des klassischen Feuilletons
7.1.3 Krise des Kritiker-Selbstverständnisses
7.1.4 Schwund der Glaubwürdigkeit
7.1.5 Mangelnde Reaktion auf aktuelle Ereignisse
7.1.6 Konkurrenz durch neue Kunstformen
7.2 Reaktionen des klassischen Feuilletons
7.3 Zukunftsaussichten der professionellen Literaturkritik
8 Zusammenfassung und Schlussthese
1 Einleitung
Seit es Literaturkritik gibt, wird ihre Krise und ihr baldiger Untergang beschworen. "Kaum hatte sich die literarische Kritik zu Zeiten Lessings als eigenes Genre etabliert, wurde ihr auch schon der Verfall und das baldige Ende prophezeit"[1]. Schon Adorno beklagte "Die Krisis der Literaturkritik"[2]. Im berühmten "Autodafé" von Walter Boehlich[3] wurde ihr der endgültige Tod bescheinigt – die Literaturkritik überlebte auch dies. Gegenwärtig aber scheint die Literaturkritik vor ihrer größten Veränderung zu stehen. Dazu tragen mehrere Faktoren bei: Das ohnehin schrumpfende Feuilleton der Zeitungen findet zunehmend weniger Leser, Hörfunkrezensenten bleiben für eine Buchbesprechung oft nur noch zwei Minuten, Elke Heidenreichs TV-Sendung „Lesen!“ hat das kritische Gespräch über Bücher durch reine Kaufempfehlungen ersetzt. In einem Medium dagegen blüht die Literaturkritik in ungeahntem Ausmaß: Im Internet. In unzähligen Literaturforen, auf selbst programmierten Homepages, vor allem aber auf den Seiten der großen Online-Buchhändler wie Amazon, Bol und Booxtra, ist ein alter Traum von Bertolt Brecht und Walter Benjamin Wirklichkeit geworden. Der Leser ist aus der passiven Konsumhaltung erwacht und rezensiert als Laienkritiker selbst. Literatur(kritik)wissenschaftler wie Thomas Anz begrüßen das Phänomen oder beobachten es doch zumindest mit Interesse:
Überhaupt scheinen Ressentiments nicht angebracht. Realisieren doch Laienkritiker im Netz nur jene Medienutopien, von denen einst Brecht und Benjamin mit Blick auf den Rundfunk noch vergeblich träumten: die Aktivierung der Konsumenten[4].
Durch dieses mittlerweile massive Auftreten von Laienkritikern im Internet ist eine Demokratisierung der Literaturkritik eingetreten. Die Autorität weniger, professioneller Kritiker wird abgelöst durch die Meinung der Masse. Damit wird die Laienkritik zum Surrogat für die institutionalisierte Kritik.
Allen Unkenrufen vom „Ende der Gutenberg-Galaxis“ zum Trotz ist das Bedürfnis, über Literatur zu kommunizieren, heute größer oder doch sichtbarer denn je. Das Internet führt dabei zu einer umfassenden Demokratisierung der Kritik, mit ihm wird die Laienkritik erstmals zu einem Massenphänomen und zu einer ernsthaften Alternative zur professionellen Kritik[5].
Doch gerade der letzte Punkt – die Laienkritik im Internet sei eine „ernsthafte Alternative zur professionellen Kritik“ – ist nicht nur unter Literaturkritikern stark umstritten. Beobachter des Literaturbetriebs greifen die Rezensionen laienhafter Leser teilweise mit scharfen Worten an:
Was einst der Traum von Brecht und Benjamin war, dass jeder seine Meinung publizieren kann, ist hier auf fatale Weise Wirklichkeit geworden. Diese Leserrezensionen (...) sind oft nur ein Beweis für die Krise des Bildungssystems[6].
So Gunther Nickel, Lektor des Deutschen Literaturfonds[7]. Die massenhafte Produktion von Laienrezensionen im Internet erscheint vielen Mitgliedern des Literaturbetriebs als Absage einer breiten Leserschicht an die professionell betriebene Literaturkritik. Die Relevanz der Laienkritik, ungeachtet der diskussionswürdigen Qualität mancher Rezensionen, ist allerdings in den Augen ihrer Leser - und so letztendlich für den gesamten literarischen Betrieb - enorm.
Die aktuellen Veränderungen ziehen ästhetische und ökonomische Konsequenzen sowohl für die professionelle Literaturkritik, als auch für die Verlage, die etablierten Medien und das Leseverhalten der Konsumenten nach sich. Denn die Literaturkritik ist niemals autonom: "Das Kommunikationsfeld, in dem sich die Kritik bewegt, spannt sich zwischen Autor - Text - Verlag - Buchhandel und Leser auf"[8].
Angesichts dieser Umwälzungen sollte das Phänomen der massenhaften Laienkritik im Internet also nicht ignoriert, polemisch herabgesetzt oder als unbedeutend abgetan werden, sondern einer differenzierten Betrachtung unterzogen werden. Dabei soll ebenfalls Klarheit in die Kontroverse zwischen professionellen und amateurhaften Rezensenten gebracht werden.
Das Thema ist komplex und hochaktuell. Daher mangelt es zur Zeit noch an fundierten wissenschaftlichen Untersuchungen zur Laienkritik im Internet. Zurückgegriffen werden kann vor allem auf die kontroversen Diskussionsbeiträge in den Medien. Da es sich um gegenwärtige Entwicklungen handelt, deren Auswirkungen bisher nur teilweise absehbar sind, ist eine abschließende Betrachtung des Themas noch nicht möglich. Wahrscheinliche Entwicklungen sollen jedoch mit aufgeführt werden.
1.1 Begriffliche Unterscheidungen
An erster Stelle muss grundsätzlich zwischen den oft synonym verwendeten Begriffen Kritik und Rezension unterschieden werden. Der Begriff der Kritik geht über den der Rezension hinaus. Bei Kritiken handelt es sich um ausführliche Aufsätze und Abhandlungen, während Rezensionen meist aktuelle (das heißt auf Neuerscheinungen bezogene) Diskussionsbeiträge über einen Gegenstand eines bestimmten Themenfeldes, hier also der Literatur, sind. Literaturkritik wird aber auch als Überbegriff für die Gesamtheit literaturkritischen Schaffens zum Beispiel in einem Medium (z.B. Internetliteraturkritik) oder von einer Person benutzt, da „Rezension“ (lateinisch „Recensio“ = Musterung) immer einen einzelnen Text meint. Eine Rezension ist „die kritische Besprechung einer Neuerscheinung, die verbreitetste und wichtigste Textsorte der Literaturkritik“[9]. Die vorherrschende Textsorte sowohl im Internet als auch in den traditionellen Medien (Print, Rundfunk und Fernsehen) ist also die Rezension.
Laienrezensionen sind Rezensionen, die von nicht professionellen, nicht akademisch ausgebildeten, nicht honorierten Rezensenten verfasst werden. Laienrezensionen hatten zum Beispiel in der DDR lange vor Einführung des Internets ihren festen Platz.
Die Kundenrezension oder Leserrezension wiederum ist eine neue, spezielle Unterform der Laienrezension, die von Internetbuchhändlern wie Amazon als Möglichkeit für die Kunden angeboten wird, ein Urteil meist in Form einer Kurzrezension über das erworbene Buch zu publizieren.
Von Kritikern wird in dieser Arbeit gesprochen, wenn es sich um professionelle Autoren von literaturkritischen Texten handelt, die sich über Jahre hinweg beruflich intensiv mit Literaturkritik beschäftigen. Wer „nur“ ein Rezensent, wer schon ein Kritiker ist, ist dabei nicht abschließend bestimmbar, da es für diese Unterscheidung letztendlich nur subjektive Kriterien gibt[10].
2 Geschichtlicher Exkurs: Frühere Formen von Laienkritik
Das Phänomen der Laienkritik ist kein gänzlich neues. Drei Epochen in der Geschichte der Literaturkritik sind dazu geeignet, den Gegenstand der Untersuchung zu erhellen und historisch zu kontextualisieren. In ihnen treten zum Teil ähnliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen auf, wie sie auch im Umfeld der heutigen Entwicklungen zu beobachten sind.
2.1 Friedrich Nicolais „Allgemeine Deutsche Bibliothek“
Die von Friedrich Nicolai gegründete „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ (ADB) gilt als erstes ausschließlich der Literaturkritik gewidmetes mediales Organ. Sie erscheint erstmals 1765 nach Ende des Siebenjährigen Krieges und dann über 40 Jahre hinweg regelmäßig. Ihre wichtigste Funktion sieht ihr Initiator darin, die abgelegenen deutschen Provinzen in die gelehrte Debatte mit einzubinden. Die ADB erreicht die hintersten Winkel der deutschsprachigen Territorien.
Anspruch der ADB war es, einen Überblick über sämtliche erwähnenswerte Bücher zu liefern, die in Deutschland zu der Zeit erschienen - demnach jedes erscheinende Buch zu rezensieren, gleich, welcher Sparte es angehörte. Dafür war ein nach damaligen Verhältnissen ungeheurer Mitarbeiterstab von 150 Rezensenten nötig. Diese nun sollten sich nicht in geschraubten Formulierungen gefallen, sondern explizit „für alle“ schreiben. Nicolai vertrat den aufklärerischen Anspruch, jeder Interessierte solle sich an der öffentlichen Debatte über Literatur beteiligen können.
Die deutsche Sprache ist zur Zeit der Aufklärung großen Veränderungen unterworfen. Gleichzeitig wandelt sich auch der Sprachstil der Rezensionen. Sie nähern sich einer „unterhaltenden, prägnanten, mitunter polemischen Schreibweise an“[11].
Von diesen Anfängen hat sich die professionelle Literaturkritik in Deutschland inzwischen weit entfernt. Im Verlauf der Arbeit wird zu beleuchten sein, ob und inwieweit die Entwicklung hin zur massenhaften Laienkritik im Internet (auch) eine Rückkehr zu den Ursprüngen darstellt.
2.2 Wandel der Literaturkritik in der Weimarer Republik
Die 1920er Jahre gelten als die Hochzeit der deutschen Literaturkritik. Analog zur aktuellen Gegenwart erlebt der Buchmarkt in den 1920er Jahre eine Zeit großer Veränderungen und Modernisierungen.
Eine Flut an Neuerscheinungen ergießt sich über die nach Unterhaltung, aber auch nach Orientierung in Zeiten politischer wie ökonomischer Unsicherheit suchende Leserschaft[12].
Aufgabe der Kritiker wird es in dieser Zeit, bei einer innerhalb von drei Jahren von 18.000 (1924) auf 25.000 Titel angestiegenen Buchproduktion für Orientierung zu sorgen. Eine ähnliche Situation liegt heute bei einer stetig steigenden jährlichen Buchproduktion von aktuell 89.869 Titeln[13] vor. (Zum Vergleich: 1994 betrug die Buchproduktion 70.643 Titel[14] ).
Doch auch der gesellschaftliche Wandel führt damals zu neuen Bedingungen, in denen Literaturkritik operieren muss: Die Angestellten als neue Gesellschaftsschicht füllen den gesamtgesellschaftlichen Bildungsgraben, der zwischen Bildungsbürgertum und Industriearbeiterschaft klafft. Dieses neue Publikum bringt neue literarische Bedürfnisse mit, insbesondere das Bedürfnis nach Unterhaltung und Zerstreuung durch die Produkte der amerikanischen Massenkultur oder deren einheimische Imitate. Das Aufkommen neuer Medien wie Rundfunk, Kino und Grammophon
wecken bei vielen Literatur- und Gesellschaftskritikern Ängste vor Kulturverfall und Nivellierung und stellen zunehmend den Sinn anspruchsvoller Literaturkritik in Frage[15].
Die Massenkultur dominiert zunehmend die Buchkultur der intellektuellen Eliten. Die professionelle Kritik zieht daraus den Schluss, sich verstärkt auch der Trivialliteratur und dem Sachbuch zuzuwenden. Auch werden die Urteile der Kritiker in diesen Jahren subjektiver. Zur schnellen Orientierung wird das Genre der Bestsellerliste erfunden, die zuerst 1927 in der „Literarischen Welt“ veröffentlicht wird. Die Bestsellerliste als eine Möglichkeit der Leser, mit dem Kauf über den Wert der angebotenen Bücher abzustimmen, muss als ein zutiefst demokratisches Instrument der Bewertung betrachtet werden.
In Folge dieser Entwicklungen klagen 1932 in der Wochenzeitschrift „Weltbühne“ Autoren über das mangelhafte Niveau der Buchkritik. Walter Benjamin, führender Intellektueller der damaligen Zeit, rezensiert zeitgemäß ein Heilkräuterbüchlein, welches sich zu dieser Zeit stark verkaufte. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14.6.1931 fordert Walter Benjamin seine Kollegen auf, ganz ähnliche Fragen zu stellen, die sich Literaturwissenschaftler und –kritiker heute bei der Betrachtung der Mechanismen des Literaturbetriebes stellen:
Welchem Umstand verdankt das Werk Erfolg oder Misserfolg? was hat das Votum der Kritik bestimmt? An welche Konventionen schließt es an? In welchen Kreisen sucht es seine Leser?[16].
Benjamin fordert eine
Bescheidung und Gesundung der Kritik, eine Sanierung (...) Ihre Merkmale: unabhängig zu sein von der Neuerscheinung, wissenschaftliche Werke so gut zu betreffen wie belletristische, indifferent gegen die Qualität des zugrundegelegten Werkes zu bleiben[17].
Damit schlägt Benjamin, wie im 7. Kapitel ausgeführt wird, ganz ähnliche Mittel zur Erneuerung der Literaturkritik vor, wie sie heute unter anderem vom Gründer des Kulturportals perlentaucher.de, Thierry Chervel, vorgeschlagen werden. Benjamins Empfehlungen sind heute enorm aktuell. Abschließend kann entgegen aller Bedenken der damaligen Autoren festgehalten werden:
Nie zuvor war die Literaturkritik vielstimmiger, vielfältiger und anspruchsvoller, nie war ihre gesellschaftliche Bedeutung und Wirkung größer als in der Weimarer Republik“[18].
2.3 Volkskritik in der DDR
Die DDR war ein ausgesprochenes Leseland. Grund dafür war die Tatsache, dass die Partei der Literatur eine außergewöhnliche Relevanz beim Aufbau der neuen Gesellschaft zusprach. Daraus folgte eine Entgrenzung der Literaturkritik. Die Beurteilung von Literatur war nicht länger nur Aufgabe von Presse, Rundfunk und literarischen Institutionen, sie wurde auch Aufgabe eines jeden Parteigenossen. So beschloss das Politbüro des Zentralkomitee der SED 1953, die Literaturkritik sei „auch die Sache solcher Organisationen wie FDGB, FDJ, DFD und anderer“[19]. Die Laienkritik erhielt somit in der DDR einen festen Platz, sie wurde als Korrektiv zur professionellen Kritik für notwendig erachtet und vom Regime ausdrücklich gefördert und eingefordert – was für die professionelle Literaturkritik nicht folgenlos blieb.
Für die institutionelle Literaturkritik hat diese Beteiligung von zum Teil mit größtmöglicher Autorität versehenen Laien einen mehr oder weniger großen Autoritätsverlust zur Folge[20].
In diesem Zusammenhang muss beachtet werden, dass die institutionelle Literaturkritik durch das Vorschalten der Zensur-Instanzen und der häufigen Verquickung der beiden Bereiche miteinander ohnehin einen Bedeutungsverlust beziehungsweise eine Umdeutung erfuhr. Dennoch ist der Autoritätsverlust der professionellen Kritik durch den Bedeutungszuwachs der Laienkritik eine Folge, die sich auch als Resultat der aktuellen Veränderungen beobachten lässt.
3 Wirtschaftlicher Exkurs: Wachsende Bedeutung des Internet für Buchhandel und Verlagswesen
Die Bedeutung des Internet für Buchhandel und Verlagswesen wird seit 1992 vom „Arbeitskreis elektronisches Publizieren“ (AKEP) erfasst. Das jährlich publizierte Branchenbarometer erhebt für 2004, dass 80% aller Verlage eine „zunehmende zukünftige Bedeutung des Internet-Buchhandels“ prognostizieren, ihre bisherigen Erwartungen sehen 95% der Verlage als erfüllt an. In allen Bereichen des elektronischen Publizierens wird außerdem das Publizieren im Internet als „größtes Wachstumsfeld“ betrachtet, und das vor allem von großen Verlagen mit über 100 Mitarbeitern. Hier gaben 96% an, die Bedeutung des Online-Publishing als zunehmend einzuschätzen[21]. Die Verlagsbranche ist also von zunehmenden Wichtigkeit des Internets überzeugt und beobachtet die technischen Entwicklungen sehr genau.
Experten gehen von einem Gesamtvolumen des Internetbuchmarktes von einer halben Milliarde Euro aus, das entspricht etwa 5% des gesamten Buchmarktes. Der Internet-Buchändler Amazon repräsentiert nach Schätzungen 55% des Online-Buchmarktes in Deutschland. Genaue Zahlen sind nicht zu erhalten, da der Marktführer Amazon seinen Umsatz in Deutschland nicht veröffentlicht.
Die Tendenz für den Marktanteil des Internetbuchhandels ist stark steigend, so erwarten Experten für 2010, dass der Anteil des Online-Geschäfts von heute rund fünf Prozent auf 20 Prozent gestiegen sein wird.
Nach einer Umfrage von September 2005 ordern 18,1 % der Befragten mehr als die Hälfte ihrer Bücher im Internet. Weitere 15,2 % kaufen alle oder fast alle Bücher im Internet. 21,0 % der Befragten gaben zudem an, ihre Bücher etwa zur Hälfte im Ladengeschäft oder im Internet zu kaufen[22].
Zudem gaben die Verlage an, dass auch das Direktgeschäft wächst, was darauf schließen lässt, dass sich die Leser im Internet informieren, um anschließend direkt beim Verlag zu bestellen, unter Umgehung des Buchhandels.
Dieses Informieren geschieht nicht nur mittels der Werbetexte der Verlage, sondern vor allem durch die glaubwürdigeren Leserkritiken, die im Internet zu finden sind. Damit sind Kundenkritiken als kostenarmes Werbeinstrument tatsächlich bares Geld wert.
Die Verschiebung eines Teils der literarischen Öffentlichkeit auf die Seiten der Literaturforen und Internetbuchhändler ist für den Internetbuchhandel und die Verlage ökonomisch sehr bedeutsam. Denn der Verkaufserfolg eines Titels steigt zumeist mit der medialen Aufmerksamkeit, die er bekommt. Diese ist im Internet schneller, leichter und billiger zu erhalten, wie auch sichtbar zu machen. Damit nimmt die wirtschaftliche Relevanz einer Internet-Kundenkritik im Vergleich zu den ausführlichen Kritiken des klassischen Feuilletons deutlich zu. Seit einer Weile monieren die Verlage, dass sich eine positive Rezension im Feuilleton selbst der überregionalen Medien kaum noch auf die Verkaufszahlen des Titels niederschlägt. In der Konsequenz suchen die Verlage nach effektiveren Strategien, ihre Produkte zu bewerben, wodurch sie den Zeitungen wiederum als Anzeigen-Kunden verloren gehen. Das fehlende Budget führt zu einer weiteren Einschränkung der feuilletonistischen Berichterstattung: Die Dynamik verstärkt sich.
[...]
[1] Michael Braun: Denker ohne festen Wohnsitz in der sekundären Welt. Über alte und neue Legitimationsprobleme der Literaturkritik. In: Norbert Miller, Dieter Stolz: Positionen der Literaturkritik. Sprache im technischen Zeitalter, Sonderheft. Köln, 2002.
[2] Theodor W Adorno: Zur Krisis der Literaturkritik. In: Ders.: Gesammelte Schriften in 20 Bänden. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main, 1974. Bd.11: Noten zur Literatur. S661.
[3] Walter Boehlich: Autodafé. In: Beilage, Kursbuch 15, Frankfurt am Main,1968.
[4] Thomas Anz, Rainer Baasner: Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis. München, 2004.S. 189.
[5] Anz/Baasner: Literaturkritik S. 188.
[6] Gunther Nickel: Kaufen! Statt Lesen! Literaturkritik in der Krise? Göttingen, 2005.S. 46.
[7] ebd.
[8] Meike Blatnik: Literaturkritik heute. Eine Bestandsaufnahme. In: Norbert Miller, Dieter Stolz: Positionen der Literaturkritik. Sprache im technischen Zeitalter, Sonderheft. Köln, 2002. S.25
[9] Oliver Pfohlmann: Kleines Lexikon der Literaturkritik. Online-Publikation 2003. http://www.literaturkritik.de/public/online_abo/Lexikon_Kritik.php
[10] vgl Oliver Pfohlmann: Kleine Lexikon der Literaturkritik.
[11] Anz/Baasner: Literaturkritik. S.36.
[12] ebd. S. 116.
[13] Deutsche Nationalbibliografie, VLB 2005 Erstauflagen und Neuauflagen. Berechnungen: Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V.
* ebd.
[14] Quelle: Börsenverein des deutschen Buchhandels e.V.
[15] Anz/Baasner: Literaturkritik, S. 117.
[16] Benjamin, Walter: Zur Literaturkritik. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main, 1972. Bd.4: Fragmente vermischten Inhalts. S.164
[17] Anz/Baasner: Literaturkritik, S.119.
[18] Anz/Baasner: Literaturkritik, S. 119.
[19] Oliver Pfohlmann: Literaturkritik in der DDR. In: Thomas Anz, Rainer Baasner: Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis. München, 2004. S.146.
[20] Ebd., S. 147.
[21] Arbeitskreis Elektronisches Publizieren: Branchenbarometer 2004. Börsenverein des deutschen Buchhandels e.V.
[22] Quelle: ECC Handel, September 2005
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