In Anbetracht des sinkenden Vertrauens der Bürger in die politischen Institutionen, vor allem aber in die politischen Akteure und dem steigenden Anspruch an wichtigen politischen Entscheidungen direkt beteiligt zu werden, stellt sich die Frage, ob und warum direktdemokratische Elemente von der Kommunal- und Landesebene auf die Bundesebene ausgeweitet werden sollten und wieso dieses bisher noch nicht geschehen ist.
Die, seit den 1990er Jahren, immer größer werdende Unzufriedenheit der Bürger in Verbindung mit der Forderung nach mehr direkter Demokratie Deutschland ( Trendbuch, Fakten und Orientierungen, Korte / Weidenfeld (2001) S.573 ff.) sind Ausdruck einer Auseinandersetzung, bei der das Volk nicht mehr bereit zu sein scheint, der politischen Klasse weiter den bisher gewährten Handlungsspielraum einzuräumen, sondern vielmehr eine Rückbindung der Politik an die Wünsche und Interessen der Bevölkerung fordert. Die Frage nach der Ausweitung der direkten Demokratie, ist also gleichzeitig die Frage nach der Effizienz der repräsentativen Demokratie und der politischen Klasse. Sind direktdemokratische Institutionen in der Lage das Vertrauen der Bürger in den Staat wiederherzustellen und neue Ansätze zur Lösung wichtiger politischer Probleme zu liefern?
Im Folgenden werde ich mich dem Begriff politische Klasse nähern und die damit einhergehenden Problemstellungen erläutern. Daran anschließend werde ich auf die direkte Demokratie eingehen und versuchen den Zusammenhang zwischen den aus der Existenz der politischen Klasse resultierenden Problemstellungen und der Forderung nach mehr direkter Demokratie herzustellen. Durch den Vergleich der Vor- und Nachteile einer Ausweitung direktdemokratischer Elemente wird klar werden, inwiefern direktdemokratische Institutionen auf Bundesebene sinnvoll sind und wozu sie zu leisten im Stande sein könnten.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Differenzkonstruktion und Integration
3. Der Universalismus in Frankreich
3.1 Migration und Integration nach universalistischen Prinzipien
3.2 Die Unterscheidung von Nation, Citoyen und Staat
4. Die Kopftuch-Debatte
5. Die Verfassungsänderung hinsichtlich der Geschlechterparität
5.1 Der kontextuelle Rahmen der Debatte
5.2 Die Verfassungsänderung
6. Differenz und Universalismus im Widerstreit
6.1 Die zugrundeliegenden theoretischen Denkrichtungen
6.1.1 Identitätspolitik am Beispiel Kanada
6.1.2 Dekonstruktion
6.2 Unterschiede und Gemeinsamkeiten
7. Schluss
8. Literaturverzeichnis:
Internetquellen:
1. Einleitung
Das Thema Differenz und Vielfalt bietet ein vielseitiges und breites Themenfeld. Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in soziologischen, politischen und allgemein wissenschaftlichen Diskursen ist Differenz ein vieldiskutierter Begriff.
Im folgenden Text werde ich mich mit Differenzbildungen innerhalb der französischen Gesellschaft befassen. Am Beispiel der französischen Staatsbürgerschaft werde ich untersuchen, inwiefern die instrumentellen und formellen Formen der Integration Möglichkeit zu politischer Partizipation bieten. Mein Ziel ist es zu untersuchen, wie viel Spielraum das französische Staatssystem, dessen Prinzipien auf Laizismus und Universalität beruhen, für die politische Anerkennung von Differenzen bietet.
2. Differenzkonstruktion und Integration
Die Geschichte Europas ist geprägt von Prozessen der Zuwanderung, der dauerhaften Niederlassung von MigrantInnen verschiedener Herkunft und verschiedenen Typs, zu denen insbesondere ArbeitsmigrantInnen, Flüchtlinge und Asylsuchende, ZuwandeInnen aus den ehemaligen Kolonien und ethnisch als „zugehörig“ betrachtete MigrantInnen gehören. Dieser gesellschaftliche Wandel wirft immer mehr Fragen zum Selbstverständnis der westlichen Gesellschaften auf und zu ihrem Umgang mit Zuwanderung, kultureller Vielfalt und Differenz, die unter dem Stichwort der „Integration“ behandelt werden. Der Politologe Axel Schulte versteht unter Integration zunächst die Eingliederung der Immigranten in die jeweiligen Aufnahmegesellschaften. „Dabei geht es vor allem darum, die auf Zuwanderungen zurückgehende Anwesenheit der ‚Fremden’ in den Tatbestand ihrer Zugehörigkeit zu verwandeln.“ (Schulte, 2005, S. 91) Mit dem Begriff der Integration kann sowohl ein dynamischer Prozess als auch ein angestrebtes Ziel gemeint sein. Er plädiert für ein Verständnis von Integration, das darauf abzielen soll, Zuwanderern eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unter Respektierung kultureller Vielfalt zu ermöglichen. Es sind aber nicht nur die Immigranten von den Prozessen der gesellschaftlichen Veränderung betroffen, sondern auch die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, die selbst durch Heterogenität ihrer einzelnen BürgerInnen gekennzeichnet ist. Die Prozesse der Integration werden von der Wechselbeziehung zwischen Mehrheitsgesellschaft und Zuwanderern beeinflusst, die jedoch von Machtunterschieden und sozialen Ungleichheiten geprägt sind.
Die Politik wird als wichtiges Instrument zur Integration verwendet, um gesellschaftliche Verhältnisse zu gestalten, soziale Probleme zu bewältigen und Konflikte zu regulieren. Je nach Staat sieht die Integrationspolitik verschieden aus, da, so Schulte, in jedem Land verschiedene politische Kulturen den Diskurs beeinflussen.
In meiner Untersuchung gehe ich von der Tatsache aus, dass Integration nicht nur Zuwanderungsprozesse betrifft, sondern auch die dem Staat und der Nation inhärente Vielfalt, die durch Faktoren wie Religion, Geschlecht, soziale Unterschiede, Alter, sexuelle Orientierung oder Behinderung hergestellt wird. Im Folgenden werde ich näher auf den Integrationsprozess in Frankreich eingehen und untersuchen, wie, infolge der Konzipierung des Staatsbürgerstatus (citoyen), die universalistischen Prinzipien die französische Integrationspolitik bestimmen. Die strikte Trennung von öffentlicher oder politischer und privater Sphäre, die seit der Aufklärung die bürgerlich-liberale Ordnung markiert, steht dabei im Zentrum meiner Untersuchung. Diese Trennung hat zum Ziel, dass Menschen jenseits von Differenzen als Individuen gleichbehandelt werden sollen, d.h. unter Abstraktion von ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion, sexueller Orientierung, Alter, Behinderung etc. Historisch gesehen ist diese Trennung auf die Französische Revolution zurückzuführen, deren Ziel die Abschaffung des Untertanenstatus war. Mit der Loslösung vom Ständesystem wurde der Gesellschaftsvertrag eingeführt, der ein unmittelbares Verhältnis von Bürger zu Staat schuf. Aus dem Vertrag ausgeschlossen waren jedoch Frauen, Lohnabhängige, Männer unter 25 und Kinder. Frauen und die Familie wurden nicht dem öffentlichen Bereich, sondern der privaten Domäne zugeordnet. Erst im Jahre 1944 wurde das Wahlrecht für Frauen in Frankreich eingeführt, das sie zu gleichberechtigten citoyennes in der Öffentlichkeit Frankreichs machte. Nira Yuval-Davis vertritt in ihrem Text Theoriebildung zu Geschlecht und Nation die Auffassung, dass Diskurse um die Nation eng mit gesellschaftlichen Konstruktionen von „Männlichkeit“ oder „Weiblichkeit“ verknüpft sind.
„Seit Frauen die nationale Bühne betreten haben als diejenigen, die die Nation kulturell und biologisch reproduzieren und ihre Werte überliefern, sind auch der Inhalt und die Grenzen von Ethnizität und Nation neu definiert worden.“ (Yuval-Davis, 2001, S. 13)
Ihre Untersuchung der geschlechtlichen Bedingtheit von nationaler Reproduktion, Nationalkultur, nationaler Staatsbürgerschaft und von Militarismus und Kriegen zeigt, dass Integrationspolitik – sofern sie staatsgebunden ist – nicht ohne die Einbeziehung der Kategorie Geschlecht zu denken ist. Dieser Umstand steht im Widerspruch mit den allgemeinen und universalistischen Prinzipien der französischen Republik, für die jegliche Form der Gruppenidentität politisch irrelevant ist. Es kreiert ein Spannungsverhältnis zwischen Differenzansprüchen möglicher benachteiligter Gruppen und dem Postulat der Universalität. Im Folgenden werde ich versuchen, dieses antagonistische Verhältnis am Beispiel der öffentlichen Debatte um das Kopftuch in staatlichen Schulen und um die Geschlechterparität im französischen Parlament zu illustrieren. Im Laufe dieser Debatte haben sich unterschiedliche feministische Positionen zu Wort gemeldet, denen hauptsächlich zwei theoretische Denkströmungen zugrunde liegen. Zum einen werden identitätspolitische Ansprüche auf Gruppenrepräsentanz gestellt. Sie vertreten eine Auffassung von gruppen-differenzierter Staatsbürgerschaft, die sich an Konzeptionen anlehnt, die mit multikulturalistischen Staatssystemen wie z.B. in Kanada vergleichbar sind. Zum anderen werden dekonstruktivistische Forderungen nach einer radikaleren Demokratie gestellt, die sich auf poststrukturalistische Theorien berufen und zum Ziel haben, das einzelne Subjekt in den Vordergrund zu stellen, um der Heterogenität der Gemeinschaft gerecht zu werden. Mein Ziel wird es sein, diese Überlegungen zu erörtern und sie mit den Positionen der VertreterInnen des Universalismus in Verbindung zu bringen, um zu prüfen, inwiefern die jeweiligen Positionen kompatibel miteinander sein könnten und worin sie sich unterscheiden.
3. Der Universalismus in Frankreich
In ihrem Buch Entgrenzte Räume behandelt Christine Bauhardt neben der Analyse von Raumplanung im Kontext von Theorie und Politik auch die Frage nach politischer Partizipation von Frauen (Bauhardt, 2004a). Ich werde im Folgenden näher auf Bauhardts Untersuchung des Spannungsverhältnisses zwischen Universalismus und Differenz eingehen und diese Divergenz an ihrem Beispiel der öffentlichen Diskussion um das Kopftuch (Bauhardt, 2004b) und der um die Geschlechterparität (parité) im französischen Parlament veranschaulichen. Bauhardt illustriert an diesen Beispielen, dass in der französischen Öffentlichkeit die Kategorien „Religion“ und „Geschlecht“ ausgiebig diskutiert wurden und sowohl von wissenschaftlichen Diskursen als auch von Medien und PolitikerInnen als politischer Gegenstand verstanden und behandelt wurden. Ihre Besonderheit zeichnet sich durch die Problematik aus, welche die Einführung der Kategorien „Religion“ und „Geschlecht“ in die französischen universalistischen Prinzipien mit sich bringt: Die Schwierigkeit liegt in der Differenzkonstruktion, also der Unterscheidung von Laizismus und Religion oder von Männern und Frauen in der Politik, da sie mögliche politische Konsequenzen für die staatstheoretische Leitlinie der Französischen Republik nach sich ziehen können, die jedoch allen Individuen universalistische Gleichheit unterstellt (Bauhardt, 2004a, S. 66). Die Forderungen nach dem möglichen Tragen religiöser Symbole in staatlichen Schulen und nach Geschlechterparität in der Politik zur Garantie der gleichberechtigten Repräsentation von Frauen und Männern wurden aufgrund dieser Universalismus-Problematik kontrovers diskutiert. Hierzu zeigt Bauhardt unterschiedliche feministische Perspektiven auf, die ich im Folgenden genauer betrachten möchte. Vorerst werde ich aber Bauhardts Interpretation der universalistischen Prinzipien Frankreichs am Exempel der Migration und der sozialen Integration beschreiben, die den Hintergrund ihrer Analyse darstellt.
3.1 Migration und Integration nach universalistischen Prinzipien
Bauhardt beschreibt Frankreichs Regelungen für die Einwanderung im Vergleich zu Deutschlands Verfahrensweisen als besonders „Fremden“-freundlich: „Während das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht als restriktives Einwanderundsverhinderungsrecht gilt, können die Einwanderungsregelungen des französischen Staates als relativ großzügig und durchlässig charakterisiert werden.“ (Bauhardt, 2004a, S. 68) Diese Offenheit hat vor allen Dingen historische Gründe: Neben der staatlich geförderten Arbeitsmigration bis ins Jahr 1974 und dem großen Einwanderungsbedarf aus den ehemaligen Kolonien, bot die Gesetzgebung politisch Verfolgten die Möglichkeit, politisches Asyl zu beantragen. Die Einbindung spezieller Migrations- und Integrationsrechte in die Verfassung bietet viele Vorteile bei der Staatsbürgerschaftsregelung, wie zum Beispiel auch das Prinzip des Ius soli, das auch „Territorialprinzip“ genannt wird. Nach diesem Prinzip haben alle neugeborenen Kinder, die das Licht der Welt auf französischem Staatsgebiet erblicken, das Recht, Ansprüche auf die französische Staatsbürgerschaft zu erheben.
Die Einwanderungsregelungen wie auch die Regelungen für die Staatsbürgerschaft richten sich nach den universalistischen Prinzipien der französischen Verfassung, welche das Individuum als solches in den Vordergrund stellen. Das Individuum wird vom Staat und durch das Gesetz unabhängig von ethnischer Herkunft, Religion oder Sexualität behandelt. Der Wille des Individuums, sich einer Nation zugehörig zu fühlen und sich dazu zu bekennen, ist konstitutiv für die nationale und die soziale Integration. Die Identifikation mit Gruppendifferenzen findet dagegen keine politische Anerkennung. Jedes Individuum bewegt sich im politisch-öffentlichen Raum, und da ethnische Herkunft, Religion, Sexualität und alle weiteren Besonderheiten als politisch irrelevant betrachtet werden, werden sie als Privatangelegenheit von der politischen Öffentlichkeit ausgeschlossen.
Diese Integrationsprinzipien sind Teil eines staatstheoretischen Konzeptes – dem Universalismus –, das auf der Unterscheidung von citoyen, Nation und Staat basiert. Seine Entwicklung ist auf die Zeit der Französischen Revolution (1789 – 1799 n. Chr.) zurückzuführen, als die Festlegung einer universellen und normativen Gleichheit aller Individuen dem Einzelnen Schutz gegenüber den hegemonialen Ansprüchen von Aristokratie, Orden oder Zünften bieten sollte. Das Individuum war keinem gottgewollten Herrscher mehr unterstellt und auch nicht mehr Leibeigener eines territorialen Machthabers, sondern es war direkt mit der staatlichen Administration verbunden. Das galt sowohl für Staatsangehörige als auch für Ausländer: Vor dem Gesetz und durch das Gesetz waren alle gleich. Ethnische und kulturelle Verschiedenheit und Gruppenzugehörigkeit galten schon immer als politisch und juristisch irrelevant.
3.2 Die Unterscheidung von Nation, Citoyen und Staat
Bauhardt geht auf die drei wesentlichen Bestandteile der französischen Republik näher ein: Die Nation, die Gemeinschaft der citoyens und den Staat. Und sie beschreibt die wechselwirksame Beziehung der drei Begriffe in ihrem staatstheoretischen Kontext. Sie erläutert Dominique Schnappers Vorstellung, dass allen Menschen – trotz ihrer Vielfalt – dieselbe Vernunft und derselbe Wunsch nach Freiheit inne wohne (Bauhardt, 2004a, S. 69). Der Begriff der Nation ist als politische Einheit zu verstehen, der Traditionen, Werte und Institutionen umfasst. Der Begriff impliziert ideologische, politische und territoriale Einheiten und unterscheidet sich vom Staat durch seine, die rein rechtliche Ebene übersteigende, emphatisch aufgeladene Bedeutungsebene. Dieser Einheitlichkeit der Nation ist die Gemeinschaft der citoyens immanent. Das französische Wort citoyen ist nicht eins zu eins übersetzbar mit dem deutschen Begriff des Staatsbürgers. Er ist, wie gesagt, etwas mehr als nur ein juristischer Operator. Bauhardt spricht hier vom „politischen Subjekt“ bzw. „Bürger“ (Bauhardt, 2004a, S. 70) Der citoyen ist ein rein politisches Wesen, das gegenüber dem staatlichen oder ökonomischen System neutral ist. Er agiert im politisch öffentlichen Raum. Demgegenüber steht der Begriff der Ethnie. Da „Ethnizität“ keine politische Organisation erfährt, sondern auf einen scheinbar natürlichen Ursprung zurückgeführt wird, liegt sie außerhalb des politisch oder juristisch greifbaren Raumes und wird als nicht-politisch deklariert. Der Staat wiederum wird verstanden als das „Instrument der Nation.“ (Bauhardt, 2004a, S. 70) Er vereinigt Institutionen, Kontroll- und Zwangsmaßnahmen, die Zusammenhalt nach innen und Handlungsfähigkeit nach außen ermöglichen sollen. Die Bedürfnisse der Gemeinschaft der citoyens legitimieren die Handlungsweisen des Staates.
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- Arbeit zitieren
- Christian Blume (Autor:in), 2003, Politische Klasse oder Direkte Demokratie?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74319
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