Erkenntnis setzt Interpretation voraus. In keiner anderen Wissenschaft ist die Bedeutung und Notwendigkeit der Interpretation aufgrund der Variabilität und Komplexität des unscharfen Gegenstandsbereichs so hoch anzusehen, wie in den Sozialwissenschaften. Interpretation ist jedoch subjektabhängig. Der Forscher muss eine Vielzahl von Entscheidungen treffen, um sich der Wahrheit anzunähern. Zu diesen Entscheidungen gehört auch die Auswahl der Perspektive. Gemeint sind hierbei zum einen explizite und auch implizite Annahmen über den Untersuchungsgegenstand. Der Forscher kann sich dem Untersuchungsgegenstand nur dann annähern, wenn er apriorische Hintergrundannahmen und Kategorien einbringt, zu denen es immer auch Alternativen gibt (Schulze 2005, 2f.). Zum anderen ist der Beobachtungszeitraum festzulegen. Dieser Schritt ist vor allem bei kausalanalytischen Interpretationen entscheidend, weil bei vielen Kausalmodellen (z.B. kumulativer Natur) dem Auftreten der Ursache nicht unmittelbar auch das Einsetzen der Wirkung folgt, sondern letztere sich mitunter erst nach einiger zeitlicher Distanz zeigt (Blossfeld, 2002, 16f).
Die notwendige Subjektabhängigkeit bei der Interpretation wird also begleitet von einem gewissen Maß an Irrtumswahrscheinlichkeit. Ob sich der Interpret geirrt hat, kann nicht immer eindeutig beurteilt werden. Es gibt jedoch einige wichtige Kriterien, die erfüllt sein sollten. Hierzu zählen unter anderem eine selbstkritische, falsifikationistische Grundhaltung des Interpreten sich selbst und seiner Arbeit gegenüber, die Widerspruchsfreiheit der Interpretation in sich und im Verhältnis zu den ihr zugrundeliegenden Daten, die Komplexität im Sinne der Berücksichtigung einer Vielzahl relevanter Sachverhalte, sowie die Plausibilität der Interpretation. Letzteres stellt zwar ein intuitives, aber ein unverzichtbares Kriterium dar (Schulze 2005, 4).
Äußerst komplex waren nicht nur die kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, sondern auch die Vorgänge, welche zu diesen geführt haben. Samuel P. Huntington bietet eine scheinbar plausible und offensichtliche Erklärung des blutigen Zerfalls der einstigen sozialistischen Bundesrepublik an, indem er ihn als „Kampf der Kulturen“ deutet.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Eine Frage der Perspektive
- 2 Huntingtons Sicht der Dinge
- 3 Die Ausweitung des Beobachtungszeitraums
- 3.1 Jugoslawien vor dem Zweiten Weltkrieg
- 3.2 Zweiter Weltkrieg
- 3.3 Jugoslawien von 1945 bis 1980 – Stabilität unter Tito
- 3.4 Der Zerfall Jugoslawiens nach 1980
- 4. Alternative Erklärung: „Kampf der Kulturen“ als Nationenbildungsprozess
- 5. Offene Fragen
- 6. Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Hausarbeit befasst sich mit dem Krieg in Jugoslawien und hinterfragt die These Samuel P. Huntingtons vom „Kampf der Kulturen“ als Erklärung für den blutigen Zerfall des ehemaligen sozialistischen Staates. Ziel ist es, Huntingtons Interpretation hinsichtlich ihrer Plausibilität, Widerspruchsfreiheit, kritischen Reflexion und Komplexität zu beurteilen.
- Der Einfluss der Perspektive auf die Interpretation sozialer Phänomene
- Die Relevanz des Beobachtungszeitraums für die Analyse von Kausalzusammenhängen
- Die Rolle von Kulturkonflikten im jugoslawischen Krieg
- Alternativer Erklärungsansatz des Krieges als Nationenbildungsprozess
- Bewertung der Gültigkeit von Huntingtons „Kampf der Kulturen“-These
Zusammenfassung der Kapitel
Kapitel 1 beleuchtet die Notwendigkeit und die Schwierigkeiten der Interpretation in den Sozialwissenschaften, insbesondere im Kontext des Jugoslawien-Krieges. Kapitel 2 skizziert Huntingtons Sichtweise und stellt kritische Fragen zu seiner Interpretation. Kapitel 3 erweitert den Beobachtungszeitraum und identifiziert weitere relevante Faktoren, die Huntington nicht berücksichtigt. Kapitel 4 entwickelt eine alternative kausalanalytische Interpretation der Entstehung und der Beschaffenheit der Jugoslawienkriege, die den Krieg als Nationenbildungsprozess versteht.
Schlüsselwörter
Jugoslawien, Krieg, Kulturkonflikt, Nationenbildung, Samuel P. Huntington, Interpretation, Perspektive, Beobachtungszeitraum, Kausalanalyse, Sozialwissenschaften
- Quote paper
- Sebastian Wiesnet (Author), 2007, Krieg in Jugoslawien - Kampf der Kulturen oder Nationenbildungsprozess?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74377