Wie demokratiefähig ist der Islam?


Seminararbeit, 2004

76 Seiten, Note: 2,00


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Was ist Demokratie?

3 Was ist „der“ Islam?
3.1 Etymologische Betrachtung
3.2 Islam als monolithisch existierende Religion?

4 Islam und Demokratie - zwei unversöhnliche Gegensätze?
4.1 Die Abwesenheit von Demokratie in der arabischen Welt
4.2 Ist der Islam eine „politische Religion“?

5 Ursachen der Demokratiedefizite in islamischen Ländern
5.1 Die Defizite aus Sicht der Vereinten Nationen
5.2 Die Armut in der arabischen Welt
5.3 Die Nahostpolitik des Westens
5.4 Der Islam und die Aufklärung

6 Wege zur Demokratisierung
6.1 Das Beispiel Iran
6.2 „Euro-Islam“ als demokratisches Vorbild?

7 Fazit

8 Literaturverzeichnis

9 Anlagen
9.1 Veröffentlichung von Büchern in arabischen Ländern im Ver- gleich zu anderen Regionen
9.2 Anzahl der übersetzten Bücher in arabischen Ländern im Ver- gleich zu ausgewählten anderen Ländern
9.3 Prozentanteil der Bevölkerung mit Zugang zum Internet in ara- bischen Ländern
9.4 Einstellung der Bevölkerung zur Demokratie, autoritärer Herr- schaft und Stand der Gleichberechtigung der Geschlechter
9.5 Interview mit Ali Hossein Montazeri
9.6 Grundsatzerklärung des Zentralrats der Muslime in Deutschland zur Beziehung der Muslime zum Staat und zur Gesellschaft Wie demokratiefähig ist der Islam? Seite 2
9.7 Bewertung der Charta des Zentralrats der Muslime durch das Landesamt für Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen
9.8 Aufsätze zur Exegese des Koran
a) Das heilige Buch des Islams - der Koran
b) Menschenrechte, Religion und Demokratie
c) Ansichtssache Koran
d) Die Religion retten durch Demokratie
e) Den Islam übersetzen
f) Die gottgefällige Freiheit
g) Jungfrauen für die Märtyrer?
h) Der Islam und die Menschenrechte
i) Die Zeit nach den Propheten
j) Das islamische Recht hier und heute

1 Einleitung

Nach den Anschlägen vom 11.September wird der Islam in den westlichen Mas- senmedien immer wieder als eine Religion dargestellt, welche als monolithi- sches Gebilde erscheint und a priori als nicht demokratiefähig gilt. Als Beleg für diese Unvereinbarkeitsthese werden Argumente von westlichen Islam- und Poli- tikwissenschaftlern wie Samuel Huntington angeführt, die die Demokratie als ein spezifisch westliches Phänomen sehen und den Islam auf Grund seiner ge- schichtlichen Entwicklung und religiösen Grundannahmen als eine Kultur be- greifen, welche von einem grundlegend anderen Weltbild als dem des Westens ausgeht. Damit sei der islamische Extremismus „gar keine religiöse oder ideolo- gische Verengung der eigentlichen Lehre des Islam, sondern bereits in dieser angelegt, wenn nicht gar ihre logische Konsequenz“ (Schubert, Wie demokratiefähig ist der Islam, S. 5, a.a.O.) Im Wesentlichen lassen sich die Begründungen dieser These auf zwei Muster zurückführen:

(1) Der Koran und die Sunna1 werden auf Aussagen untersucht, die mit einer Volksherrschaft nicht vereinbar sind. Als Ergebnis wird festgestellt, das im Is- lam Religion und Staat untrennbar miteinander verbunden sind und aus diesem Absolutheitsanspruch zudem abzuleiten ist, dass die nichtdemokratischen Vor- schriften des islamischen Rechtssystems (Scharia2) verbindlich sind.
(2) Mit einer empirischen Untersuchung der gesellschaftspolitischen Verhältnis- se in der islamischen Welt wird belegt, dass keine muslimischen Demokratien existieren.

Die Gegenthese, nach welcher der Islam auch als eine liberale Religion zu sehen ist und eine demokratische Interpretation des Koran und der Sunna zulässt, wurde mir während meiner mehrjährigen beruflichen Aufenthalte im Iran, dem Libanon und Bosnien-Herzegowina von vielen Muslimen vermittelt.

Im Folgenden werde ich versuchen, die Begründungsmuster der Verfechter der Unvereinbarkeitsthese zu relativieren und in der Anlage 9.8 Beispiele für eine demokratische Auslegung der Religion vorstellen. Um deutlich zu machen, dass diese Interpretationen nicht auf einer westlichen Sichtweise des Islam beruhen, wird hier ausschließlich auf Veröffentlichungen muslimischer Autoren zurück- gegriffen.

Der vorgegebene Umfang dieser Untersuchung erfordert Beschränkungen. Ein erschöpfender Diskurs hinsichtlich der Definition des Begriffes Religion und der Frage, ob Religionen ausschließlich ein Gegenstand der Philosophie bzw. ein ganz und gar mystisches Phänomen sind und deshalb nicht mit den jeweiligen empirischen Methoden der Religions- oder Politikwissenschaften analysiert wer- den sollten, kann nicht geleistet werden. Insofern geht diese Untersuchung von der Annahme aus, dass Glaube und politische Weltanschauung nicht voneinan- der abgrenzbar sind, da beiden „eine Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft bzw. zum Ziel menschlichen Lebens zugrunde liegt“ (Jarras/Pieroth, S.156, a.a.O).

Ebenso würde eine Untersuchung des Islam nach den Methoden der Psychologie im Hinblick auf das Phänomen des religiös motivierten Fanatismus, der im Islam besonders ausgeprägt erscheint, aber auch im Christen- und Judentum auftritt, den gesetzten Rahmen überschreiten.

Die Untersuchung berücksichtigt auch nicht die besonderen Verhältnisse in der Türkei sowie den südostasiatischen Länder Indonesien und Malaysia, sondern konzentriert sich auf das Kern- und Ursprungsgebiet des Islam, also auf die arabische Region sowie den Iran.

2 Was ist Demokratie?

Beim Studium der westlichen Fachliteratur zum Thema Vereinbarkeit von Islam und Demokratie fällt auf, dass „der“ Islam eingehend dargestellt und analysiert wird, während der Begriff „Demokratie“ hingegen von vornherein klar zu sein scheint. Vor dem Hintergrund des geforderten Vergleiches der Merkmale des Islam mit denen einer Demokratie, stellt sich die Frage nach einer wissenschaft- lichen Demokratiedefinition, welche universelle Gültigkeit besitzt. Erstaunli- cherweise ist die Antwort: Eine solche Definition gibt es nicht! Es gibt keinen akademischen Konsens darüber, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um einen Staat als Demokratie bezeichnen zu können.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit dem in Artikel 20 veran- kerten Demokratieprinzip - aus dem sich eine Vielzahl von Kriterien ableiten3- ist für die juristische Beurteilung der Verfassungskonformität inhaltlich konkret bestimmbarer Ausprägungen des Islam in Deutschland als Beurteilungsmaßstab geeignet. Um jedoch die generelle Demokratiefähigkeit des Islam zu beurteilen, ist ein Kriterienkatalog erforderlich, der einen Vergleich der wesentlichen religi- ösen Grundaussagen des Islam mit den Anforderungen an eine Demokratie auch im historischen Kontext ermöglicht. Die Anwendung eines Kriterienkataloges, welcher auf dem normativen Gehalt des Grundgesetzes basiert, würde schon die Einordnung aller anerkannten Demokratien der westlichen Welt nicht zulassen. Zudem ist eine klare Demokratiedefinition auf der Basis des Grundgesetzes problematisch, da sich das Demokratieprinzip verfassungsrechtlich teilweise mit dem Rechtsstaatsprinzip und Bundesstaatsprinzips überschneidet (vgl. Jarras / Pie- roth, S. 498, a.a.O).

Die folgende Abstrahierung stellt keine allgemein gültige Definition von Demo- kratie dar, sollte jedoch als Minmialkonsens tauglich sein. Danach gilt ein „Re- gierungssystem als demokratisch, wenn es folgende drei Bedingungen erfüllt:

„(1) Es findet in regelmäßigen Abständen und unter Ausschluss von Gewaltanwendung ein bedeutsamer und weit reichender Wettbewerb zwischen einzelnen Personen und organisierten Gruppen (insbesondere politische Parteien) um alle effektiven Positionen mit Regierungsmacht statt.
(2) Es besteht ein hohes Maß an politischer Partizipation bei der Auswahl von Führern und Politikern, zumindest durch regelmäßige und freie Wahlen und auf eine Art und Weise, dass keine größere (erwachsene) soziale Gruppe davon aus- geschlossen bleibt.
(3) Es ist ein Maß an bürgerlichen und politischen Freiheiten vorhanden - Mei- nungsfreiheit, Pressefreiheit, Assoziationsfreiheit - das ausreicht, um die Integri- tät politischen Wettbewerbs und von Partizipation zu gewährleisten.“ (Diamond, Democracy in Developing Countries, Band 2, S. xvi, a.a.O.)4

3 Was ist „der“ Islam?

3.1 Etymologische Betrachtung

Das Wort ist ein arabisches Verbalsubstantiv und bedeutet „Hingabe“ oder „Un- terwerfung unter Gott“. Es ist etymologisch eng mit dem arabischen Wort für Frieden, salaam, verwandt und bedeutete zurzeit Muhammads „jemanden etwas übergeben“ im Sinne sich selbst Gott zu übergeben und anzuvertrauen (vgl. Ar- koun, S. 34, a.a.O.).

3.2 Islam als monolithisch existierende Religion?

Mit Beginn der Revolution im Iran im Jahr 1979 wird „der“ Islam in den westli- chen Medien als harte und kompromisslose Religion dargestellt, welche als mo- nolithisch auftretende und aggressive Kultur den Weltfrieden bedroht. Zur wis- senschaftlichen Untermauerung des Feindbildes „Islam“ werden durch die west- lichen Massenmedien u.a. Thesen des amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington instrumentalisiert, der 1996 eine islamisch- konfuzianische Allianz gegen den Westen und einen „Clash of Civilizations“ voraussagte, der auf Grund der Neuordnung der politischen Blöcke nach Ende des Kalten Krieges drohte. Im Gegensatz zu der durch die Medien geschürten Meinung, dass der Islam auf Grund seiner Geschichte und religiösen Grundaus- sagen per se demokratieunfähig und gewaltbereit sei, führt Huntington interes- santerweise dieses Argument nur als eine mögliche Ursache auf. Weitere von Huntington genannte, im Wesentlichen politische und soziologische Ursachen, werden meistens nicht angegeben. So führt Huntington hierzu aus (Kampf der Kulturen, a.a.O.):

„Die Islamische Resurgenz ist sowohl ein Produkt als auch ein Versuch der Bewältigung der Modernisierung. Ihre tieferen Ursachen sind dieselben, die generell für Indigenisierungsten- denzen in nichtwestlichen Gesellschaften verantwortlich sind: Urbanisierung, soziale Mobili- sierung, höhere Alphabetisierungs- und Bildungsniveaus, verstärkter Kommunikations- und Medienkonsum sowie erweiterte Interaktion mit der westlichen und anderen Kulturen. Diese Entwicklungen untergraben traditionelle Bindungen an Dorf und Clan und erzeugen Entfrem- dung und eine Identitätskrise.“ (S.179)

„Ein überzeugender Faktor, der vielleicht inner- wie außerislamischen Konflikt erklären kann, ist das Fehlen eines oder mehrer Kernstaaten im Islam.“ (S.432)

„Der Islam ist eine Quelle der Instabilität in der Welt, gerade weil er kein dominierendes Zentrum besitzt.“ [...] Ein letzter und der wichtigste Punkt: Die Bevölkerungsexplosion in muslimischen Gesellschaften und das riesige Reservoir an oft beschäftigungslosen Männern zwischen 15 und 30 sind eine natürliche Quelle der Instabilität und der Gewalt innerhalb des Islam wie gegen Nichtmuslime.“ (S. 433)

Tatsächlich ist „der“ Islam5, wie auch „das“ Christentum, nicht monolithisch. Der Islam gliedert sich wie das Christentum in eine Vielzahl von Glaubenszwei- gen. Neben den beiden Hauptgruppen der Sunniten und Schiiten, welche sich wiederum in weitere Glaubensgemeinschaften aufteilen, existieren weitere Kon- fessionen, die sich wiederum im Laufe der Geschichte von den beiden Haupt- gruppen abgespalten haben und denen sogar teilweise die Zugehörigkeit zum Islam abgesprochen wird (wie z.B. den Drusen im Libanon). Des Weiteren be- finden sich die Gemeinsamkeiten der islamischen Konfessionen in den rund 55 islamisch geprägten Ländern der Welt auf Grund unterschiedlicher nationaler und kultureller Identitäten, Rechtsschulen, Sprachen und verschiedene Formen der spirituellen Mystik, auf einem niedrigen Niveau.

Wie andere Kulturen auch, haben sich die islamischen Kulturen nicht völlig ei- genständig und ohne Kontakt zu anderen Kulturen entwickelt. Die Wandlungen von Kulturen vollziehen sich immer auch durch interkulturellen Austausch und Einfluss. So hat in der Geschichte ein intensiver Kulturtransfer zwischen Europa und der islamischen Welt stattgefunden, der sich im heutigen Informations- und Kommunikationszeitalters noch intensivieren wird. Insofern hat es nie starre Kulturblöcke, wie von den Anhängern Huntingtons behauptet, gegeben. Letzt- endlich begeben sich die Vertreter des „Clash of Civilizations“ auf das Niveau der Islamisten, deren Sichtweise von dem syrischen Schriftstellere George Tara- bischi wie folgt beschrieben wird:

„Daraus ergibt sich die kulturelle Forderung des Fundamentalismus nach „Islamisierung“ bzw. „Reislamisierung des Islam“, denn er begreift den „islamischen Zustand“ in der Weise, dass dieser einen absoluten Anfang gehabt habe, und man wünscht sich für ihn einen ebenso abso- luten Endzustand. [...] Daher rührt die Nichtanerkennung sämtlicher Kulturen und Zivilisatio- nen, die der Entstehung des Islam den Weg bereitet haben sowie die Verleugnung der Tatsa- che, dass diese [...] beim Aufbau und bei der Gestaltung der arabisch-islamischen Kultur mit- gewirkt haben. Im Verständnis dieser fundamentalistischen Geschichtsphilosophie ist jeder Gedanke an einen kulturellen Austausch eine Art Götzendienst oder neues Heidentum. (Tara- bischi, S. 76, a.a.O.)

Wenn der Islam trotz seiner religiösen Vielfalt im Westen auf das Phänomen des islamischen Extremismus6reduziert und als „der“ Islam untersucht wird, ist es nicht verwunderlich, wenn der Islamwissenschaftler Prof. Muhammad Arkoun die These aufstellt, dass es im Westen kein wissenschaftliches Verständnis des Islam gibt, sondern man stattdessen von einem „westlichen imaginären Islamverständnis“ sprechen muss:

„Kurz gesagt stellt das Imaginäre eines Individuums, einer sozialen Gruppe oder einer Nation die Ansammlung von Bildern dar, die sich eine Kultur von sich selbst oder einer anderen Kul- tur macht. [...] Das westliche Imaginäre hinsichtlich des Islam ist seit den fünfziger Jahren von den mächtigen und allgegenwärtigen Medien bestimmt worden, die täglich über die turbulen- ten aktuellen Ereignisse - nationale Befreiungsbewegungen, Proteste und Revolten in den zahlreichen und unterschiedlichen muslimischen Gesellschaften - berichten. Die Fehleinschät- zung beschränkt sich indes nicht auf die aktuellen Ereignisse. Seit der Entstehung der jeweili- gen Nationalstaaten in den fünfziger und sechziger Jahren sind die Probleme der muslimischen Gesellschaften immer schwieriger und vielfältiger geworden. Aber schon innerhalb dieser kur- zen Dauer hat sich eine schwerwiegende Verwirrung entwickelt, welche die konkrete Gestalt des westlichen Imaginären hinsichtlich des Islam bestimmt: Sämtliche tief greifenden politi- schen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Schwierigkeiten dieser Gesellschaften werden einzig und allein mit dem Islam in Verbindung gebracht, der auf diese Weise eine ein- und ü- berdimensionale Rolle erhält. [...] An dieser Stelle kann man Wesen und Funktionsweise der westlichen Medien beobachten: Sie übertragen, ohne eine kritische Intervention durch die So- zialwissenschaften, die monolithische, fundamentalistische Sicht vom Islam, die das muslimi- sche Imaginäre von heute dominiert, auf einen dem sozialen Imaginären der westlichen Länder genehmen Diskurs.“ (Arkoun, S. 18, a.a.O.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Verbreitung des Islam und Anteil der Muslime in der Bevölkerung (Quelle: Globus Infografik GmbH)

4 Islam und Demokratie - zwei unversöhnliche Gegensätze?

4.1 Die Abwesenheit von Demokratie in der arabischen Welt

Die Anwendung der o.g. Demokratiedefinition, welche einen Minimalkonsens darstellt, führt zu dem Ergebnis, dass die weit überwiegende Anzahl der Länder in der islamischen Welt nicht als Demokratien einzustufen sind. Für das islami- sche Kern- und Ursprungsgebiet ist zu konstatieren, dass dort kein demokrati- sches Land existiert. Fraglich ist jedoch, ob auf Grund einer sozio-politischen Analyse der wissenschaftliche Beweis erbracht werden kann, dass in Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit eine demokratische Herrschaftsform nicht möglich ist, weil die Bevölkerung dem Islam anhängt. Der Islam kann schon nicht monokausal für die Nichtexistenz von Demokratie im islamischen Kern- und Ursprungsgebiet sein, weil im Vorderen Orient auch säkulare politische Systeme bestehen bzw. bestanden (z.B. im Irak unter Saddam Hussain und in Syrien), in denen der politische Islam keinen Einfluß auf die Entstehung und Aufrechterhaltung der undemokratischen Verhältnisse hatte.

Auch berücksichtigt diese Argumentationslinie nicht, dass in vielen islamischen Ländern eine politische Denkweise zunimmt, die die These der Islamisten von der Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie mit Argumenten kritisiert, deren Quellen gerade der Koran und die Sunna sind. Die iranische Friedens- nobelpreisträgerin Schirin Ebadi sei hier als nur eine von weiteren muslimischen Intellektuellen angeführt, die den Islam demokratisch interpretieren.

4.2 Ist der Islam eine „politische Religion“?

Neben den oben angeführten Differenzierungen nach Konfessionen sollte der Begriff „Islam“ auch unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, dass dieser - wie jede andere Religion auch - als etwas verstanden werden muss „was sinn- stiftend und gemeinschaftsbildend den Menschen einen emotional verankerten Sinn ihres Tuns und Lebens zu erkennen, sowie Ängste, Not und Gefahren zu verbannen verheißt.“ (Nohlen (Hrsg), S.431, a.a.O) und somit neben einer rein religi- ösen Perspektive auch eine politische Dimension besitzt. Diese politische Di- mension des Islam ist - im Gegensatz zum Christentum, welches angeblich in sich die Trennung von Staat und Religion birgt - als die eigentliche Ursache für das Misstrauen gegenüber dem Islam festzustellen. Die völlig aufgehobene Trennung von religiöser und weltlicher Sphäre, so der Vorwurf, sollen die mas- sive Politisierung der Religion zur Folge haben und den Islam a priori nicht mit einer Demokratie kompatibel machen. Als Beleg werden neben Aussagen des Koran, der Sunna und des Hadith7, auch die geschichtliche Entwicklung ange- führt. So führt Huntington aus: „Noch mehr als das Christentum ist der Islam

eine absolutistische Religion. Er verschmilzt Religion und Politik und zieht einen klaren Trennungsstrich zwischen den Menschen im Dar al-Islam8und denen im Dar al-harb.“

Die Methode, die Demokratieuntauglichkeit des Islam zu beweisen, indem man vermeintlich demokratiefeindliche Passagen im Koran aufspürt, erscheint frag- würdig. So ist empirisch bewiesen, dass Religion schon immer zur Legitimie- rung von Macht und Gewalt benutzt worden ist. Ein Exkurs in die Geschichte des Christentums macht dies deutlich: So war bei den Kreuzzügen das religiöse Element (Motto: „Gott will es!“) vom politischen kaum zu unterscheiden (eben- so bei den islamischen Eroberungskriegen). Im staatskirchlichen System bedien- te sich die kaiserliche Macht der religiösen Legitimation; im kirchenstaatlichen funktionalisierte die religiöse Gewalt die weltliche Herrschaft für ihre Interes- sen.

Erst 1965, mit dem II. Vatikanischen Konzil, hat z.B.die katholische Kirche die Trennung von Kirche und Staat voll akzeptiert. Tatsächlich wurde die Trennung jedoch weder von kirchlicher noch von staatlicher Seite bis heute konsequent vollzogen. In Deutschland wird dies u.a. dadurch deutlich, dass Religion als or- dentliches Lehrfach gilt, Kirchensteuer vom Staat eingezogen wird, bestimmte Religionsgemeinschaften den Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten und in bayrischen Schulen auf staatliche Anordnung Kruzifixe aufge- hängt werden. Im Mutterland der Demokratie ist sogar das Staatsoberhaupt zugleich religiöses Oberhaupt der anglikanischen Staatskirche. Ein Blick in die Vereinigten Staaten von Amerika zeigt, dass der Präsident vor Beginn von Ka- binettssitzungen die versammelten Minister zum gemeinsamen Beten auffordert und jede Dollarnote die Aufschrift „In Good We Trust“ trägt, obwohl sich die USA einer strikten Trennung von Staat und Religion rühmen.

Im Übrigen ist die wörtliche Auslegungsmethode fragwürdig, weil die Schriften aller monotheistischen Religionen aus einer Zeit stammen, in der das heutige Demokratieprinzip nicht bekannt war. Es wäre ein leichtes, anhand dieser Inter- pretationsweise auch die Thora und Bibel als nicht demokratiekompatibel einzu- stufen.

Die vermeintliche Trennung von Staat und Kirche im Christentum wird nach wörtlicher Auslegungsmethode - welche überwiegend auch von den Anhängern des politischen Islam bei Interpretation des Koran angewandt wird - auf den Satz „Gib Gott was Gottes, und dem Kaiser, was des Kaisers ist“ (Markus, 12, 17 und Lukas, 20, 25) zurückgeführt. Eine Interpretation dieser Worte Jesu im histori- schen Kontext kann jedoch laut Mohammed Arkoun auch zu dem Ergebnis füh- ren, dass hier die Legitimität der römischen Besatzungsmacht in Frage gestellt wird:

„Wir können diesen Ausspruch nur dann richtig verstehen, wenn wir uns vor Augen halten, dass sich Palästina zurzeit Christi unter römischer Herrschaft befand. Die politische Ordnung unterstand dem Römischen Reich, und es gab einen römischen Statthalter in Palästina, der die legitime und legale Autorität repräsentierte - wenn ich hier von Legitimität spreche, meine ich natürlich den Standpunkt Roms. Dies brachte es mit sich, dass die religiöse Macht keinerlei politische Initiative ergreifen konnte, ohne sich dabei auf Rom zu berufen. In diesem Kontext bestand die einzige Möglichkeit eines religiösen Menschen, Anspruch auf eine wie auch im- mer geartete Autorität zu erheben, in einer völligen Beschränkung auf die geistige und religiö- se Ebene. Unter solchen Umständen zielten die Worte Jesu darauf ab, das spirituelle Vorrecht einzufordern, das den Propheten oder der jüdischen priesterlichen Autorität, wie sie in der jü- dischen Synagoge ausgeübt wurde, zukam. Indem er so vorging, konnte Jesus zwei entschei- dend wichtige Dinge bewirken. Auf der einen Seite vermied er es, die römische politische Macht direkt zu attackieren, andererseits warf er implizit die Frage ihrer Legitimität auf, da diese Macht nicht auf der spirituellen Autorität Gottes basierte, der in der Person Christi geof- fenbart wurde.“ (ARKOUN, S. 39, a.a.O)

Die Widersinnigkeit der wörtlichen Auslegung von religiösen Texten wird be- sonders deutlich bei den Bibelworten „Petrus aber und die Apostel antworteten und sprachen: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Apostelge- schichte 5,29). Die wörtliche Interpretationsmethode kommt hier zu einem Schluss, welcher im genauen Gegensatz zu den o.g. Bibelversen Markus, 12, 17 und Lukas, 20, 25 steht: Es wird ein illoyales Verhalten der Christen gegenüber staatlicher Autorität gefordert.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass weder die vermeintlich demokratiefeindlichen Aussagen des Koran bzw. der Sunna, noch die Tatsache, dass im vorderen Orient keine muslimischen Demokratien bestehen, als Begründungsmuster für die These der Unvereinbarkeit des Islam mit einer demokratischen Regierungsform tauglich sind. Es bleibt die Frage, worin dann die Ursachen für die Demokratiedefizite in islamischen Ländern zu suchen sind und ob der Koran und die Sunna demokratisch interpretiert werden können?

5 Ursachen der Demokratiedefizite in islamischen Ländern

5.1 Die Defizite aus Sicht der Vereinten Nationen

Die Vereinten Nationen sind im Jahr 2003 in einem Bericht zu Bildung, Wissen- schaft und demokratischer Entwicklung in der arabischen Welt zu dem Schluss gekommen, dass die Region im Vergleich zur westlichen Welt immer weiter zurückfällt (UN Arab Human Development Report, a.a.O). Bezüglich der Anzahl der veröffentlichten Bücher, der Patentanmeldungen, der Steigerung der Produktivi- tät und des Einkommenszuwachses bilden die arabischen Länder das Schluss- licht im internationalen Vergleich. Der Report - der ausschließlich von arabi- schen Wissenschaftlern erstellt worden ist - führt diese Entwicklung im Wesent- lichen auf eine Hauptursache zurück: Die arabischen Regime billigen den Men- schen nicht nur keine individuelle und politische Freiheiten zu, sie versperren auch den Weg zu einer Bildung, welche Zukunftsperspektiven eröffnet. Das Ausmaß der Rigidität, mit welcher die arabischen Herrscher und die von ihnen instrumentalisierten Glaubenswächter den offenen Umgang mit Bildung und Kreativität unterdrücken, wird bei der Anzahl der Übersetzungen von Büchern und der Zugangsmöglichkeiten zum Internet deutlich: In der gesamten arabi- schen Welt werden jährlich gerade einmal 330 Bücher übersetzt (vgl. Anlage 1 u. 2 im Anhang) und dem Großteil der Bevölkerung bleibt die Informationsbeschaf- fung über das Internet verwehrt (vgl. Anlage 3).

Die arabischen Autoren des Berichtes verweisen ausdrücklich darauf, dass diese Einschränkung der Bildungsmöglichkeiten jeder religiösen Grundlage entbehren und zitieren mehrere Koranverse, die belegen sollen, dass der Islam vielmehr eine Religion ist, die den Menschen dränge, Wissen zu suchen (UN Arab Human Development Report, S. 120, a.a.O)9.

Hinsichtlich des Ausmaßes der freiheitlichen Gestaltung der politischen Ord- nungen („Freedom scores - Level of Civil and Political Liberties“), stufen die Vereinten Nationen die Länder der arabischen Region weit unter dem Welt- durchschnitt und noch unter dem der afrikanischen Länder ein (s. Abbildung 2). Auffällig ist, dass die muslimischen Verfasser des UN-Berichtes ihre Kritik an den Herrschaftsstrukturen nur indirekt äußern, was für die fehlende Freiheit in dieser Hinsicht bezeichnend sein mag. Umso deutlicher fällt eine Erhebung der Vereinten Nationen über die Einstellung der arabischen Bevölkerung zur Rolle der Demokratie und der Ablehnung autoritärer Herrschaft sowie zum Stand der Gleichberechtigung der Geschlechter aus: Über 60% der Muslime bezeichnet die Demokratie als beste Regierungsform und 80% lehnen ein autoritäres Herr- schaftssystem ab (vgl. Anlage 4 im Anhang).

Abbildung 2: Ausmaß von Freiheit in der arabischen Welt im Vergleich zu anderen Regionen.10(UN ARAB HUMAN DEVELOPMENT REPORT 2003, S. 28, a.a.O.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

5.2 Die Armut in der arabischen Welt

Oftmals wird als eine wesentliche Ursache für die antiwestliche - und damit auch antidemokratische - Einstellung vieler Muslime die Kluft zwischen dem reichen demokratischen Westen, welcher angeblich gegenüber der armen arabi- schen Welt „imperialistische“ Wirtschaftspolitik betreibt, angeführt. Tatsächlich ist jedoch der Wohlstand innerhalb der arabischen Staaten extrem ungleich ver- teilt. So gehören einige arabische Diktaturen, wie z.B. Saudi-Arabien und Ku- wait, zu den reichsten Ländern dieser Welt, während in anderen Ländern ein Großteil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt. 20 % der 280 Milli- onen Menschen in der arabischen Welt müssen von weniger als 2 US-Dollar täglich leben (s. Abbildung 3). Der Reichtum durch das Öl wurde nicht gleich über die Region verteilt, vor allem aber wurde das Geld nicht in die Wirtschaft und Bildung investiert. Die reichen arabischen Länder investieren einen Teil ihres Geldes in ihre eigene Wirtschaft, ein anderer Teil fließt in den Luxuskonsum der herrschenden Clans oder in den Bau von Moscheen und Koranschulen, der größ- te Teil wird jedoch in die westliche Wirtschaft investiert, um ein Maximum an Profit zu erzielen.

Die Erschaffung eines gemeinsamen arabischen Marktes, geschweige denn eines Solidaritätsfonds, mit dem Ziel die Wirtschaft der ärmeren Länder anzukurbeln, ähnlich wie bei der Schaffung des EU-Binnenmarktes, ist nie ernsthaft in Angriff genommen worden. Die Wirtschaftspolitik des Westens ist also nicht kausal für die Armut vieler arabischer Staaten.

Dass auch die arabische Bevölkerung in erster Linie die innerarabischen sozio- ökonomischen Missstände als Grund für die Armut ansieht, zeigt sich darin, dass eine Vielzahl von Muslimen die versuchte Annektierung des reichen Kuwaits durch Saddam Hussein begrüßt hat. Die Tatsache, dass Saddam Hussein - im Gegensatz zu dem Könighaus der Saudis - sein Herrschaftssystem nicht religiös legitimiert hat und auf säkularer Basis geführt hat, belegt, dass religiöse Motive bei der Begrüßung des Angriffskrieges gegen Kuwait eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Einige arabische Regime spielen jedoch die islamistische Propa- gandakarte aus, um sich selbst zu schützen und die Wut der eigenen Bevölke- rung auf den Westen und die Globalisierung umzulenken.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Geschätzte Armut in arabischen Ländern. (UN ARAB HUMAN DEVELOPMENT REPORT 2003, S. 139, a.a.O.)

5.3 Die Nahostpolitik des Westens

In den letzen Jahrzehnten hat der Westen mit großen finanziellen und - insbe- sondere die USA - auch mit militärischen Mitteln, eine Nahostpolitik betrieben, deren angebliches Hauptziel die Durchsetzung von Menschenrechten und die Installation von Demokratie in der Region gewesen sein soll. Die bisher erziel- ten Erfolge sind dürftig. Fraglich ist, ob der arabischen Bevölkerung mit Gewalt eine Demokratie aufgezwungen werden kann und ob die USA, als das für die Nahostpolitik des Westens maßgebliche Land, tatsächlich dieses Ziel verfolgen. Äußerungen des ehemaligen außenpolitischen Beraters von Jimmy Carter in einem Interview11von 1998 (Le Nouvel Observateur, a.a.O.) lassen den Schluss zu, dass die US-Administration die Unterstützung der Taliban im Kampf gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans lediglich aus politisch-strategischen Über- legungen heraus betrieben hat und eine Demokratisierung des Landes nicht be- absichtigt war. Als weiterer Beleg für die reale Absicht der US-Außenpolitik in der arabischen Welt, nämlich durch eine „Stabilisierung“ der Region die Ölge- schäfte zu sichern und Israel zu schützen, dient die Äußerung des ehemaligen amerikanischen Außenministers Schlesinger: „’Wollen wir ernsthaft die Institu- tionen in Saudi-Arabien verändern? Die kurze Antwort ist: nein. Über die Jahre hinweg haben wir uns darum bemüht, diese Institutionen aufrechtzuerhalten, manchmal auf Kosten von eher demokratischen Kräften, die in der Region vor- handen waren.‘“12

Auch die aktuelle Nahostpolitik der Amerikaner scheint zwiespältig zu sein: Die korrupten, diktatorischen und religiös legitimierten Regime in Kuwait und Sau- di-Arabien werden nach wie vor unterstützt, aber der Krieg gegen den Irak wur- de, nachdem die Argumente „Gefahr durch irakischen Massenvernichtungsmit- tel“ und „Saddam Hussein kooperiert mit Bin Laden“ nicht mehr griffen, mit der beabsichtigten Demokratisierung des Landes begründet. Es ist zu konstatie- ren, dass es „kein einziges Beispiel dafür gibt, dass Ansätze von Demokratie von außen in der Region gefördert wurden, dass die Werte westlicher Industriestaa- ten wie Pluralismus, Meinungsfreiheit und Schutz der Menschenrechte als Richtschnur ihrer Beziehungen mit den Staaten im Mittleren und Nahen Osten glaubhaft zugrunde gelegt hätten.“ (Masserat, Der 11. September: Neues Feindbild Islam?. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, S.5, a.a.O.)

Sicherlich ist diese Außenpolitik nicht der Grund für die Demokratiedefizite in der arabischen Welt. Aber die Folgen dieser Art von Politik, deren Beispiele sich auch mit Blick auf den Palästinakonflikt13und Südamerika beliebig fortset- zen und entsprechend belegen ließen, sind fatal: Die Politik des Westens leidet bei der muslimischen Bevölkerung in der arabischen Welt an einem erheblichen Glaubwürdigkeitsdefizit. Die Unglaubwürdigkeit erschwert die Vermittlung und Akzeptanz von demokratischen Werten, stärkt die islamischen Extremisten und lässt eine antiamerikanische Grundhaltung bei demokratisch gesinnten muslimi- schen Intellektuellen entstehen, welche die Amerikaner als wertvolle Verbünde- te verlieren. Diese Wirkung der amerikanischen Politik beschreibt auch der Poli- tikwissenschaftler Prof. Massarat:

„Wie sollten die islamischen Bevölkerungen dieser Region die positiven politischen Errungen- schaften des Westens auch wahrnehmen und übernehmen, wenn sie durch eigene Erfahrungen und Erlebnisse nicht diese positiven Werte, sondern im Gegenteil die negativen Auswirkungen einer Politik kennen gelernt haben, die überwiegend von kurzfristigen ökonomischen Vortei- len des freien Zugangs zu den Ölquellen und den Opportunitäten im Kontext des Ost-West- Gegensatzes herrühren.“ (Masserat, Der 11. September: Neues Feindbild Islam?. In: Aus Poli- tik und Zeitgeschichte, S.5, a.a.O.)

Letztendlich wurde durch diese Politik der „Prozess der Demokratisierung in der Region um Jahrzehnte zurückgeworfen und den Völkern im Nahen und mittle- ren Osten beträchtlicher Schaden zugefügt, den kurzfristigen amerikanischen und westlichen Interessen jedoch nicht geschadet, im Gegenteil“ (Masserat, S.5, a.a.O.). Die erfolgreiche Demokratisierung der Länder in dem islamischen Kern- und Ursprungsgebiet erfordert einen Paradigmenwechsel der Nahostpolitik des Westens. Die Unterstützung der diktatorischen Regime wird langfristig gesehen den Westen mehr Schaden als Nutzen bringen. So fordert der ehemalige irani- sche Staatspräsident Banisadr: „Die Dynamik des Friedens bedeutet, dass west- liche Staaten diese Hilfe unterlassen. Sie müssen den Menschen dort die Mög- lichkeit geben, dass sie selbst einen demokratischen Prozess durchschreiten. Das Ausland muss nicht die Demokratisierung unterstützen, es muss aufhören, die Diktatoren zu unterstützen.“ (Internet, URL: http://www.iran-today.net/article.php?sid= 746 vom 20.11.03).

5.4 Der Islam und die Aufklärung

Die nie vollzogene Aufklärung in der arabischen Welt wird in der Literatur als eine oft genannte Hauptursache für die heutigen Demokratiedefizite genannt. Die Gesellschaften im islamischen Ursprungs- und Kerngebiet seien deshalb auch nicht säkularisiert worden und somit nicht in der Moderne angekommen. Fraglich ist jedoch, ob die besondere Entstehungsgeschichte der Aufklärung in Europa als Maßstab für einen Säkularisierungsprozess in der islamischen Welt gelten kann und ob eine Trennung von Religion und Politik automatisch zu de- mokratischen Strukturen führt.

Ein Blick in die europäische Geschichte zeigt, dass „auch im Westen die Demo- kratie nicht vom Himmel gefallen ist. Nicht zuletzt das traumatische Erlebnis des religiös legitimierten Dreißigjährigen Kriegs im 17. Jahrhundert, [...] trug viel zur Aufklärung und damit zur Trennung von Religion und Staat bei. Be- kanntlich brachte diese Abgrenzung nicht unverzüglich die Demokratie.“ (Rotter, Die Utopie vom Frieden. In: Spiegel spezial, , S. 24, a.a.O.) In diesem Zusammenhang wird von wissenschaftlicher Seite14auch darauf verwiesen, dass „jüngste empi- rische Untersuchungen zeigen, dass es in einigen der gefestigten Demokratien gerade nicht die vollständige Trennung von Kirche und Staat war, die zu stabilen demokratischen Bedingungen geführt hat. Vielmehr ist das Erreichen eines „freundlichen Verhältnisses“ zwischen und einer „wechselseitigen Tolerierung“ von Staat und Religion entscheidend.“ (Schlumberger, Sind Islam und Demokratie ver- einbar? S.9, a.a.O.15) Die Aufklärung hat also in Europa tatsächlich nicht zu einer völligen Trennung von Religion und Politik geführt, sondern lediglich zu einer Entflechtung sowie zu der Aufgabe des Anspruches der Kirchen, verbindlich Politik anzuleiten. Dabei wurde die Religion aus den politischen Entscheidungs- prozessen nicht völlig herausgedrängt, vielmehr ermöglicht die Eingliederung der christlichen Grundwerte als Kulturgut auch heute die politische Einfluss- nahme der Kirchen. Eine solche kulturelle Verankerung der Religion muss eben- so in den zu schaffenden modernistischen Gesellschaftsordnungen in der islami- schen Welt berücksichtigt werden.

Der Begriff „Säkularisierung“ sollte somit nicht als der wesentliche Faktor der Aufklärung und Moderne begriffen werden. Vielmehr geht es vor allem darum, dass das Verhältnis von Islam und Politik nach dem Grundsatz der Aufklärung betrachtet wird, wie er von Kant formuliert worden ist:

„‘Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu be- dienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Man- gel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedie- nen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.’ “ (Massing, so zitiert in: Demokratie-Theorien, S. 129, a.a.O.)

Die ideologisierende und instrumentalisierende Auslegung des Koran und der Sunna zwecks Erreichung oder Erhaltung politischer Macht gilt es abzulösen durch eine rationale Interpretation, die demokratische Verhältnisse ermöglicht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass, mit Ausnahme des Iran mit seiner theokratischen Regierungsform, nicht die islamischen Geistlichen die Religion zur Legitimierung der Macht missbrauchen, sondern dass „seit der Entkolonisierung der Islam "verstaatlicht" worden ist. Die weltliche Macht hat die Religion für ihre Zwecke vereinnahmt. Überall in der muslimischen Welt kontrollieren Religionsminister den Islam. Das ist ein wichtiger Punkt: Nicht der Islam hat die weltliche Macht ergriffen, die politischen Machthaber haben den Islam vereinnahmt. Schlimmer noch, die Theologen haben sich so daran gewöhnt, dem Staat hörig zu sein, dass sie jegliche Vorstellung ihrer religiösen Freiheit verloren haben.“ (Arkoun, Dem Islam fehlt die Aufklärung. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.11.2001)

Ein wesentlicher Grund für die im arabischen Bereich nicht stattgefundene Auf- klärung liegt in den historischen Gegebenheiten, die grundsätzlich andere Ent- stehungsbedingungen als die in Europa vorgaben. Während sich der Aufklä- rungsprozess in Europa über einen Zeitraum von mehr als 200 Jahren in souve- ränen Staaten vollziehen konnte, wurden die meisten Länder der arabischen Welt erst nach 1945 von den Kolonialmächten in die Unabhängigkeit entlassen.

[...]


1Arabisch „Gewohnte Handlung, eingeführter Brauch“. Sunna bezeichnet im Islam die prophetische Tradition. (ELGER (Hrsg.), Kleines Islam-Lexikon, S. 290, a.a.O.)

2 Der Begriff wird im heutigen Sprachgebrauch für „islamisches Recht“ verwendet, bedeutet im engeren Sinne jedoch die von Gott gesetzte Ordnung im Sinne einer islamischen Normativität. Der Ruf nach Ein- führung der Scharia ist gegenwärtig in vielen muslimischen Staaten zu einem politischen Kampfbegriff geworden. Vordergründiger Ausdruck einer islamischen Rechtsordnung ist die Anwendung der koranischen Körperstrafen, die jedoch nur einem kleinen Teil des islamischen Rechtssystems umfassen. In mehreren Staaten wird die Scharia heutzutage in der Verfassung ausdrücklich als Quelle der Rechtsschöpfung aner- kannt (etwa Ägypten, Bahrain, Jemen, Kuwait, Libanon, Sudan, Syrien und den Vereinigten Arab. Emira- ten. Einen Schritt weiter gehen Saudi-Arabien, Oman, und Pakistan, in denen die Scharia, von Ausnahmen in einzelnen Rechtsbereichen abgesehen, mit der Rechtsordnung gleichgesetzt wird. (ELGER (Hrsg.), Kleines Islam-Lexikon, S. 272, a.a.O.)

3Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Kommunikationsgrundrechte, Parteienfreiheit und -gleichheit, Allgemeiner Gleichheitssatz, hinreichende Legitimation der Staatsgewalt, Öffentlichkeit der staatlichen Beratungs- und Entscheidungsprozesse, Gesetzesvorbehalt, Repräsentationsprinzip, Herrschaft auf Zeit, Mehrheitsprinzip und Recht auf Bildung und Ausübung der Opposition.

4Übersetzung aus dem Englischen durch den Verfasser

5Wenn im Folgenden von „dem“ Islam gesprochen wird, ist dies als eine sprachlich nicht zu umgehende inhaltliche Verkürzung zu verstehen, die sich auf die Erscheinungsformen des Islam in seinem Kern- und Ursprungsbereich bezieht.

6Zu der Problematik der Definitionen der Begriffe „Fundamentalismus“, „politischer Islam“, „Islamismus“ und „islamischer Extremismus“ vgl. : Zander, Islamischer Extremismus in Deutschland - Eine Gefahr für die innere Sicherheit?, Seite 120, a.a.O.

7Arabisch „Erzählung, Gespräch“. Hadith bezeichnet die Aussprüche, Anordnungen und Handlungen des Propheten, deren Überlieferung auf seine Gefährten zurückgeführt wird. (ELGER (Hrsg.) Kleines Islam-Lexikon, S. 111, a.a.O)

8Arabisch für „Haus des Islam“. Bei den mittelalterlichen muslim. Rechtsgelehrten Bezeichnung für das Gebiet, in dem die Glaubens- und Rechtsnormen des Islam galten - im Gegensatz zum dar al-harb, dem „Kriegsgebiet“, d.h. alle Territorien, die noch zu erobern sind. (Quelle: Islam-Demokratie-Moderne, An- hang, S. 250, a.a.O)

9Erudition in the Qur’an and the Sunna (prophetic tradition) The Qur’an:

Allah witnesses that there is no deity except Him, and the angels and people of knowledge know that He is the One and maintains justice in all Creation. (Surah 3-Ali‘Imran, 18) Say, "Are those who know equal to those who do not know?" (Surah 39- az-Zumar,9) Allah will raise those who have believed among you and those who were given knowledge, by degrees. (Surah 58 - al-Mujadalah, 11) And say, "My Lord, increase me in knowledge." (Surah 20- Ta Ha, 114) Nun. By the pen and what they inscribe. (Surah 68- al-Qalam,1) The Sunna: “If anyone travels on a road in search of knowledge, Allah will cause him to travel on one of the roads of Paradise. The angels will lower their wings in their great pleasure with one who seeks knowledge, the inhabitants of the heavens and the Earth and the fish in the deep waters will ask forgiveness for the learned man. The superiority of the learned man over the devout is like that of the moon, on the night when it is full, over the rest of the stars. The learned are the heirs of the Prophets, and the Prophets leave neither dinar nor dirham, leaving only knowledge, and he who takes it takes an abundant portion." (Sunan Abu Dawud, Book 25, Number 3634) "Spread knowledge and you will congregate so that the unknowledgeable will know. Knowledge does not vanish save when it is hidden."

10Erläuterung der Vereinten Nationen: The first AHDR (2002) measured freedom by using values of the indicator developed by Freedom House, which at that time stopped at 1998. At the time of writing this report, the indicator was available only up to 2000/2001 (Freedom House, 2002). It should be noted that freedom scores, as developed by Freedom House, are far from perfect measures and may reflect certain biases inherent in their source. Yet they constitute the only database currently available for measuring essential freedoms over time. The Figure shows that while the general trend saw freedom rise worldwide, in most Arab countries it fell, with an apparent decline during the early 1990s. Arab countries, on average, continued to evince the lowest levels of freedom among the world regions compared. In fact, according to this indicator,five Arab countries were among the ten least free countries in the world during 2000/2001 (UN ARAB HUMAN DEVELOPMENT REPORT 2003, S. 28, a.a.O).

11Interview mit Brzezinski: Question: The former director of the CIA, Robert Gates, stated in his memoirs ["From the Shadows"], that American intelligence services began to aid the Muja- hadeen in Afghanistan 6 months before the Soviet intervention. In this period you were the na- tional security adviser to President Carter. You therefore played a role in this affair. Is that cor- rect? Brzezinski: Yes. According to the official version of history, CIA aid to the Mujahadeen began during 1980, that is to say, after the Soviet army invaded Afghanistan, 24 Dec 1979. But the reality, secretly guarded until now, is completely otherwise indeed, it was July 3, 1979 that President Carter signed the first directive for secret aid to the opponents of the pro-Soviet regime in Kabul. And that very day, I wrote a note to the president in which I explained to him that in my opinion this aid was going to induce a Soviet military intervention. Q: Despite this risk, you were an advocate of this covert action. But perhaps you yourself desired this Soviet entry into war and looked to provoke it? B: It isn't quite that. We didn't push the Russians to intervene, but we knowingly increased the probability that they would. Q: When the Soviets justified their intervention by asserting that they intended to fight against a secret involvement of the United States in Afghanistan, people didn't believe them. However, there was a basis of truth. You don't regret anything today?
B: Regret what? That secret operation was an excellent idea. It had the effect of drawing the Russians into the Afghan trap and you want me to regret it? The day that the Soviets officially crossed the border, I wrote to President Carter. We now have the opportunity of giving to the USSR its Vietnam war. Indeed, for almost 10 years, Moscow had to carry on a war unsupport- able by the government, a conflict that brought about the demoralization and finally the breakup of the Soviet empire.
Q: And neither do you regret having supported the Islamic fundamentalism, having given arms and advice to future terrorists?
B: What is most important to the history of the world? The Taliban or the collapse of the Soviet empire? Some stirred-up Moslems or the liberation of Central Europe and the end of the cold war?
Q: Some stirred-up Moslems? But it has been said and repeated Islamic fundamentalism represents a world menace today.
B: Nonsense! It is said that the West had a global policy in regard to Islam. That is stupid. There isn't a global Islam. Look at Islam in a rational manner and without demagoguery or emotion. It is the leading religion of the world with 1.5 billion followers. But what is there in common among Saudi Arabian fundamentalism, moderate Morocco, Pakistan militarism, Egyptian proWestern or Central Asian secularism? Nothing more than what unites the Christian countries. (Le Nouvel Observateur, Paris, 15.01.98, a.a.O)

12So zitiert von Metzger, Islam und Politik. In: Informationen zur politischen Bildung, S. 13, a.a.O.

13„Das sine qua non für den Fortschritt in Nahost ist das Problem um Palästina. Seit Jahrzehnten kritisieren arabische Intellektuelle aller Couleur die einseitige proisraelische Politik Washing- tons, das Messen mit zweierlei Maß. Mehr als 30mal schon haben die Amerikaner, die doch das angedrohte französische Veto gegen eine Irak-Kriegsresolution so empört anprangern, durch ihr eigenes Veto eine Verurteilung der israelischen Besatzungspolitik verhindert. Erst wenn die "Roadmap" Richtung Palästinenserstaat veröffentlicht - und vor allem durchgesetzt - ist, könnte sich Entscheidendes bewegen. Wichtig ist dabei in arabischen Augen, dass nicht nur Palästinen- sern Vorleistungen wie das entschiedene Eingreifen gegen terroristische Gruppierungen abver- langt werden, sondern gleichzeitig auch den Israelis: ein sofortiger Siedlungsstopp, darüber hin- aus auch der Abbau der völkerrechtswidrigen Stützpunkte im Westjordanland. (Follath, In: Der Spiegel 18/2003, a.a.O)

14Ausführlich zum Verhältnis von Politik und Religion: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 21.10.2002

15Schlumberger ist wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Politikwissenschaft, Arbeitsbereich Vorderer Orient, der Eberhard-Karls Universität Tübingen. Als Quelle wird hier genannt: Alfred Stepan, 2000: "Religion, Democracy, and the Twin Tolerations", in: Journal of Democracy, Jg. 11, Heft 4 (Oct. 2000), S. 37-57. In einigen Punkten ähnlich argumentiert W. Zartman, 2001: "Islam, the State, and Democracy: The Contradictions", in: ders. und Ch. Butterworth, (Hgs.): [Anm. 12], S. 231-244.

Ende der Leseprobe aus 76 Seiten

Details

Titel
Wie demokratiefähig ist der Islam?
Note
2,00
Autor
Jahr
2004
Seiten
76
Katalognummer
V74600
ISBN (eBook)
9783638784832
ISBN (Buch)
9783638795111
Dateigröße
1135 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Islam
Arbeit zitieren
Diplom-Verwaltungswirt Michael-Andreas Zander (Autor:in), 2004, Wie demokratiefähig ist der Islam?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74600

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