Andolosia als Gegentypus zu Fortunatus

Vergleich zweier Figuren im Kontext des gesellschaftlichen Wandels zu Beginn der Frühen Neuzeit


Seminararbeit, 2005

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

I. Einleitung

II. Figurenvergleich Andolosia – Fortunatus
II.1 Beginn der Reisen: Aufbruchsmotivationen
II.1.1 Reisen im Kontext der Zeit
II.1.2 Fortunati Aufbruch
II.1.3 Andolosias Aufbruch
II.2 Die antitypische Gestaltung der Protagonisten
II.2.1 Erste Aktionen – erste Reaktionen
II.2.2 Einsichten und Absichten
II.2.3 Integration durch Repression
II.2.4 Isolation durch Omnipotenzwahn

III. Fazit

Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Der 1509 anonym erschienene Fortunatus bietet als einer der ersten deutschen Prosaromane eine Fülle von potentiellen Interpretationsansätzen. Autorfrage, Topographie, Motivgeschichte, Erzählstruktur, theologische Momente und Wirtschafts-geschichte bilden einen gewaltigen Komplex möglicher wissenschaftlicher Annäherung. Größere, von dem Schwerpunkt dieser Arbeit weitgehend unabhängige Motivkomplexe, sollen jedoch zum Zwecke der detailgetreuen Figurenanalyse vernachlässigt werden. Untersuchungsgegenstände wie die Fortuna-Thematik, die These vom Glücksrad, die Anlehnung an Literarische Gattungen, die Herkunft der Märchenmotive oder die Bedeutung christlicher Motive im Roman können daher keine oder nur geringe Beachtung erfahren. Der Sozialgeschichte muss allerdings – wenn auch in begrenztem Rahmen – gewisse Zuwendung zukommen, da die beiden Haupthandlungsträger Fortunatus und Andolosia gerade im Umgang mit ihrem aus dem Kontext der Entstehungszeit des Fortunatus entlehnten gesellschaftlichen Umfeld ihre konträren Verhaltensweisen zum Vorschein bringen. Im Zuge der Epochenwende vom Spätmittel-alter zur Frühen Neuzeit wurden durch neue Produktions- und Wirtschaftsformen die Grenzen der alten Ständeordnung zunehmend dünner. Aufstrebende bürgerliche Familien konnten durch Etablierung einer scheinbar grenzenlosen finanziellen Macht das Repräsentationsverhalten des Adels adaptieren und provozierten auf diese Weise einen Konflikt zwischen politischer und ökonomischer Potenz. Fortunatus und Andolosia erfahren in dieser Gesellschaft verschiedene Schicksale. Es wird aufzuzeigen sein, dass die Gegensätzlichkeit ihrer Motivationen und Handlungen besonders anschaulich in Dichotomien wie Integration – Isolation, Aggression – Repression, Konstruktion – Destruktion etc. umschrieben werden kann. Um die Nuancen und Pointen der Gegensätzlichkeit herauszustellen und die These der antitypischen Gestaltung zu untermauern, soll der Handlungsverlauf raffend verfolgt und die für den Arbeitsauftrag weniger bedeutenden Erzählabschnitte übersprungen werden.

Das Hauptaugenmerk wird darauf gerichtet sein, in vergleichbaren Situationen bzw. Episoden des Romans die unterschiedlichen Handlungsmotive der beiden Protagonisten auf Ursprung und Konsequenz zu untersuchen. Dabei werde ich diverse Interpretationen der Forschungsliteratur kritisch mit einbeziehen, einander gegenüberstellen und auf ihren Gehalt bezüglich der Textdeutung überprüfen.

Die zitierten Textstellen sind der Edition von Hans-Gert Roloff entnommen.[1]

II. Figurenvergleich: Andolosia-Fortunatus

II. 1 Beginn der Reisen: Aufbruchsmotivationen

Zu Beginn der Arbeit gilt es die Aufbruchsmotivationen der beiden reisenden Hauptfiguren Fortunatus und Andolosia und diesbezüglich ihre sozialen Hintergründe bzw. Vorraussetzungen zu ihren Reisen näher zu betrachten. Dieser Untersuchung möchte ich einen kurzen Exkurs in die Reisetätigkeit im Spätmittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit voranstellen, um die jeweilige Intention der Reisenden im Roman in einen sozio-historischen Kontext einzubetten.

II. 1. 1 Reisen im Kontext der Zeit

Nachdem im 13. und 14. Jahrhundert verschiedene gesellschaftliche Gruppen wie Pilger, Kaufleute, Gelehrte und Bettelmönche die Welt aus entweder pragmatisch-ökonomischer oder heilsgeschichtlich-religiöser Motivation durchzogen, entwickelte sich im 15. Jahrhundert mit der Rezeption der antiken Geographie eine neuartige Reisementalität, die in eine gravierende Problematisierung des traditionellen Weltbildes mündete. Weltneugierde und Erfahrungsdrang gewannen an Bedeutung, man begnügte sich nicht mehr mit Überliefertem, sondern wollte selbst die fremden Dinge der fernen Länder sehen. Die mit Wissensdurst und dem Bedürfnis nach eigener Augen-scheinnahme der Welt verbundene Erweiterung des individuellen geistigen Horizonts markierte „den Aufbruch der frühen Neuzeit aus mittelalterlichen Denk- und Lebens-ordnungen“[2]. Infolgedessen sah sich die Kirche einer schwerwiegenden Gefahr ausgesetzt, da nicht nur ihre Autorität, sondern auch das traditionelle in der Bibel fundierte Weltbild[3] in Frage gestellt wurde.[4] Was früher von der Kirche unter der Bezeichnung curiositas als „Sensationsgier auf Fremdes, Abseitiges, Nichtiges und zugleich Verlockung zur Sinneslust“[5] kritisiert worden war, entwickelte sich im Zuge der Epochenwende – also zur Entstehungszeit des Fortunatus – zu einer maßgeblichen Aufbruchsmotivation für jegliche Reisegruppen, auch wenn diese Intention in den wenigsten Reiseaufzeichnungen genannt wird.[6] Welterfahrung als neu aufkommen-de Diesseitsfreude führte neben Handels- und Pilgerreisen jetzt auch zu Forschungs- und Abenteuerfahrten.

Mit Hilfe dieser Hintergrundinformationen soll im Folgenden analysiert werden, wie sich die Aufbruchsmotivationen und eventuelle Zielsetzungen bei Fortunatus und Andolosia gestalten, um der Interpretation ihrer Handlungsmotive und dem darauf aufbauenden Figurenvergleich eine richtungweisende Grundlage zu bieten.

II. 1. 2 Fortunati Aufbruch

Fortunatus entstammt einer bürgerlichen Familie des Stadtpatriziats in Zypern. Sein Vater Theodorus, „ain edler purger altz herkommens“[7], verschwendet all sein geerbtes Hab und Gut durch Fehleinschätzung seiner finanziellen Möglichkeiten bei seinen Reisen von der Heimat Famagusta an den königlichen Hof in Nicosia, wo ihn seine übertriebene Nachahmung des adeligen Repräsentationsverhaltens in den Ruin treibt. Die Ausbildung seines Sohnes beschränkt sich auf die Inhalte seiner eigenen Beschäftigungen im Rahmen der Imitation feudaler Konventionen, wie „federspil“ und „waidwerck“[8]. Trotz seiner Ungebildetheit erkennt Fortunatus die Trübsal seines Vaters, der sich seiner eigenen Schuld an der Verarmung der Familie und der Vernachlässigung seiner Verantwortung als edler Bürger, „Ehre und Ruf aller verstorbenen und lebendigen Familienmitglieder“ zu wahren und „die nächste Generation materiell und vor allem wissensmäßig so auszustatten, dass ihr ein standesgemäßes Leben möglich ist“[9], bewusst wird. Theodorus ist folglich mehrfach gescheitert: Das Ansehen und die Ehre seiner Familie sind verblichen, die Familie ist so mittellos, dass seine Frau Graciana „selber kochen unnd waeschenn“ muss, weil „er weder knecht noch maegt vermocht“ und der Sohn Fortunatus ist geistig nur so weit entwickelt, dass er „bey achzehen jaren alt [...] nichts dann ploß ainen namen schreiben und lesen“[10] kann.

Obwohl Fortunatus ausdrücklich als ungebildet charakterisiert wird, erscheint er in seiner Rolle als Sohn überaus vorbildlich. Er verweist die Eltern auf die Gunst des Königs und möchte seinen Vater von dieser „kümernuß“[11] befreien, indem er das Elternhaus verlässt, ohne jemanden davon in Kenntnis zu setzen. Renate Wiemanns Hinweis darauf, dass in Fortunati Bemerkung, der Vater solle sich nicht wegen seiner Armut schämen, „ein erstaunlich reifes Überschauen der Lage und eine innere Unabhängigkeit von materiellen Dingen“[12] zeige, halte ich in dieser anfänglichen Phase des Romans für problematisch. Aufgrund seiner späteren Misserfolge im Umgang mit Geld bei den Prostituierten in London scheint eine derartige Einschätzung des jungen Fortunatus nicht haltbar, da sein Lernprozess erst nach Erhalt des Glückssäckels eintritt[13] und genauer nach der Niederlage beim Waldgrafen von Nundragon.[14]

Seine Fähigkeiten sind gemäß der Ausbildung durch Theodorus auf Formen feudaler Lebensweise wie Jagdwesen und spezielle Umgangsformen beschränkt. Sein sozialer Status erlaubt es ihm jedoch nicht, diese Qualitäten auszuleben, da er weder von adeliger Herkunft ist noch materiell begütert; neben der Kenntnis adeliger Konventionen zeichnen ihn nur seine Jugend, Stärke und Gesundheit, sowie gute Sprachkenntnisse aus.[15] Fortunatus kann seine Fähigkeiten also nur in der für ihn schwer zugänglichen Welt der Adeligen zum Einsatz bringen. Im Vertrauen darauf, dass „noch viel glücks in diser welt“[16] sei, bricht er auf und nutzt gleich „die erste seinen Fähigkeiten und Absichten entsprechende Gelegenheit ohne Zögern“[17], indem er in den Dienst des Grafen von Flandern tritt. Unklar bleibt an dieser Stelle, welche Absichten Walter Raitz Fortunatus zum Zeitpunkt dessen Aufbruchs unterstellt. Bei genauerer Betrachtung von Raitz’ Analyse findet man zwei konträre Aussagen über Fortunati Motivation, in die Welt zu ziehen:

„Sein Aufbruch von zu Hause hatte das Ziel, sein Glück zu machen. Das war aber zu allgemein, als daß sich daraus eine konkrete Handlungsmaxime ergeben konnte. Bewußtes, und das heißt, an einem direkten Zweck orientiertes und auf Rationalität basierendes Handeln ist Fortunatus nicht möglich.[...] Fortunatus ist unfähig zur reflektierten Einsicht in gesellschaftliche Verhältnisse.“[18]

In einem späteren Kapitel nennt er die Absichten Fortunati Reisen „den Erwerb von Erfahrungen und Erkenntnissen als unerläßliche Voraussetzung seiner sozialen Integration“[19] und schreibt ihm dadurch schon in jungen Jahren eine umfassende Erkenntnis der sozialen Funktionszusammenhänge und ähnlich wie Wiemann eine zu ausgeprägte geistige Reife zu. Letztere Annahme möchte ich also für den Zeitpunkt des Beginns der Reisetätigkeit des Fortunatus verwerfen, an späterer Stelle jedoch wieder aufnehmen, wenn sich das Augenmerk auf die Lernfähigkeit der beiden Protagonisten richten soll.

Da Fortunatus keinerlei Bildung außer in den privilegierten höfischen Gepflogenheiten und im Turnierwesen zugute kam, muss man davon ausgehen, dass er – gemäß Raitz’ erster Feststellung – nicht durch bewussten Einsatz seiner Qualitäten zum Dienst-antritt beim flandrischen Grafen gelangt, sondern weil ihm wegen seiner limitierten Möglichkeiten überhaupt kein anderer Handlungsspielraum bleibt.

Festzuhalten bleibt schließlich, dass Fortunatus in die Welt zieht, um sein Glück zu suchen. Ohne eine finanzielle – das heißt existentielle – Grundlage sind seine Möglich-keiten zum Aufbruch aufgrund seiner mangelnden Bildung und der spezifischen, seines bürgerlichen Standes unangemessenen Ausbildung durch seinen Vater begrenzt, so dass er folgerichtig und erzähltechnisch zwingend durch den Dienstantritt bei einem Adeligen Zypern verlassen muss.

Die Vater–Sohn–Beziehung bildet im Roman einen wichtigen Motivkomplex:

Das Scheitern bzw. Nichtscheitern der Figuren und deren Familien entscheidet sich in der Verhaltensweise der Väter und Söhne bezüglich Traditions- und Verantwortungs-bewusstsein. Bis zum Einsatz der Andolosia-Handlung gibt es im Roman hierfür zwei weitere Beispiele: Die beiden Kaufmannssöhne, deren Bekanntschaft Fortunatus in London macht, handeln wider den Auftrag des Vaters, Handel zu treiben, sondern verwenden den Erlös aus ihren Waren, um sich „mit schoenen frawen mit spilen mitt wolleben“[20] zu vergnügen. Auch Andrean, „ein Florentin / ains reichen mans sun / dem sein vater groß guot geben“[21] verschwendet ebenfalls die väterliche Habe und begründet mit seinem Mord an dem englischen Edelmann den Untergang der Familie des Jeronimus Roberti.[22]

So liegt in der Entwicklung der Andolosia-Figur gleichsam das Schicksal seiner Familie. Demnach hängt die Untersuchung Andolosias Aufbruchsmotivation direkt mit dem Motivkomplex der Vater-Sohn-Beziehung zusammen, da sich seine Handlungs-motive aus dem familiären Kontext und der väterlichen Ausbildung ableiten lassen.

II. 1. 3 Andolosias Aufbruch

Wie die Blickrichtung bei der Vorgeschichte Fortunati Reisetätigkeit auf dessen Vater Theodorus fiel, muss man bei der Untersuchung der Vorraussetzungen von Andolosias Aufbruch die Vaterfunktion des Fortunatus genauer in Betracht nehmen.

Vor seinem Tode übergab Fortunatus seinen Söhnen die Aufzeichnungen seiner Reisen, ein Akt, der im Kontext der Zeit mehreren Zwecken diente:

„In den Reisememoiren des 15. und 16. Jahrhunderts, die häufig in Geschlechter-büchern und Familienchroniken enthalten sind oder als Bestandteile privater Familienpapiere anzusehen sind, waren mit den genannten Aufzeichnungsmoti-vationen fast immer drei weitere Absichten untrennbar verknüpft: Außer der Steigerung des eigenen Ansehens und der Sicherung eines ehrenvollen Gedächt-nisses hatte der Berichterstatter ebenso im Sinn, Welterfahrung und Weltwissen an die nachfolgende Generation zu vermitteln, Identifikationsmuster für die anvisierten Leser – zumeist seine Familienangehörigen – bereitzustellen und insgesamt einen Beitrag zum Erfahrungsschatz wie „eerschatz“ des eigenen Geschlechts zu leisten.“[23]

[...]


[1] Fortunatus. Studienausgabe nach der Editio princeps von 1509. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Bibliographie von Jörg Jungmayr. Stuttgart 1996.

[2] Müller, Jan Dirk: Curiositas und erfahrung der Welt im frühen deutschen Prosaroman. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Hrsg. von Ludger Grenzmann und Karl Stackmann. Stuttgart 1984, S. 252.

[3] Auf Ausführungen über die von der Kirche geprägte Lehre von der Beschaffenheit der Welt im Mittelalter soll hier verzichtet werden.

[4] Vgl. Kästner, Hannes: Fortunatus - Peregrinator mundi: Welterfahrung und Selbsterkenntnis im ersten deutschen Prosaroman der Neuzeit. Freiburg i.Br. 1990, S. 13.

[5] Müller, Curiositas, S. 252.

[6] Vgl. Kästner, Fortunatus, S. 15.

[7] Fortunatus, S. 5.

[8] Fortunatus, S. 7.

[9] Kästner, Fortunatus, S. 37.

[10] Fortunatus, S. 7.

[11] Fortunatus, S. 8.

[12] Wiemann, Renate: Die Erzählstruktur im Volksbuch Fortunatus. Hildesheim/New York 1970, S. 114.

[13] Vgl. Raitz, Walter: Fortunatus. München 1984, S. 15.

[14] Siehe S. 13.

[15] Vgl. Kästner, Fortunatus, S. 37 u. Raitz, Fortunatus, S. 10.

[16] Fortunatus, S. 8.

[17] Raitz, Fortunatus, S. 10f.

[18] Ebda. S. 13f.

[19] Ebda. S. 48.

[20] Fortunatus, S. 22.

[21] Fortunatus, S. 25.

[22] Zum Motivkomplex der Vater-Sohn-Beziehung vgl. Kästner, Fortunatus, S. 37-39.

[23] Kästner, Fortunatus, S. 70.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Andolosia als Gegentypus zu Fortunatus
Untertitel
Vergleich zweier Figuren im Kontext des gesellschaftlichen Wandels zu Beginn der Frühen Neuzeit
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Veranstaltung
Proseminar: Fortunatus
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
25
Katalognummer
V75045
ISBN (eBook)
9783638690706
ISBN (Buch)
9783638695060
Dateigröße
498 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Andolosia, Gegentypus, Fortunatus, Proseminar, Fortunatus
Arbeit zitieren
Moritz Ahrens (Autor:in), 2005, Andolosia als Gegentypus zu Fortunatus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75045

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