Batailles Erotik und die moderne Gesellschaft


Seminararbeit, 2003

26 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1Einleitung

2.1. Georges Bataille: Verbot und Überschreitung in der Erotik
2.1.1. Die Natur des Menschen
2.1.2. Verbot und Überschreitung
2.1.3. Die Erotik und ihre Funktion
2.2. Sexualität in der modernen Gesellschaft
2.2.1. Die neosexuelle Revolution
2.2.1.1. Dissoziation der alten sexuellen Sphäre
2.2.1.2. Dispersion der Sexuellen Fragmente
2.2.1.3 Diversifikation der Intimbeziehungen
2.2.1.4 Bestandsaufnahme: Nach der neosexuellen Revolution
2.2.2. Moderne Beziehungen

3. Fazit: Bataille’s Erotik heute

4. Literatur

Bataille‘s Erotik und die moderne[1] Gesellschaft

„Zu vielen Paradoxien unserer Kultur gehört, daß das beinahe lückenlose Kommerzialisieren und elektronische Inszenieren das Begehren wirksamer austreibt als das Unterdrücken durch Verbote. Daß die alten Verbote mit Lust gesättigt waren, ahnt der Vatikan bis heute. Bataille (1957) aber hat es begriffen.“

Volkmar Sigusch[2]

1Einleitung

Der französische Philosoph und Schriftsteller Georges Bataille beschrieb im Buch „L‘Erotisme“ (dt. Die Erotik)[3] 1957 seine Vorstellung von Erotik als eine innere Erfahrung, die dem Prinzip von Verbot und Überschreitung folgend ihrem ekstatischen Charakter gerecht wird.

Angesichts der ständigen Präsenz von Sexualität in der modernen (Medien)Gesellschaft, in der ehemalige Grenzen, Verbote und Tabus stetig überschritten werden, liegt die Vermutung nahe, dass erotische Sensationen im Sinne von Bataille heute nicht mehr möglich sind und folglich keine Erotik mehr existiert. Dennoch kann wohl kaum jemand von sich behaupten, nicht schon die eine oder andere praktische ekstatische Erfahrung gemacht zu haben. Wie lässt sich dieser Widerspruch theoretisch erklären? Gibt es heute noch eine Erotik im Bataillischen Sinne?

Um diesen Fragen nachzugehen, werden im Folgenden zunächst die Konzeption der Erotik Batailles dargestellt und anschließend gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in Bezug auf die Sexualität beschrieben. Am Ende soll eine Antwort auf die Frage gefunden werden, ob und wo Erotik, wie Bataille sie definiert, in der modernen Gesellschaft noch zu finden ist.

2.1. Georges Bataille: Verbot und Überschreitung in der Erotik

Grundlage für diese Arbeit ist die Konzeption von Erotik nach dem Prinzip von Verbot und Überschreitung von Georges Bataille. Sie soll in diesem Kapitel zunächst vorgestellt werden.

2.1.1. Die Natur des Menschen

Ausgangspunkt der Überlegungen Batailles ist die Unterscheidung zwischen den Lebenswelten von Mensch und Tier.[4]

Das Tier auf der einen Seite lebt ausschließlich in der Welt der Gewaltsamkeit, womit gemeint ist, dass es instinktgebunden und triebhaft der Natur unterworfen ist. Das Selbst des Tieres lässt sich als eindimensional bezeichnen, es besteht nur aus seinen naturgebundenen Instinkten und Trieben, wobei die Triebfeder die Reproduktion ist.

Beim Menschen auf der anderen Seite kommt eine weitere Dimension hinzu, durch die seine Lebenswelt eine ganz andere Qualität erhält. Im Unterschied zum Tier besteht das Selbst des Menschen, das „Menschsein“ an sich, aus zwei sich eigentlich widersprechenden Teilen, welche sich ständig im Konflikt miteinander befinden. Einerseits empfindet er, wie das Tier, die Welt der Gewaltsamkeit, seine animalischen naturgegebenen Triebe. Auch er ist ein Geschöpf der Natur und deshalb von ihr abhängig und an sie gebunden, er kann sich nie von seiner Körperlichkeit lösen. Darüber hinaus ist der Mensch jedoch durch sein Bewusstsein in der Lage, Natur nach seinen Vorstellungen zu verändern und zu gestalten. Durch sein mangelndes physisches Adaptionspotential ist er zum Zwecke des Überlebens sogar dazu gezwungen, sich die Natur zu eigen zu machen und sozusagen Krücken zu basteln. Dieser Vorgang wird gemeinhin als Kulturschaffung bezeichnet.

Eine menschliche Gesellschaft muss auch produktiv sein, um zu funktionieren, und nicht wie die tierische bloß Reproduktion gewährleisten. Diese produktive Sphäre bezeichnet Bataille als die Welt der Arbeit und Vernunft. Sie implementiert sich innerhalb einer Gesellschaft durch ein Regelwerk, welches den Mitgliedern Ge- und Verbote auferlegt. Dieses Regelwerk entfremdet den Menschen von der Natur, indem es triebhafte und gewaltsame Neigungen unterdrückt. Die menschliche Gesellschaft kann nur mit einem rationalen Arbeitsgeist fortbestehen, welcher im Gegensatz zur unproduktiven Verausgabung der Natur steht. Nach Bataille ist Verschwendung ein grundsätzliches Kennzeichen von Natur und ihrer Ausgestaltung. Mit geringen Kosten zu produzieren, sei ein armseliger menschlicher Wunsch (Bataille, 1994: 60). Andererseits sei auch die unproduktive Verausgabung in der Natur des Menschen verankert, was sich in verschwenderischen Kultriten und im Bereich der Sexualität offenbart.

Beide angesprochenen Welten - die der Gewaltsamkeit sowie auch die der Arbeit und Vernunft - sind also Teil der menschlichen Natur. Die Welt der Arbeit und Vernunft bildet die Grundlage des menschlichen Lebens und Überlebens. Sie ist notwendig für soziale Organisation, Regelung der Produktion und Reproduktion. Um dem Selbsterhaltungstrieb genüge zu tun, ist der Mensch also gezwungen, sich von seinen anderen Trieben und Instinkten zu lösen und diese zu kontrollieren. Es ist ihm jedoch nie möglich, sich ganz und gar vom animalischen Teil seiner Natur abzugrenzen. Laut Bataille muss die menschliche Gesellschaft und auch das einzelne Individuum dieses Paradoxon überwinden und den Spagat zwischen beiden Welten meistern. Ansonsten ist sie oder es nicht überlebensfähig.

2.1.2. Verbot und Überschreitung

Jene Regelsysteme, durch welche eine menschliche Gesellschaft produktiv und überlebensfähig wird, sind organisiert nach verschiedenen Ge- und Verboten. Es handelt sich gewissermaßen um Handlungsanweisungen für die Gesellschaftsmitglieder, was zu tun und was nicht zu tun ist. Durch Verbote soll der Konflikt zwischen den beiden Teilen des menschlichen Selbst aufgelöst werden, indem sie Grenzen zur Welt der Gewaltsamkeit ziehen.

Jede Gesellschaft verfügt über eine Vielzahl von Verboten, welche die verschiedensten Lebensbereiche organisieren und die sich von denen anderer Gesellschaften aufgrund von Differenzen im kulturgeschichtlichen Hintergrund oft deutlich unterscheiden. Nach Bataille lassen sich alle Verbote in allen Gesellschaften jedoch von bestimmten allgemeinen, universellen Verboten ableiten. Diese Universalverbote wiederum leiten sich aus der menschlichen Natur an sich ab, und sind deshalb in allen menschlichen Gesellschaften anzutreffen.

Die Universalverbote beziehen sich in jeder Gesellschaft auf die Bereiche Tod und Sexualität, jene Bereiche, in denen der Mensch am stärksten mit seiner gewaltsamen Natur konfrontiert wird. Der Mensch kann die Natur noch so perfekt nach seinen Vorstellungen verändern und kontrollieren, im Tod ist er doch wieder der Gewaltsamkeit der Natur unterworfen. Allein der Anblick des Todes und der mit ihm einhergehenden Verwesung bzw. Auflösung des Individuums erinnert den Menschen unangenehm an seine Ohnmacht gegenüber der Natur und geht mit einer starken Tabuisierung dieses Teils des Lebens einher. So ist beispielsweise in allen Gesellschaften der Welt das Bestreben erkennbar, den Tod dem Anblick zu entziehen und Leichen entweder zu verbrennen oder zu vergraben. Auch sollen sie mit derartigen Maßnahmen vor der Gefräßigkeit der Tiere geschützt werden. Weiterhin ist das Tötungsverbot nach Bataille eines der Universalverbote, eine innere Hemmung, eigenen Artgenossen das Leben zu nehmen, lässt sich ebenfalls in allen Kulturen feststellen. Wenn man sich allerdings die Weltgeschichte anschaut, scheint das in wesentlich stärkeren Maße für die eigene Gruppe als für Angehörige anderer Gruppen zu gelten.

Der andere Universalgebote hervorbringende Bereich der menschlichen Betriebsamkeit ist die Sexualität bzw. die Erotik. Wie im folgenden Kapitel über die Funktion von Erotik näher ausgeführt wird, ist dieser Bereich ebenfalls sehr eng mit dem Tod verwandt. Gemeinhin steht Fortpflanzung - und was damit zusammenhängt - eher für das Leben und die Erneuerung des Lebens. Die Erschaffung neuer Lebewesen hängt jedoch auch immer mit dem Ersetzen von Älteren zusammen, die nun nicht mehr gebraucht werden und eingehen können. Somit symbolisiert Fortpflanzung für Bataille genau wie der Tod die Vergänglichkeit des einzelnen menschlichen Individuums, seine Austauschbarkeit. Das macht dem Menschen wiederum Angst und veranlasst ihn zur Tabuisierung von Sexualität. So gibt es gerade in diesem Bereich in menschlichen Gesellschaften ein komplexes Gerüst an Verhaltensregeln, denen auch hier Universalgebote wie das Inzestverbot oder die institutionalisierte Regelung der Reproduktion (Ehe) zugrunde liegen.

Es wurde bereits gesagt, das Verbote eine Grenze zur Welt der Gewaltsamkeit ziehen sollen. Die Mehrzahl der Menschen richtet sich nach den Geboten, hält die Verbote ein und gewährleistet so die Lebensfähigkeit des Kollektivs. Um den Spagat zwischen der Welt der Arbeit und Vernunft auf der einen Seite und der Welt der Gewaltsamkeit auf der anderen Seite zu meistern, ist jedoch auch die Überschreitung des Verbots notwendig. Die Überschreitung macht das Verbot insofern komplett, als dass sie dem Individuum die innerliche Veranlagung des Verbotes bewusst macht. Solange man sich an Verbote hält, empfindet man sie eher als von außen auferlegt denn als Teil der eigenen Identität. Das Verbot erscheint eher als vernünftige Verhaltensanweisung, die der eigenen Natur eigentlich zuwider läuft. In der Überschreitung jedoch werden Gefühle freigesetzt, die über das Empfinden bei bloßer Überschreitung von fremden Schranken hinausgehen. Man spürt förmlich das Übertreten der Grenze, was sich in einem beklemmenden Hin- und Hergerissensein zwischen Widerstreben und Anziehung äußert. Bataille bezeichnet die Überschreitung auch als ein Wechselspiel von Geltung und Aufhebung des Verbots. Einerseits widerstrebt einem die Loslösung von den bestehenden Normen, denn man möchte wieder zurück in die Sicherheit der festgelegten Regeln. Andererseits übt die Überschreitung eine ungeheure Faszination aus, sie löst ein Gefühl von Freiheit und Ungebundenheit aus. In der Überschreitung wird dem Individuum somit die Anlage des Verbots in der eigenen Persönlichkeit bewusst. Seine Gefühle zeigen ihm, dass es doch nicht allein von außen auferlegt ist. Durch die Übertretung wird das Verbot zwar aufgehoben, es bleibt jedoch in den Köpfen vorhanden und verschwindet nicht ganz. In der Überschreitung mit ihrer Wechselwirkung von Anziehung und Widerstreben zeigt sich die Zweigeteiltheit der menschlichen Natur, indem zum Einen der natürliche Trieb, zum Anderen das Streben nach dem, was gerade den Menschen von der reinen Triebsteuerung unabhängig macht, gefühlt wird. An diesem Punkt kristallisiert sich die Grenze zwischen beiden Welten heraus sowie die Notwendigkeit für den Menschen, Grenzerfahrungen zu machen bzw. sich beiden Welten ein Stück hinzugeben. Indem er lernt, sich im Bereich dieser Grenze zu bewegen, lernt er den Spagat zwischen beiden konträr gegenüberstehenden Teilen seines Selbst zu meistern und sie als solche zu akzeptieren.

[...]


[1] Die Bezeichnungen „modern“ und „postmodern“ werden im Folgenden synonym für „gegenwärtig“ verwendet, entsprechend der Formulierungen in der Basis-Literatur. Da sich die Theoretiker nicht einig sind, wie die gegenwärtige Gesellschaft zu benennen ist, gibt es zum Thema Moderne/Postmoderne erhebliche Kontroversen, auf die im Rahmen dieser Hausarbeit nicht näher eingegangen werden kann.

[2] Professor in den Fachbereichen Humanmedizin und Gesellschaftswissenschaften an der Universität Frankfurt am Main, gilt als Begründer der “Kritischen Sexualwissenschaft“

[3] in Deutschland zunächst unter dem Titel „Der heilige Eros“ erschienen

[4] Der Begriff Natur wird in den folgenden Ausführungen in zweierlei Hinsicht verwendet. Die menschliche Natur beschreibt das Menschsein an sich, sein Selbst, seine Identität. Wenn an anderer Stelle von der Natur die Rede ist, wird damit die Umwelt des Menschen mit ihm als Teil bezeichnet, die auf ihn einwirkt und er auf sie. Eine eindeutige Abgrenzung lässt sich in diesem Fall streng genommen nicht treffen, anhand der Ausführungen sollte aber ersichtlich werden, was gemeint ist.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Batailles Erotik und die moderne Gesellschaft
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Soziologisches Seminar)
Veranstaltung
Entgrenzungsprozesse: Canetti – Bataille
Note
1,3
Autoren
Jahr
2003
Seiten
26
Katalognummer
V75479
ISBN (eBook)
9783638800259
ISBN (Buch)
9783638803038
Dateigröße
465 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Batailles, Erotik, Gesellschaft, Entgrenzungsprozesse, Canetti, Bataille
Arbeit zitieren
M.A. Jan Küver (Autor:in)Jana Pajonk (Autor:in), 2003, Batailles Erotik und die moderne Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75479

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