Werte und Normen in Fontanes 'Frau Jenny Treibel'


Seminararbeit, 2006

30 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Definitionen

3. Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts
3.1 Geistige und ideelle Grundtendenzen
3.2 Das Bürgertum

4. Theorie und Praxis der Werte in Frau Jenny Treibel
4.1 Bildung
4.2 Mündigkeit
4.3 Toleranz

5. Der höchste Wert

6. Schein und Sein

7. Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Frau Jenny Treibel gilt als einer der wenigen Romane Theodor Fontanes, die im Stile einer „erzählten Komödie“[1] mit „souverän augenzwinkerndem Charakter“[2] gehalten sind und zumindest vordergründig ein für alle versöhnliches Happy End aufweisen. Nicht zu übersehen ist hinter all der Heiterkeit allerdings die scharfe Kritik, die darin an der vom Bürgertum dominierten Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts geübt wird.[3]

In der Forschung wurde dieser Aspekt in zahlreichen Veröffentlichungen ausführlich beleuchtet. Da Fontane selbst in einem Brief an seinen Sohn Theodor die Kritik an der Bourgeoisie als Zweck des Romans ausgibt, wird in vielen Beiträgen darauf der Interpretationsschwerpunkt gelegt, so bei Grevel (1989), Mehrkens (1995) oder Aust (1998). In einem wertvollen Beitrag von Dieter Kafitz (1973) wird weiterhin anhand einer genauen Analyse der Person Professor Wilibald Schmidts herausgestellt, dass der Roman nicht nur das Besitzbürgertum, sondern in aller Deutlichkeit auch das Bildungsbürgertum kritisiert.

Der gesellschaftskritische Aspekt ist für das Verständnis des Romans von einer solch entscheidenden Bedeutung, dass auch Ausarbeitungen, denen eine andere Fragestellung zugrunde liegt, ihn nicht übergehen können (vgl. Turner (1973), Böschenstein (1995), Neuhaus (1998), Bauer (2000)). Ebenso ist für die Untersuchung der Werte und Normen in Frau Jenny Treibel, die Gegenstand dieser Arbeit ist, eine Berücksichtigung der vorherrschenden gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse unumgänglich, da beide Komponenten in einer wechselseitigen Beziehung stehen: Die individuellen Wertvorstellungen des Einzelnen prägen die Normen der Gesellschaft, im Gegenzug üben diese wiederum erheblichen Einfluss auf Bildung und Ausgestaltung der persönlichen Werte aus. Folglich liegen Gesellschaftskritik und Wertekritik sehr nahe beieinander und können nicht losgelöst voneinander betrachtet werden.

In der vorliegenden Ausarbeitung gilt es nun, den Roman anhand von Aussagen und Verhaltensweisen auf ihnen zugrunde liegende Wertmaßstäbe zu untersuchen. Als Hinführung dient eine Definition zu den Begriffen Wert und Norm sowie eine kurze Darstellung der Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert. Anschließend wird die für den Verlauf der Geschichte entscheidende Präsenz exemplarisch ausgewählter Werte im Denken und Handeln einzelner Romanfiguren geprüft. Das besondere Augenmerk richtet sich dabei auf die Frage, inwieweit Ideal und Wirklichkeit jeweils übereinstimmen oder differieren. In einem letzten Punkt wird die Existenz einer Diskrepanz zwischen Schein und Sein, die in der Forschungsliteratur und nicht zuletzt von Fontane selbst als Grundfehler der im Roman durch die Familien Treibel und Schmidt vertretenen bürgerlichen Gesellschaft dargestellt wird,[4] zusammenfassend analysiert.

2. Definitionen

Die Schwierigkeit der Definition und Abgrenzung der beiden Ausdrücke Wert und Norm schlägt sich nieder in einer nahezu unüberschaubaren Vielzahl an Literatur und unterschiedlichen Begriffsbestimmungen. Zur Eingrenzung werden im Folgenden wahlweise die Ausführungen aus der Theologischen Realenzyklopädie (TRE) zugrunde gelegt.

Aus philosophischer Sicht definiert Wolfhart Henckmann in der TRE Werte als „diejenigen Gegebenheiten irgendwelcher Art (…), die ein Bedürfnis oder Interesse befriedigen, ein Lustgefühl hervorrufen, Anerkennung verdienen, wünschenswert, erforderlich oder erstrebenswert erscheinen“[5]. Dabei unterscheidet er ökonomische Werte (Umsetzung durch Befriedigung von natürlichen und kulturellen Bedürfnissen durch bestimmte Güter), hedonistische Werte (Umsetzung durch Streben nach allen möglichen Arten von Lustgefühlen), moralische Werte (Umsetzung durch Pflichterfüllung oder Befolgung der anerkannten Sitten), künstlerische Werte (Umsetzung durch Kunstschaffen) und religiöse Werte (Umsetzung durch Erfüllung religiöser Vorschriften und ein Lebenswandel in Frömmigkeit). Alle Werte und Wertungsweisen unterstehen einer übergeordneten Wertordnung, die ein Urteil über positiv oder negativ, höher oder niedriger einer Denk- oder Handlungsweise ermöglicht. Konstituiert wird eine individuelle Wertordnung durch immer wiederkehrende situationsbedingte Entscheidungen des wertenden Subjekts über entsprechende Wertungsweisen, die sich je nach persönlichem Ermessen auch an einem einzelnen ausgesuchten Wert als allgemeinem Maßstab orientieren können. Daraus kristallisiert sich eine „sich allmählich ausgestaltende persönliche Wertrangordnung (heraus), aus der habituell vollzogene Wertungen folgen können.“[6]

Im theologischen und ethischen Sinne lassen sich Werte, als äquivalente Bezeichnungen gelten auch Ausdrücke wie Grundwerte, Leitbilder oder Orientierungswissen, als „Maßstäbe des Sollens und als Zielbestimmungen des sittlich Anzustrebenden“[7] definieren. Obwohl sie als perspektivisch und kulturell einzustufen sind und deshalb stetigen Veränderungen und verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten unterliegen, kommt ihnen eine besonders hohe Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit zu. Ihre vorrangige Aufgabe ist es, motivierend, orientierend, entlastend und steuernd auf das menschliche Handeln und Denken einzuwirken.

Der sprachliche Ausdruck Norm ist abgeleitet vom lateinischen Wort norma ›Winkelmaß‹, ›Richtschnur‹. Er bezeichnet in philosophischer Hinsicht einen „Maßbegriff, der es erlaubt, Ereignisse, Zustände, Dinge als normal oder anormal zu klassifizieren“.[8] Rechtlich und moralisch gesehen, betrifft dies vor allem das rechtlich oder moralisch Erlaubte, an dem das menschliche Handeln gemessen werden kann. In einer Gesellschaft geben Normen aufgrund ihres Befehlscharakters ein Erwartungsmuster an „normalen“, d. h. der Norm gemäßen Verhaltensweisen vor, dessen Entstehung und Geltung von der Haltung der Normproduzenten und Normadressaten abhängig ist.[9] Hierbei wird eine allgemeine prinzipielle Übereinstimmung und Anerkennung des als richtig und normal Empfundenen vorausgesetzt.[10]

Der Zusammenhang zwischen Normen und Werten kann darin gesehen werden, dass Normen durch Werte begründet werden und dass die Normen einer Gesellschaft ein sich aus verschiedenen allgemein akzeptierten Werten allmählich herausgebildetes vorherrschendes Wertesystem bezeichnen.[11] Umgekehrt kann sich eine Werteordnung im Sinne der obigen Darstellung jedoch auch in Anlehnung an gesellschaftliche Normen herausbilden. Normen und Werte stehen also in diesem Sinne in einer engen Korrelation zueinander. Differieren jedoch gesellschaftliche Norm und individuelle Werteinsicht, so verlangt das eine persönliche Prioritätensetzung, die entweder zu einem möglicherweise folgenschweren Bruch mit den sanktionierten Normen oder zur Missachtung und Verletzung der eigenen Wertvorstellungen führen muss.[12]

3.Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts

Zwar wird in Frau Jenny Treibel ein bestimmtes Jahr, in das das Romangeschehen einzuordnen ist, nicht genannt, doch aus verschiedenen Textstellen (vgl. 14, 38)[13] lässt sich ableiten, dass die Vorgänge sich im Jahre 1888 abspielen, dass Fontane in seinem Roman also die damalige Gegenwart abzubilden beabsichtigte.[14] Um die Frage nach den Wertvorstellungen und Normen, die sich hinter Aussagen und Verhaltensweisen der handelnden Personen verbergen, hinreichend beantworten zu können, ist es daher wichtig, sich ein Bild über die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und ihre geistigen und ideellen Grundlagen zu machen.

3.1 Geistige und ideelle Grundtendenzen

Das 19. Jahrhundert wird von vielen Historikern häufig als das „lange“ 19. Jahrhundert, das 1789 mit der Französischen Revolution begann und erst 1914 mit Beginn des Ersten Weltkrieges endete, bezeichnet.[15] Dafür, die Französische Revolution an den Anfang dieses Jahrhunderts zu setzen, spricht die unbestrittene Tatsache, dass sie ganz Europa in einem beträchtlichen Maße geprägt und verändert hat. Die Schlagworte liberté, égalité, fraternité fanden auf breiter Basis Eingang in das Denken der Menschen, prägten die allgemeinen Wert- und Normvorstellungen und gaben Raum für Veränderungen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Art, die das gesamte Jahrhundert kennzeichneten.

Aufklärerisches Gedankengut, aus dem vornehmlich auch die Ideen der Französischen Revolution hervorgegangen waren, übte maßgeblichen Einfluss auf Denk- und Verhaltensweisen der Gesellschaft und trug wesentlich zur Emanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert bei.[16] Autoritäten, die sich aus bloßer Tradition und Überlieferung begründeten, wurden nicht mehr kritiklos akzeptiert. Es entwickelte sich ein individualistisches Gesellschaftsverständnis, das im Befriedigen der individuellen Bedürfnisse das Wohlergehen der Gesamtheit begründet sah. Umgekehrt zeigte sich im Prozess der Nationsbildung und Nationalstaatengründung die Idee der Einbindung des aus der tendenziellen Auflösung freier ständischer Formen entstandenen freien Individuums in eine neue Kollektivpersönlichkeit: in die der Nation. Die überwältigenden Erfolge in Wissenschaft und Technik führten zu einem Fortschrittsoptimismus und zum Glauben an die bedingungslose Beherrschbarkeit der Natur. Gleichzeitig konnte eine fortschreitende Säkularisierung beobachtet werden, die einem durch den menschlichen Verstand und die naturwissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse sich verändernden Weltbild Rechnung trug. Man trachtete danach, sich von den „durch Überlieferung, Gewohnheit und Dogma, durch überkommene Rechtsverhältnisse, durch monarchische Prärogative oder fürstlichen Despotismus gesetzten Beschränkungen der Denk- und Handlungsfreiheit“[17] zu emanzipieren. Die bürgerlichen Schichten strebten mehr und mehr eine Verfassung und die damit verbundene Partizipation an der politischen Macht an.

Die weit reichenden Veränderungen im Zuge der industriellen und technischen Revolution, zu denen Verstädterung und Entstehung von Großstädten, Aufwertung des Sekundärfaktors Industrie zuungunsten des Primärfaktors Landwirtschaft und die Herausbildung der Industriearbeiter- und Angestelltenklasse gehörten, führten auch in mentaler Hinsicht zu grundlegenden Veränderungen: Wertesysteme, Einstellungen und Denkhaltungen bedurften vielfach einer Neuorientierung und Umgestaltung.[18]

3.2 Das Bürgertum

Als vorrangiger Träger dieser Entwicklungen galt das Bürgertum, das das 19. Jahrhundert in einem solchen Maß prägte, dass zuweilen auch vom bürgerlichen Jahrhundert gesprochen wird.[19] Zwar war der zahlenmäßige Anteil der bürgerlichen Schicht an der gesamten Gesellschaft vergleichsweise gering, doch spielte sie in Gewerbe und Handel, Kultur und Politik eine bedeutende Rolle. Die beiden Kerngruppen bildeten das Wirtschafts- oder Besitzbürgertum, zu dem Kaufleute, Fabrikanten und Bankiers, Kapitalbesitzer, Unternehmer und Direktoren zählten und das Bildungsbürgertum, das Ärzte, Juristen, Gymnasiallehrer, Professoren, Richter, Beamte, Naturwissenschaftler und Diplom-Ingenieure einschloss.[20] Obwohl innerhalb des Bürgertums große Heterogenität bezüglich Bildung, Einkommen, sozialer Herkunft und gesellschaftlicher Funktion bestand, verbanden seine Angehörigen aber die vom Grundsatz her von allen akzeptierten weltanschaulichen, ästhetischen, moralischen und politischen Werte.[21]

Als „überlokale, gesamtgesellschaftliche, nachständische Formation“[22] hat sich das Bürgertum zum Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhundert im Zuge des gemeinsamen Wunsches einer deutlichen Distanzierung von den traditionellen Autoritäten herausgebildet. Diese Abgrenzung wurde vor allem mit der Setzung neuer Schwerpunkte demonstriert: So sollte das Selbstverständnis beispielsweise über individuelle Leistung und Bildung anstatt über eine geburtsständisch oder transzendental gedachte Legitimierung definiert werden. Ganz im Sinne des Kantschen Aufklärungsgedankens galt es, sich von jeglicher Beherrschung von oben zu lösen und die Gesellschaft selbst aus eigener Vernunft heraus zu organisieren.[23] Der Widerstand gegen Adel, Absolutismus und Kirche schuf ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das das Prinzip der allgemeinen Freiheit und Gleichheit auch für die niedrigeren nicht dem Bürgertum angehörenden Schichten einschloss.

Der technisch-industrielle Prozess veränderte dieses Selbstverständnis mit all seinen Grundprinzipien. Aufgrund der neuen Möglichkeiten, zu Reichtum und Ansehen zu gelangen, blieben viele Idealvorstellungen auf der Strecke. Aus der Forderung nach individueller Leistung und Bildung resultierte der Anspruch auf Anerkennung finanzieller, sozialer und politischer Art.[24] Entsprechend definierten sich die Angehörigen des Bürgertums zum Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr über ihre Position als Wirtschaftsbürger, die großen Wert auf Vermögen und gesellschaftliches Ansehen legten.[25] Selbst der Bildungsanspruch verlor gegenüber dem Besitzstreben an Gewicht. Bildung wurde vielfach nur noch als Mittel zur Verbesserung der materiellen und finanziellen Situation gesehen.[26] Die Folge davon war das zunehmende Bemühen um eine deutliche Abgrenzung nicht mehr nur nach oben, sondern vor allem nach unten.[27] Die Mittelstellung des Bürgertums zwischen der Arbeiterschicht und dem Adel ließ häufig die Angst aufkommen, auf der sozialen Leiter abzusteigen, was eine freundschaftliche oder gar devote Haltung gegenüber dem Adel zur Folge hatte. Angesichts dieser sich abzeichnenden Orientierung an Adel, Militär und Bürokratie, solchen Modellen, die den bürgerlichen Traditionen eigentlich widersprachen, drohte die spezifische, bürgerliche Prägung verloren zu gehen.

Festzustellen ist im Zuge dieser Entwicklungen ein immer größer werdender Widerspruch zwischen dem unveränderten Anspruch auf Unabhängigkeit und Gleichheit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaftsschicht und der Realität einer durch Kapitalismus und industrieller Revolution entstandenen Klassengesellschaft mit neuen Abhängigkeiten, die vom Besitzbürgertum dominiert wurde.[28]

4. Theorie und Praxis der Werte und Normen in Frau Jenny Treibel

Wie im 2. Kapitel dargestellt, sind Werte und Normen unverbindliche oder verbindliche Richtlinien, die der Ausrichtung und Beurteilung eigener und fremder Denk- und Verhaltensweisen zugrunde liegen. Sie kommen zum Ausdruck, wenn in einer konkreten Situation von der handelnden Person eine Entscheidung über eine entsprechende Reaktion gefällt wird, aber auch, wenn über sie gesprochen wird. Zu unterscheiden sind hierbei die theoretischen Ansprüche, die in Worte gefasst werden, und ihre praktische Umsetzung. Diese Unterscheidung scheint für die Untersuchung der Werte und Normen in Frau Jenny Treibel in Anbetracht der Tatsache, dass der Roman zu etwa 70 % aus Gesprächen besteht, besonders notwendig zu sein.[29] Im Folgenden gilt es also herauszustellen, welche Werte und Normen dem Denken und Handeln der Romanfiguren in Theorie und Praxis zugrunde liegen. Da im Rahmen dieser Arbeit eine umfassende Analyse nicht möglich ist, wird hier exemplarisch eine Beschränkung auf drei Leitbilder vorgenommen, die meines Erachtens besonders dafür geeignet sind, das sich aus dem Roman erschließende gesellschaftliche Normen- und Wertesystem zu umreißen.

4.1 Bildung

Dass Bildung als Wert mit herausragender Bedeutung angesehen wird, lässt sich bei nahezu allen handelnden Personen ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zum Besitz- oder Bildungsbürgertum des Romans beobachten.

Corinnas Ambitionen auf eine Heirat mit Leopold Treibel werden von ihrem Vater, von Marcell und von der Witwe Schmolke gleichermaßen missbilligt. Sie braucht nach deren Einschätzung angesichts ihrer Klugheit und Bildung einen Mann, „der eigentlich klüger ist“ (186) als sie, der mehr kann, als „einen Dürer’schen Stich von einem Ruppiner Bilderbogen“ (58)[30] zu unterscheiden. Nur ein Mann „von Bildung und Charakter“ (82) könne sich als ihrer wert erweisen.

Immer wieder wird sie als ihres Vaters Tochter erkannt (12, 58 f., 85), die ihm die Hefte korrigiert (156) und ihn sogar an Klugheit übertrifft (59). Auch sie selbst weiß um die Vorzüge ihres Verstandes und setzt sie darum geschickt und berechnend für ihre Zwecke ein (173). Sie „verwirrt die Männer nicht durch ihre körperlichen Reize, sondern besticht durch ihren Esprit – sie ist eine unerotische intelligente Verführerin“[31], so formuliert es Karen Bauer. Marcell erklärt Professor Schmidt: „Sie nimmt sich erbarmungslos einen aufs Korn, einen, an dessen Spezialeroberung ihr gelegen ist, und du glaubst gar nicht, mit welcher grausamen Konsequenz, mit welcher infernalen Virtuosität sie dies von ihr erwählte Opfer in ihre Fäden einzuspinnen weiß.“ (83) Zwar streicht er mit diesen Worten das Kalte und Berechnende in ihrem Verhalten heraus, trotzdem klingt darin auch eine gewisse Bewunderung für ihren messerscharfen Verstand mit. Einen weiterer Bewunderer findet Corinna in Kommerzienrat Treibel, der sie „eine kluge, immer heitere, immer unterhaltliche Person, die wenigstens sieben Felgentreus in die Tasche steckt – nächststehender Anverwandten ganz zu schweigen“ (161), nennt. Selbst Jenny Treibel hält viel von Corinnas Belesenheit und ihrem Allgemeinwissen und ist deshalb an ihrer Anwesenheit beim Diner zu Ehren des Engländers Mr. Nelson interessiert (12). Anerkennend muss sie feststellen, dass Corinna ihren eigenen Söhnen intellektuell haushoch überlegen ist: „(…) so steckt sie meine beiden Jungen in die Tasche. Mit Otto ist nicht viel, und mit Leopold ist gar nichts.“ (153)

Gebildeten Menschen wird ganz offensichtlich, wie an der Person Corinna Schmidts exemplarisch dargestellt, größter Respekt gezollt. Bildung ist folglich ein angestrebter und geachteter Wert – und das nicht nur innerhalb des Bildungsbürgertums.

Kommerzienrat Treibel gefällt sich darin, mit Eloquenz und breit gestreuten Literaturkenntnissen aufzuwarten. Der Trinkspruch, den er beim Diner ausbringt, ist flüssig und rhetorisch tadellos (40 f.).[32] Auf Goethe („Meine Ruh ist hin“ (48)) und vor allem auf Schiller („‚unter Larven die einzige fühlende Brust’“ (113), „das ist Tells Geschoss“ (116), „ich kenne meine Pappenheimer“ (114), „mehr der Not gehorchend als dem eigenen Triebe“ (35), „Lady Milford“ (45), „Dank vom Hause Österreich“ 127)) spielt er so häufig an, dass es schon an Übersteigerung und mangelnde Differenzierungsfähigkeit grenzt. Zahlreiche Bibelzitate („wie der Hirsch nach Wasser schreit“ (26), „der Gerechte muss viel leiden“ (127), „das sei ferne von mir (127)), französische Brocken („Manquement (129), „Eh bien“ (45), „l’appétit vient en manageant“ (34)) sowie lateinische Sentenzen („gutta cavat lapidem“ (20)) lässt er wiederholt in seine Äußerungen einfließen.

Seine Frau Jenny, ursprünglich aus dem Kleinbürgertum stammend (16), spart nicht mit Aussagen über ihre Gebildetheit infolge ihrer angeblich naturgegebenen Literatur- und Poesieliebe: „Wenn mir nicht der Himmel, dem ich dafür danke, das Herz für das Poetische gegeben hätte (…), so hätte ich nichts gelernt und wüsste nichts. Ich habe mich an Gedichten herangebildet und wenn man viele davon auswendig weiß, so weiß man doch manches.“ (12) Wissen und Klugheit in Verbindung mit dem „Höheren“ (135) benennt sie als dasjenige, worauf es ankommt, „alles andere wiegt keinen Pfifferling“ (135). Sie philosophiert darüber, ob nicht „das andere, das auf Kunst und Wissenschaft deutet, doch einen feineren Klang hat“ (153) als ein gesellschaftlicher Aufstieg. Auch sie legt Wert auf eine gepflegte mit Literaturzitaten („auf den Höhen der Menschheit“ (28), „‚Gold ist nur Chimäre’“ (32)) durchsetzte Ausdrucksweise.

Es entspricht zweifellos der Norm, einem gewissen Bildungsideal zu genügen, sich dafür etwa den „Sprach- und Bilderschatz deutscher Nation“ (158 f.) anzueignen[33] und damit die Zugehörigkeit zur bürgerlichen Elite zu demonstrieren.[34] Jenny Treibel tadelt ihren Mann wegen einer von ihm wohl unbedacht gebrauchten Redensart: „Du könntest dich mit deinen Vergleichen etwas höher hinaufschrauben; ‚verhagelte Gerste’ hat einen überaus ländlichen, um nicht zu sagen bäuerlichen Beigeschmack.“ (158) Von ihrer Mutter, so berichtet Jenny, habe sie gelernt, den Dichter Herwegh zu schätzen, schon aus dem einfach Grund, dass ihn die „besseren Klassen“ (31) alle lesen. Die Lektüre seiner Werke habe ihr also gewissermaßen den Zugang zu den besseren Klassen verschafft.[35]

So gesehen bedeutet Bildung, das lässt sich aus dieser Aussage ableiten, vor allem eines: Die Möglichkeit zum Aufstieg in die höheren Klassen. Sie wird demgemäß nur sehr bedingt um ihrer selbst willen geschätzt. So viel Jenny auch darüber spricht, dass für sie „ Wissen und Klugheit und überhaupt das Höhere“ (135) oberste Priorität einnehmen: Wenn es darauf ankommt, diesen Worten Taten folgen zu lassen, wird ihre wahre Gesinnung sichtbar. An erster Stelle stehen die gesellschaftliche Stellung, Vermögen, Besitz und Macht, eben die Dinge, die für das Besitzbürgertum kennzeichnend sind. Bildung kann demgegenüber nur als dekorative Komponente angesehen werden.[36] So qualifiziert sich der ehemalige Opernsänger Adolf Krola als Dauergast für die Treibelschen Feste und Feiern durch „sein gutes Äußere, seine gute Stimme und sein gutes Vermögen“ (27) Die Annahme liegt nahe, dass letztgenannte Eigenschaft als ausschlaggebend gilt und die ersteren lediglich als dekorativer Zusatz willkommen sind. Dieses entscheidende Detail fehlt Corinna zu ihrer Qualifizierung zur potentiellen Treibelschen Schwiegertochter. Nach Jennys Vorstellung soll Leopold zwar „eine kluge Frau (…), eine wirklich kluge“ (135) und außerdem „etwas Apartes“ (94) haben, aber obwohl Corinna beide Eigenschaften besitzt (58 f.), akzeptiert Jenny sie allenfalls als Dreingabe. Die Bewunderung, die Jenny für Corinnas Intelligenz empfunden hat, kehrt sich angesichts der Übertretung der von ihr gesetzten Grenze ins Gegenteil: „Diese gefährliche Person, die vor nichts erschrickt und dabei ein Selbstbewusstsein hat, dass man drei Prinzessinnen damit ausstaffieren könnte, gegen die müssen wir uns rüsten (…). Sie hat ganz den Professorendünkel und ist imstande sich einzubilden, dass sie dem Hause Treibel noch eine Ehre antut.“ (167) Dabei, so behauptet Corinna, ist die Kritik am „Professorendünkel“ nur ein Vorwand: Wäre sie dazu in der Lage, Jennys höchste Bedingung zu erfüllen, nämlich dazu angetan zu sein, „das Treibelsche Vermögen zu verdoppeln“ (181), so würde ihr ihre „Professorlichkeit“ (181) nicht nur Akzeptanz, sondern zusätzlich „die Höhe der Bewunderung“ (181) einbringen.

Doch nicht nur bei Jenny ist Bildung ein Mittel zum Zweck. Corinna setzt sie ein, um das zu erreichen, um dessenwillen sie ihre Existenz begründet sieht, nämlich sich umworben zu wissen (58). Sie strebt danach, auf der sozialen Leiter emporzusteigen („Die Jugend ist gut, aber ‚Kommerzienrätin’ ist auch gut und eigentlich noch besser.“ (11)) und sich ihren Wunsch nach „Wohlleben“ (59) zu erfüllen. Sie träumt davon, glitzernde Brillanten zu tragen wie ihre „Schwiegermama in spe“ (60) und sich nicht mehr einschränken zu müssen. In diesem Sinne unterscheidet sich ihre Haltung nicht wesentlich von Jennys.[37]

Selbst für Professor Schmidt, für den Wissenschaft und Bildungsvermittlung Lebenssinn und -inhalt bedeuten, stellt Bildung die Möglichkeit dar, Karriere zu machen. Mit dem Aufstieg zum Gymnasiallehrer hat er ein für einen Angehörigen des niederen Beamtenmilieus (9) durchaus sehenswertes Ziel erreicht.[38] Das „grüne knittrige Blechschild, darauf ‚Professor Wilibald Schmidt’ (…) zu lesen war“, (7) kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass Schmidt auf seinen sozialen Aufstieg und seinen Professorentitel durchaus stolz ist.[39] Bei Corinnas und Marcells ehelicher Verbindung hat er schon von vorneherein Marcells mögliche Beförderung zum Privatdozenten oder Extraordinarius im Blick (196).

Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass das Gebildetsein zwar für alle Romanfiguren eine gewisse Rolle in ihrer Selbstdefinition spielt,[40] dass es aber aufgrund seiner Funktion als Dekoration bzw. Mittel zum Zweck als vordergründig und dünkelhaft klassifiziert werden muss.

[...]


[1] Müller-Seidel, S. 316.

[2] Grawe, S. 614.

[3] Aust (1998), S. 151.

[4] Schäfer, S. 12; Cowen, S. 342; Aust (1998), S. 153; Bae, S. 84.

[5] Henckmann, S. 648.

[6] Henckmann, S. 651.

[7] Kreß, S. 654. Ethische Werte können z. B. Leitbilder wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Frieden oder Toleranz sein, vgl. Kreß, S. 654.

[8] Schrader, S. 620.

[9] Ebd., S. 621.

[10] Ebd., S. 622.

[11] Henckmann, S. 651.

[12] Henckmann, S. 651.

[13] Alle eingeklammerten Seitenangaben beziehen sich auf die im Literaturverzeichnis aufgeführte Reclam-Ausgabe.

[14] Mehrkens, S. 171; Schäfer, S. 14.

[15] Frevert/Haupt, S. 9.

[16] Schweikle, S. 30.

[17] Bauer, Franz J., S. 42.

[18] Bauer, Franz J., S. 61.

[19] Kocka, S. 11.

[20] Die kleinen Selbstständigen (Handwerker, Kleinhändler, Gastwirte etc.) gehörten im weiten Sinn auch zum Bürgertum, doch fiel ihre Bedeutung immer mehr hinter Besitz- und Bildungsbürgertum zurück, so dass sie schließlich zum Kleinbürgertum gezählt wurden, vgl. Kocka, S. 12 f.

[21] Bauer, Franz J., S. 66.

[22] Kocka, S. 20.

[23] Schäfer, S. 11.

[24] Kocka, S. 27.

[25] Grevel, S. 181.

[26] Grevel, S. 180 f.

[27] Schäfer, S. 16.

[28] Kocka, S. 43.

[29] Cowen, S. 334.

[30] Durch die Absurdität, den Ruppiner Bilderbogen (eine Art Vorläufer der heutigen Illustrierten) in Relation zu Albrecht Dürer zu setzen, stellt Marcell Leopold Treibels Intellekt und schlechte Bildung in ein äußerst unvorteilhaftes Licht, vgl. Wagner, S. 27.

[31] Bauer, Karen, S. 229.

[32] Schäfer, S. 54 f.

[33] Häufiges Zitieren war im 19. Jahrhundert Merkmal der deutschen bürgerlichen Bildung, vgl. Kafitz, S. 79.

[34] Greif, S. 283. Dazu gehörte in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts unabdingbar der gesellschaftliche Verkehr mit Angehörigen des Bildungsbürgertums, denn Gelehrte galten als Personifizierung des Bildungsideals. Entsprechend sind Mitglieder der Familie Schmidt in Frau Jenny Treibel gern gesehene Gäste bei den Treibel’schen Diners und Landpartien, vgl. Ellinger, S. 104.

[35] Grevel, S. 189 f.

[36] Schäfer, S. 49

[37] Joch, S. 59.

[38] Grevel, S. 193; Joch, S. 52.

[39] Joch, S. 52 f.

[40] Selbst die Witwe Schmolke gibt ihre „Unvertrautheit mit Fremdwörtern“ (189) nicht gerne zu.

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Details

Titel
Werte und Normen in Fontanes 'Frau Jenny Treibel'
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Neuphilogisches Institut, Germanisitisches Seminar)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
30
Katalognummer
V75729
ISBN (eBook)
9783638813044
Dateigröße
521 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Werte, Normen, Fontanes, Frau, Jenny, Treibel
Arbeit zitieren
Ella Plett (Autor:in), 2006, Werte und Normen in Fontanes 'Frau Jenny Treibel', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75729

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