„Wenn man sich die Wirklichkeit der Rütli-Schule und anderer Schulen in Berlin und im Bundesgebiet ansieht, die Wirklichkeit von Hauptschulen vor allem, dann sieht es so aus, als ginge es dort inzwischen zu wie einstmals in der Bronx.“ Solche und ähnliche Berichte sind in den vergangenen Monaten vermehrt zu lesen und zu hören. Es ist die Rede von Gewalt an Schulen, von unzumutbaren Zuständen und angsterfüllten Lehrern – vor allem an Hauptschulen. In diesem Zusammenhang wird auch in der Öffentlichkeit bekannt, dass beispielsweise an der Kepler-Oberschule (Hauptschule) in Berlin-Neukölln, an der Bundespräsident Horst KÖHLER im September diesen Jahres seine Berliner Rede gehalten hat, nur ein einziger Schulabgänger dieser Schule einen Ausbildungsplatz in Aussicht hatte. Die Hauptschule als Sammelzentrum der „Verlierer“ und „Versager“ des deutschen Bildungswesens prägt das Bild in der Öffentlichkeit.
Auch KÖHLER kommt zu dem Schluss, „...dass unser Bildungssystem sich nicht auf der Höhe der Zeit befindet.“ Vor allem am Beispiel der Hauptschulen und den damit verbundenen Problemen, lässt sich diese Aussage belegen.
In seiner Rede sagt KÖHLER weiter: „… Und es gibt ja viel Gutes, an das wir anknüpfen können. Engagierte Pädagogen machen immer noch das Beste aus schwierigen Bedingungen, und deutsche Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen bringen immer noch Spitzenleistungen hervor. Aber mit `immer noch´ dürfen wir uns nicht länger zufrieden geben. Gerade in Sachen Bildung müssen wir im Interesse aller viel ehrgeiziger sein. Konzentrieren wir uns also auf das Wesentliche. Konzentrieren wir uns auf Bildung.“
Gerade an diesem Punkt wird die aktuelle Debatte um die Hauptschule interessant. Als mögliche Lösungsansätze des Problems Hauptschule werden zum einen die Profilierung und zum anderen die Auflösung dieser Schulform diskutiert. In wie weit hier jeweils der Bildungsgedanke im Vordergrund steht, gilt es in der folgenden Arbeit zu untersuchen. Wird Bildung als Ziel der Hauptschule überhaupt noch angestrebt? Wenn die Hauptschule auch weiterhin als allgemeinbildende Schule gelten soll, stellt sich die Frage, ob sie in dieser Form mit all´ den vorhandenen Problemen eine Perspektive hat oder diesen Gedanken längst zugunsten anderer Schwerpunkte vernachlässigt. Hat die Hauptschule eine Zukunft?
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Geschichte und Entwicklung der Hauptschule
2. Die Krise der Hauptschule
2.1. „Restschule“
2.2. Die „Wertlosigkeit“ des Hauptschulabschlusses
2.3. Fazit
3. Lösungsansätze
3.1. Eigene Profilbildung
3.2. Auflösen der Hauptschule
3.3. Fazit
Resümee
Literatur / Quellen
Literatur
Quellen
Danksagung
Einleitung
„Wenn man sich die Wirklichkeit der Rütli-Schule und anderer Schulen in Berlin und im Bundesgebiet ansieht, die Wirklichkeit von Hauptschulen vor allem, dann sieht es so aus, als ginge es dort inzwischen zu wie einstmals in der Bronx.“[1]
Solche und ähnliche Berichte sind in den vergangenen Monaten vermehrt zu lesen und zu hören. Es ist die Rede von Gewalt an Schulen, von unzumutbaren Zuständen und angsterfüllten Lehrern – vor allem an Hauptschulen. In diesem Zusammenhang wird auch in der Öffentlichkeit bekannt, dass beispielsweise an der Kepler-Oberschule (Hauptschule) in Berlin-Neukölln, an der Bundes-präsident Horst Köhler im September diesen Jahres seine Berliner Rede gehalten hat, nur ein einziger Schulabgänger dieser Schule einen Ausbildungsplatz in Aussicht hatte. Die Hauptschule als Sammelzentrum der „Verlierer“ und „Versager“ des deutschen Bildungswesens prägt das Bild in der Öffentlichkeit.
Auch Köhler kommt zu dem Schluss, „...dass unser Bildungssystem sich nicht auf der Höhe der Zeit befindet.“[2] Vor allem am Beispiel der Hauptschulen und den damit verbundenen Problemen, lässt sich diese Aussage belegen. Hier stellt sich die Frage, ob diese Schulform überhaupt noch eine Zukunft hat oder nicht vielmehr schon von Anfang an – seit ihrer Einführung – zum Scheitern verurteilt war.
In seiner Rede sagt Köhler weiter:
„… Und es gibt ja viel Gutes, an das wir anknüpfen können. Engagierte Pädagogen machen immer noch das Beste aus schwierigen Bedingungen, und deutsche Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen bringen immer noch Spitzenleistungen hervor. Aber mit `immer noch´ dürfen wir uns nicht länger zufrieden geben. Gerade in Sachen Bildung müssen wir im Interesse aller viel ehrgeiziger sein. Konzentrieren wir uns also auf das Wesentliche. Konzentrieren wir uns auf Bildung.“[3]
Gerade an diesem Punkt wird die aktuelle Debatte um die Hauptschule interessant. Als mögliche Lösungsansätze des Problems Hauptschule werden zum einen die Profilierung und zum anderen die Auflösung dieser Schulform diskutiert. In wie weit hier jeweils der Bildungsgedanke im Vordergrund steht, gilt es in der folgenden Arbeit zu untersuchen. Können diese Lösungsansätze Bildung überhaupt gewährleisten? Wird Bildung als Ziel der Hauptschule überhaupt noch angestrebt? Und, in wie weit wird die Hauptschule als allgemeinbildende Schule ihrem Bildungsauftrag überhaupt noch gerecht? Wenn die Hauptschule auch weiterhin als allgemeinbildende Schule gelten soll, stellt sich die Frage, ob sie in dieser Form mit all´ den vorhandenen Problemen eine Perspektive hat oder diesen Gedanken längst zugunsten anderer Schwerpunkte vernachlässigt. Wie wichtig aber Bildung für die Zukunft der Gesellschaft ist, betont Horst Köhler in seiner Rede ausdrücklich:
„Bildung bedeutet nicht nur Wissen und Qualifikation, sondern auch Orientierung und Urteilskraft. Bildung gibt uns einen inneren Kompass. Sie befähigt uns, zwischen Wichtig und Unwichtig und zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.
Bildung hilft, die Welt und sich selbst darin kennen zu lernen. Aus dem Wissen um das Eigene kann der Respekt für das Andere, das Fremde wachsen. Und sich im Nächsten selbst erkennen, heißt auch: fähig sein zu Empathie und Solidarität, Bildung ohne Herzensbildung ist keine Bildung.
Erst wenn Wissen und Wertebewusstsein zusammenkommen, dann ist der Mensch fähig, verantwortungsbewusst zu handeln. Und das ist das höchste Ziel der Bildung. (...)
Übrigens ist auch Demokratie auf Bildung angewiesen. Unsere freiheitliche Gesellschaft lebt davon, dass mündige Bürgerinnen und Bürger Verantwortung für sich und das Gemeinwohl übernehmen. (...) Eine Demokratie dagegen braucht wache und interessierte Bürger, die Ideen entwickeln und Fragen stellen.“[4]
Kann die Hauptschule bzw. unser in der heutigen Form bestehendes Schulwesen insgesamt diesem Ziel gerecht werden? Hat die Hauptschule eine Zukunft?
Zur Beantwortung dieser Fragen werde ich im folgenden zunächst die Geschichte und Entwicklung der Hauptschule darstellen. Dabei steht die Frage im Vordergrund, warum die Hauptschule eingeführt wurde und welche Ziele und Grundsätze damit verfolgt wurden. Chancengleichheit, Wissenschaftsorientierung und vor allem Bildung sind dabei wichtige Schlüsselwörter, die weiter erläutert und deren fundamentale Bedeutung für das allgemeinbildende Schulwesen herausgearbeitet werden sollen. Eine der grundlegenden Quellen ist in diesem Zusammenhang der Strukturplan für das Bildungswesen[5], den der Deutsche Bildungsrat[6] 1970 herausgegeben hat. Hier wurden Grundsätze formuliert, die im gesamten Schulwesen Anwendung finden sollten und bis heute nicht an Aktualität verloren haben.
Im anschließenden Kapitel „Die Krise der Hauptschule“ werde ich die gegenwärtige Situation der Hauptschulen näher betrachten. In vielen Bundesländern ist die Hauptschule inzwischen abgeschafft und mit der Realschule zusammengelegt worden. Die neuen Bundesländer haben nach der Wiedervereinigung vollständig auf die Einrichtung der Hauptschule als eigenständige Schulform verzichtet. Auch die Zahlen der Hauptschüler unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland stark. Doch warum ist das so? Was sind die Beweggründe, die Hauptschule aufzulösen? Hier ist es angebracht, die vorhandenen Probleme, die diese Schulform mit sich bringt, näher zu beleuchten. Auf sämtliche Belastungen im einzelnen detailliert einzugehen, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Daher konzentriere ich mich auf zwei wesentliche Notlagen, die ich in eigenen Kapiteln behandeln werde: Die Hauptschule als „Restschule“ sowie den Niveauverlust des Hauptschulabschlusses.
Dabei steht vor allem die Schülerklientel im Vordergrund. Soziale Verhältnisse, familiäre Hintergründe, Gewalt, „Schulschwänzen“ und gesellschaftliche Veränderungen spielen in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. Damit einhergehend ist die Frage der Perspektivlosigkeit von Hauptschülern wichtiges Kriterium als Erklärungsansatz für die mangelnde Motivation der Schüler. Die Wertlosigkeit des Hauptschulabschlusses und die daraus folgenden geringen Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt verkomplizieren die Situation zunehmend. In wie weit wird die Qualität der Schule dadurch beeinträchtigt und welche Schwerpunkte werden heute gesetzt, um damit verbundene Probleme zu bewältigen?
In der aktuellen Debatte werden zwei verschiedene Lösungsansätze diskutiert: Die stärkere Profilierung und die Auflösung der Hauptschule als eigenständige Schulform. Auf der einen Seite wird gefordert, der Hauptschule ein deutlicheres eigenständiges Profil zu geben, andere Schwerpunkte zu setzen und diese Schulform verstärkt vom Ziel der Ausbildungsfähigkeit her zu definieren. Die andere Seite fordert die Auflösung der Hauptschule zugunsten einer kombinierten Haupt- und Realschule oder Integrierten Gesamtschule. Hier wird Schulbildung mehr vom Prozess als vom Ziel her betrachtet. Beide Richtungen werde ich detailliert darstellen und deren Vor- und Nachteile herausarbeiten.
In der abschließenden Diskussion werde ich zu beiden Lösungsansätzen Stellung nehmen und meine Sicht der Dinge auf Basis der herausgearbeiteten Erkenntnisse darstellen. Die Frage, ob die Hauptschule m.E. eine Zukunft hat und ein neues eigenständiges Profil erarbeiten oder besser aufgelöst werden sollte, wird an dieser Stelle beantwortet.
Die Literatur zum Thema Hauptschule und den damit verbundenen Schwierigkeiten und Problemen ist sehr umfangreich. Vor allem in den späten 70er Jahren und erneut 20 Jahre später wurde zu dieser Frage sehr viel publiziert. Interessant dabei ist, wie wenig sich die Erkenntnisse dieser beiden Epochen unterscheiden. In der Zwischenzeit, den 80er und frühen 90er Jahren, gibt es hingegen nur wenige Veröffentlichungen. Bildungsfragen sind immer auch Gesellschaftsfragen und somit ist die Kritik am Bildungswesen immer auch Kritik an der Gesellschaft bzw. der Politik der Zeit. In der von mir verwendeten Literatur wird dies immer wieder sehr deutlich.
Das Fehlen von Langzeitstudien und -untersuchungen macht hingegen einen vollständigen Überblick über die vergangenen 40 Jahre Hauptschule unmöglich. Als weiteres Problem stellt sich die Länderhoheit über das Bildungswesen dar. In vielen Bundesländern gibt es keine Hauptschulen mehr, in den neuen Bundesländern hat es sie nie gegeben und in den Ländern, in denen die Hauptschule weiterhin als eigenständige Schulform existiert, unterscheiden sich die Zielformulierungen und Schulgesetze zum Teil erheblich. So muss die Darstellung exemplarisch bleiben und sich auf vorhandene, zum Teil widersprüchliche Daten und Ergebnisse beziehen.
1. Geschichte und Entwicklung der Hauptschule
Mit dem Hamburger Abkommen der Kultusministerkonferenz (KMK) von 1964 wurde der Begriff „Hauptschule“ offiziell eingeführt. Die Hauptschule löste die bisherige Volksschuloberstufe ab und sollte der Realschule und dem Gymnasium im Prinzip gleichwertig sein.[7] Damit war auch die Hoffnung verbunden, soziale Ungleichheit zu vermeiden, das unterste Niveau der Sekundarschule aufzuwerten und mehr Schülerinnen und Schülern[8] höhere Qualifikationen zu ermöglichen. Durch ein differenzierteres System sollten die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Schulformen verbessert und die Bildungssysteme der verschiedenen Bundesländer harmonisiert werden. Mit Einführung der Hauptschule besuchten von nun an alle Schüler eine weiterführende Schule.[9]
Im Gegensatz zur Volksschule verfolgten die Lehrpläne der Hauptschule das Ziel, eine theoretisch-wissenschaftliche Bildung zu vermitteln. In der Volksschule standen noch der volks- und heimatkundliche Unterricht, praktisches Tun und Anschauung sowie ein ganzheitliches Bildungsverständnis im Vordergrund, und sie war eine Pflichtschule für die, die keinen Zugang zu höherer Bildung hatten. Damit galt an der Volksschule ein Handlungs- und Lebensbezug ohne theoretische Systematik vor allem für die Kinder der handarbeitenden Schichten. Volksschüler sollten nur so viel Bildung erhalten, wie es für ihr unmittelbares Lebensumfeld unbedingt nötig war. So schrieb Karl Stöcker noch 1957:
„Sicher ist, dass der schlichte, einfache Mensch des Volkes fast ausschließlich in dieser Welt volkstümlicher Geistigkeit lebt, denkt und handelt, soweit sein Leben überhaupt geistige Strukturen aufweist.“[10]
Entsprechend wurde dem Volksschüler mehr nicht zugetraut. Man ging bei der Mehrheit der handarbeitenden Schichten von einem „einfachen Geist“ aus, der nur das absolut Notwendige an Bildung erhalten sollte. „Geistigkeit“ schien von Geburt an festgelegt zu sein. Das „einfache Leben“ wurde als derart einfach strukturiert gesehen, dass jede Form von weiterführender Bildung oder gar Vermittlung von abstraktem und theoretischem Wissen überflüssig erschien. Dieser Einstellung lag ein ständisches, festgefahrenes Gesellschaftsbild zugrunde, das die bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen als gegeben und unabänderlich hinnahm.[11] Ein Wechsel oder Aufstieg aus handarbeitenden in höhere gesellschaftliche Schichten, war weder erwünscht noch vorgesehen.
In der ständischen Gesellschaft hatten sich aus den Kloster-, Dom- und Stiftsschulen die Gymnasien für die oberste geistliche und weltliche Schicht entwickelt. Kinder von Kaufleuten und Handwerkern hingegen hatten pragmatischere Bedürfnisse und besuchten die Deutschen Schreib- und Rechenschulen, die sich später zur Volksschule entwickelten. Die Mittlere Schule stand denen offen, die aus dem aufstrebenden Bürgertum kommend, „die studia nicht kontinuieren“ wollten.[12] Dieses starre Geschichtsbild wurde jedoch zunehmend weniger haltbar – spätestens mit der Gründung eines demokratischen Staates 1949, der auf der Gleichheit und Mitbestimmung aller Bürger aufbaute.
Dennoch dauerte es noch 15 Jahre bis zur Einführung der Hauptschule. Als Begründung für die Einführung der Hauptschule hieß es 1970 im Strukturplan für das Bildungswesen des Deutschen Bildungsrates: „Auch wird es nicht länger zu rechtfertigen sein, einer allgemeinen Bildung eine nur berufliche Bildung gegenüberzustellen.“[13] In der Hauptschule wurde nun, wie an den Realschulen und Gymnasien, qualifizierter Fachunterricht angeboten, der allen Schülern einen Zugang zu wissenschaftlichem Denken ermöglichen sollte.[14]
„Das organisierte Lernen soll für alle wissenschaftsorientiert sein."[15], heißt es im Strukturplan. Damit sollten Hauptschüler vom Prinzip her, wenn auch mit einer Ausrichtung auf direkt anschließende Erwerbstätigkeit, die selbe Bildung erhalten wie andere Schüler der Sekundarstufe I. Begründet wurde die Wissenschaftsorientierung wie folgt:
„Der Wissenschaftsbestimmtheit des Lernens entspricht formal der Grundsatz vom Lernen des Lernens. Die Bildungsgänge vermitteln nicht nur Kenntnisse und Fertigkeiten, sondern auch die Fähigkeit, immer wieder neu zu lernen, sei es in anderen Gegenstandsbereichen, sei es im gleichen Gegenstandsbereich, jedoch auf höherem Anspruchsniveau. Die gezielte Förderung der Fähigkeit des Lernens, die sich aus der Wissenschaftsorientierung des Lernens ergibt, wird auch gefordert durch das Tempo der gesellschaftlichen, technisch-wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung sowie durch die Veränderungen der Lebensumstände und der Arbeitsverhältnisse.“[16]
Man ging davon aus, dass der während der Ausbildungszeit erworbene Kenntnisstand schon zu Lebzeiten überholt sein werde.[17] Wissenschaftsorientiertes Lernen sollte Verfahren vermitteln, die zu Techniken von selbständiger Wissenserarbeitung führten. Lernen sollte von nun an forschendes und entdeckendes Lernen sein. Bildung von Hypothesen, Verfahren zur kritischen Prüfung von Ergebnissen, Entwicklung von Strategien zur Lösung eines Problems, Tätigkeiten, wie Informationen beschaffen, Quellentexte einsetzen, Beobachten, Experimentieren usw. wurden auch an der Hauptschule grundlegend für das Erlernen der Fähigkeit zur Interpretation, Anwendung, Analyse, Synthese und Bewertung.[18]
Mit diesem Ansatz sollte die Hauptschule den anderen Schulformen der Sekundarstufe I gleichgestellt werden und allen Schülern, unabhängig von ihrer Herkunft, den Zugang zu Allgemeinbildung und damit jegliche weiterführenden Perspektiven für das Leben eröffnen. Wissenschaftsorientiertes Lernen wurde als Möglichkeit betrachtet, „diesen gefährlichen Teufelskreis der Fixierung durch Gruppen zu durchbrechen“[19] . Schule sollte von nun an nicht mehr „nur funktionstüchtige, gesellschaftlichen Rollenerwartungen entsprechende Individuen produzieren, vielmehr deren Einsicht und Erkenntnisfähigkeit hervorbringen (...), um sie zu einem rationalen Verständnis der Welt und zu einem kritischen Wissen und Handeln zu befähigen“[20] .
Entsprechend wurden die Anforderungen durch eine Verfachlichung des Unterrichts erhöht und beispielsweise statt des allgemeinen Faches Naturkunde eine Gliederung in die Fächer Physik, Chemie und Biologie vorgenommen. Weiterhin wurde die Pflichtschulzeit von acht auf neun Jahre verlängert und eine Fremdsprache (Englisch) als obligatorisches Fach mit in den Lehrplan aufgenommen. (Englisch als Fremdsprache war zwar an vielen Volksschulen durchaus schon als Unterrichtsfach angeboten worden, aber zumeist auf freiwilliger Basis.) Auch die Gewichtung der Fächer wurde an die Lehrpläne der Realschulen und Gymnasien angeglichen. Deutsch, Mathematik und Englisch galten von nun an auch in der Hauptschule als Hauptfächer.[21] Neu war an der Hauptschule zudem die Differenzierung in verschiedene Leistungskurse, um eine bessere Förderung des Einzelnen sicher zu stellen. Auch die Einrichtung des Faches „Arbeitslehre“ war grundlegender Bestandteil der neuen Hauptschule. Hier sollten die Schüler frühzeitig an die moderne Wirtschafts- und Arbeitswelt herangeführt werden. Zur Förderung von persönlichen Interessen und Neigungen wurden weiterhin Wahlbereiche eingeführt.[22] Auch diese Maßnahme verfolgte das Ziel der Chancengleichheit und wurde im Strukturplan für das Bildungswesen näher erläutert:
„Wenn auch Leistungen in der Schule oder in der beruflichen Bildung gefordert werden und Leistung als pädagogisches Prinzip anerkannt wird, so darf die Anwendung dieses Prinzips doch keinesfalls zu einer Sozialauslese führen. Jene findet dann statt, wenn die geforderten Leistungen nicht aufgrund der schulischen Lernprozesse, sondern nur oder vornehmlich aufgrund der Herkunft des Lernenden aus einem bestimmten sozialen Milieu erbracht oder nicht erbracht werden können. (...) Nur die Gleichwertigkeit der Fächer kann Schülern unterschiedlicher Herkunft und mit verschiedener Lerngeschichte die gleiche Chance bieten, ein hohes Leistungsniveau zu erreichen.“[23]
Erst durch die Gleichwertigkeit der Fächer, gleiche Hauptfächer und grundsätzlich aneinander angelehnte Lehrpläne der verschiedenen Schulformen, konnte es möglich werden, in eine höhere Schulform zu wechseln, ohne den Anschluss zu verpassen. So sollte eine grundsätzliche Festlegung auf einen bestimmten Schultyp vermieden werden. Eine Leistungsdifferenzierung und die Bestimmung individueller Schwerpunkte waren dabei weitere wichtige Kriterien für die Realisierung der Chancengleichheit. Dazu im Strukturplan:
„Die Grundsätze der Chancengleichheit und der bestmöglichen Förderung des einzelnen verlangen, dass die unterschiedlichen Interessen, Motivationen und Fähigkeiten der Lernenden von allen Bildungseinrichtungen zu berücksichtigen sind. Deswegen müssen die Lernangebote so vielfältig sein, dass der Lernende seinen Bildungsweg individuell gestalten kann. Das bedeutet, dass Curricula angeboten werden, die auf die unterschiedliche Lerngeschwindigkeit und Motivationslage der Lernenden sowie auf deren verschiedene Interessen und Lernvoraussetzungen abgestimmt sind.“[24]
Nicht die Frage, ob die „Denkkraft“ ausreiche oder „selbständige und produktive Denkleistungen“ erbracht oder „abstrakt verfasste Inhalte“ begriffen werden, sei entscheidend, sondern „den Schülern die Eigenart, die Reichweite und Hintergründe wissenschaftlicher Aussageformen an entsprechenden Modellen klar vor Augen zu stellen und ihr Urteilsvermögen gegenüber wissenschaftlich verfasstem Wissen zu schärfen“.[25]
In der Einführung der Wissenschaftsorientierung auch an der Hauptschule als Grundlage von Chancengleichheit zeigt sich ein neues Verständnis des Bildungsbegriffs. Obwohl es auch heute keine klare Übereinstimmung darüber gibt, wie Bildung zu definieren ist, lassen sich sowohl das humanistische als auch das aufklärerische Verständnis in unserer heutigen Begrifflichkeit wieder finden: Bildung soll sowohl die Persönlichkeit bilden, als auch auf das Leben und den Beruf vorbereiten. Im Humanismus zielte Bildung auf „die ungestörte und harmonische Entfaltung aller Kräfte der Persönlichkeit“. Sie war in „ihrem Selbstverständnis nach spezieller berufsbezogener Bildung nicht nur zeitlich vorangestellt, sondern auch wertmäßig übergeordnet“. Nicht „Zweckhaftigkeit“ sondern die „Gelegenheit zu universaler Ausweitung und Selbstvollendung“ waren humanistisches Bildungsziel. In der Aufklärung hingegen war „Bildung immer auch auf eine vernünftige Gestaltung der Lebenswirklichkeit gerichtet“. Ziel war die „intellektuelle Ausstattung und Befähigung des Menschen zur Führung seines Lebens“ in der Welt des kulturellen, staatlichen und gesellschaftlichen Lebens. Die pädagogische Anleitung eines Kindes für die spätere Lebensführung wurde ebenso Aufgabe von Bildung. Die Aufklärung macht keinen Unterschied in Klassen, Schichten oder Gruppen bei der Erreichung einer „vernunftbegründeten Gestaltung der Lebenswirklichkeit“, sondern setzt auf das Ausschöpfen aller Möglichkeiten zur Erlangung der Bildungsziele und will die Menschen „tüchtig machen“ für Beruf und Gesellschaft. Damit steht grundsätzlich der Mensch (wenn auch in dieser Zeit nur der männliche Teil der Bevölkerung) im Mittelpunkt der Bildung. Ziel ist die Besserstellung in Freiheit und Selbstbestimmung.[26]
Eine vollständige Darstellung der verschiedenen Interpretationen, Ansätze und Begriffsbestimmungen von Bildung würde im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu weit führen.[27] Übereinstimmend lässt sich festhalten, dass Bildung – im Gegensatz zu Erziehung[28] – ein lebenslanger Prozess ist.[29] Bildung wird verstanden als die Befähigung des Lernenden ein selbstverantwortetes Leben zu führen und die Fähigkeit zu schaffen, „sich zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen und zu den Dingen in ein gültiges Verhältnis zu setzen“.[30] Das „Wissen, das Urteil über das eigene Wissen und die Bereitschaft, darauf bezogene Handlungsentscheidungen zu treffen“[31] widerspricht einer volkstümlichen Bildung, die im wesentlichen auf Lesen, Scheiben, den Grundrechenarten und abfragbarem Wissen aus Geographie, Naturkunde und Geschichte beruhte.
Selbstverantwortung bzw. Selbstbestimmung sind dabei grundlegende Ziele von Bildung und galten schon im ausgehenden 18. Jahrhunderts als essentielle Grundlage des Bildungsverständnisses. Dies beinhaltet die Freiheit des eigenen Denkens genauso wie die „Emanzipation von Fremdbestimmung“[32]. Aus der „Fähigkeit zur Selbstbestimmung jedes einzelnen über seine individuellen Lebensbeziehungen und Sinndeutungen zwischenmenschlicher, beruflicher, ethischer, religiöser Art“[33] folgert logisch die Selbsttätigkeit des Lernens. Es geht darum sich zu bilden. Andere können in diesem Zusammenhang den Lernenden nur ausbilden. Bildung muss selbsttätig erarbeitet sein.[34] Hier zeigt sich ein „pädagogisches Paradox“: Der Schüler soll etwas tun, was er noch nicht kann, es aber nur erlernen kann, indem er es tut.[35]
Grundlage für die Erlangung dieser Fähigkeit müssen dabei von jeher Inhalte sein, „die zunächst nicht ihm (dem Lernenden, Anm. V.P.) selbst“ entstammen, „sondern Objektivation bisheriger menschlicher Kulturtätigkeit“ sind. Nur in der Auseinandersetzung mit vorhandenem Wissen kann der Lernende Bildung aufbauen und daraus Selbstbestimmungsfähigkeit und Freiheit des Denkens und Handelns gewinnen.[36] Wissen beschränkt sich dabei nicht auf bloße Fakten, Daten und Informationen, sondern muss zunächst kognitiv angelegt sein und damit nachprüfbar, nachvollziehbar, wahrheitsgebunden – sprich: wissenschaftsorientiert.
Darüber hinaus muss Allgemeinbildung „emotionale Erfahrungen und Betroffenheiten (...) ermöglichen, zum Ausdruck (...) bringen und (...) reflektieren und die moralische und politische Verantwortlichkeit, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit an(...)sprechen“[37] – ganz im Sinne Pestalozzis Bildung von Kopf, Herz und Hand. Bildung beinhaltet weiterhin eine Verknüpfung des Wissens mit persönlichen Werturteilen und damit die Fähigkeit, künftige Handlungsentscheidungen zu treffen sowie Normentscheidungskompetenz für eine differenzierte Beurteilung eines Sachverhaltes und die begründete Einschätzung seiner Bedeutung.[38]
[...]
[1] Brinkbäumer, Klaus u.a.: Die verlorene Welt. In: Der Spiegel 14/2006 vom 03.04.2006, S. 23f.
[2] Köhler, Horst: „Bildung für alle“. Berliner Rede 2006 von Bundespräsident Horst Köhler am 21. September 2006. Pressemitteilung des Bundespräsidialamtes. URL: http://www.bundespraesidialamt.de/Bildung-fuer-alle-Berliner-Rede-von-Bundespraesident-Horst-Koehler(1).pdf, Stand: 22.09.2006, S. 5.
[3] Ebd., S. 2.
[4] Ebd., S. 2f.
[5] Deutscher Bildungsrat: Empfehlungen der Bildungskommission. Strukturplan für das Bildungswesen. 4. Aufl., Stuttgart 1972.
[6] Der Deutsche Bildungsrat wurde 1965 von Bund und Ländern ins Leben gerufen, um länderübergreifende Struktur- und Finanzpläne für das deutsche Bildungswesen zu erarbeiten. In der Zeit von 1966 – 1975 entwickelte er wichtige Leitlinien, die bis heute Gültigkeit haben.
[7] vgl. Leschinsky, Achim: Die Hauptschule – Sorgenkind im Schulwesen. In: Cortina, Kai S. u.a. (Hrsg.): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland – Strukturen und Entwicklungen im Überblick. Reinbek 2003, S. 395.
[8] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichte ich im Folgenden auf die Nennung der weiblichen und männlichen Form. Es sind immer beide Geschlechter gemeint, es sei denn es wird explizit darauf hingewiesen.
[9] vgl. Schulz, Dieter: Zur Stellung der Hauptschule im gegliederten Schulwesen – Ausgewählte Aspekte ihrer Begründungsproblematik. In: Hansel, Toni (Hrsg.): Hauptschule – Auslaufmodell oder Herausforderung. Herbolzheim 2000, S. 69.
[10] so zitiert in Ipfling, Heinz-Jürgen/Lorenz, Ulrike (Hrsg.): Die Hauptschule – Materialien, Entwicklungen, Konzepte. Ein Arbeits- und Studienbuch, Bad Heilbrunn/Obb 1991, S. 87.
[11] vgl. Rekus, Jürgen u.a.: Die Hauptschule – Alltag, Reform, Geschichte, Theorie. Weinheim/München 1998, S. 212f.
[12] vgl. Ipfling, Die Hauptschule, a.a.O., S. 84.
[13] Deutscher Bildungsrat, a.a.O., S. 30.
[14] vgl. Leschinsky, Achim: Hauptschule – Spagat zwischen schulpädagogischen und sozialpolitischen Aufgaben. In: Hansel, Toni (Hrsg.): Hauptschule – Auslaufmodell oder Herausforderung. Herbolzheim 2000, S. 25.
[15] Deutscher Bildungsrat, a.a.O., S. 30.
[16] Ebd., S. 33.
[17] vgl. Ebd., S. 34.
[18] vgl. Werres, Walter: Ansätze zu einer Theorie wissenschaftsorientierten Lernens und ihre Konsequenzen für die Praxis der Hauptschule. In: Roth, Heinrich/Blumenthal, Alfred (Hrsg.): Zur Reform der Hauptschule (Auswahl: Reihe A, Grundlegende Aufsätze aus der Zeitschrift Die deutsche Schule 17). Hannover 1978, S. 85.
[19] vgl. Ebd, S. 87.
[20] Ebd., S. 91.
[21] vgl. Rekus, a.a.O., S. 222.
[22] vgl. Leschinsky, Die Hauptschule – Sorgenkind..., a.a.O., S. 399.
[23] Deutscher Bildungsrat, a.a.O., S. 36.
[24] Ebd., S. 36.
[25] vgl. Werres, a.a.O., S. 92f.
[26] vgl. Hansel, Toni: Die Hauptschuldebatte im Zielkonflikt zwischen Funktionalität und Humanität. In: Hansel, Toni (Hrsg.): Hauptschule – Auslaufmodell oder Herausforderung. Herbolzheim 2000, S. 122ff.
[27] Gudjons weist darauf hin, dass allein in der Zeit von 1978 – 1988 in über 300 Titeln über die Formulierung des Bildungsbegriffs geschrieben wurde. (vgl. Gudjons, Herbert: Pädagogisches Grundwissen. Überblick – Kompendium – Studienbuch. 8. Aufl., Bad Heilbrunn/Obb. 2003, S. 201.)
[28] Erziehung ist immer intentional ausgelegt und damit zeitlich limitiert. Ziel von Erziehung ist es, sich irgendwann selbst aufzuheben, wenn die Vermittlung von Normen, Zielen und Werten verwirklicht ist. (vgl. Gudjons, a.a.O., S. 198.)
[29] vgl. Gudjons, a.a.O., S. 206.
[30] Rekus, a.a.O., S. 293.
[31] Ebd., S. 282.
[32] vgl. Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. 4. Aufl., Weinheim/Basel 1994, S. 19.
[33] vgl. Ebd., S. 52.
[34] vgl. Ebd., S. 52.
[35] vgl. Rekus, a.a.O., S. 281.
[36] vgl. Klafki, a.a.O., S. 21.
[37] vgl. Ebd., S. 65.
Klafki hält zur Erlangung dieser Fähigkeiten die Vermittlung von Schlüsselkompetenzen zur Schaffung eines differenzierten Problembewusstseins für grundlegend. Aus Platzgründen seien diese hier nur kurz aufgezählt: 1. Friedenserziehung, 2. Umwelterziehung, 3. Erkennen von gesellschaftlich produzierter sozialer Ungleichheit, 4. Erkennen der Gefahren von Technologisierung, 5. Erkennen der Subjektivität des Einzelnen. (vgl. dazu Ebd., S. 56ff.)
[38] vgl. Rekus, a.a.O., S. 282f.
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