Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen als Ursache des Autismus


Seminararbeit, 2007

31 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

1 Einleitung

2 Allgemeines zur Wahrnehmung von Menschen mit Autismus
2.1 Nahsinne
2.1.1 Schmecken
2.1.2 Riechen
2.2 Sehen
2.3 Hören
2.4 Zusammenfassende Bemerkung zur Wahrnehmung

3 Erklärungsversuche
3.1 Delacatos Förderkonzept
3.2 Die Sensorische Integration nach Ayres
3.2.1 Registrieren von Sinneseindrücken
3.2.2 Abstimmung von Sinnesreizen
3.2.3 Integration von Empfindungen
3.2.4 Bewegungsplanung
3.3 Angeborenes kognitives Defizit nach Frith
3.3.1 Wahrnehmungsverarbeitungsstörung als Störung des Informationstransfers
3.3.2 Theorie der Wahrnehmungsverarbeitungsstörung nach Baum und Dalferth
3.4 Theorie der logischen Formen nach Innerhofer und Klicpera
3.5 Zwei-System-Theorie der Informationsverarbeitung
3.6 Insuffizienz der informellen Akkomodation nach Sievers
3.7 Wahrnehmungsinkonstanz nach Ornitz und Ritvo
3.8 Hyposensibilität des Gleichgewichtssinnes
3.9 Isolation durch Wahrnehmungsdysfunktion nach Feuser

4 Resümee

Literatur

1 Einleitung

Die Forschungsergebnisse und Diskussionsbeiträge, die bis heute weltweit aus biologischer, medizinischer, psychologischer und erziehungswissenschaftlicher Sicht zum Thema Autismus erschienen sind, kann man kaum mehr überschauen. Darüber hinaus existiert nach wie vor keine eindeutige Definition des Autismus, weder in der Terminologie, noch in der Diagnostik, Ätiologie oder Therapie.

Ätiologisch betrachtet kann Autismus chemische, biochemische, genetische, psychologische und psychoanalytische Ursachen haben. Andere Verursachungstheorien betrachten Autismus als Informations- und Wahrnehmungsverarbeitungsstörung, als hirnorganisch verursacht oder im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen.[1]

Im Zentrum meiner Arbeit stehen Erklärungsansätze, die von Informations- und Wahrnehmungsstörungen als Ursache des Autismus ausgehen.

Aufgrund der Vielzahl von Theorien auch in diesem Bereich kann ich nur einen Überblick über die wichtigsten Beiträge geben. Zunächst gehe ich jedoch auf allgemeine Aspekte der Wahrnehmung von Menschen mit Autismus ein. Die Thematisierung der einzelnen Sinne im ersten Teil der Arbeit dient als Basis für die nachfolgenden Erklärungsansätze zu Informations- und Wahrnehmungsverarbeitungs-störungen bei Menschen mit Autismus. Besondere Beachtung finden Delacatos Förderkonzept und die Sensorische Integration nach Ayres, da sie als Ausgangspunkt für zahlreiche Hypothesen dienen.

2 Allgemeines zur Wahrnehmung von Menschen mit Autismus

Die Forschung nimmt international und interdisziplinär, größtenteils sogar unabhängig von einer bestimmten Ätiologie an, dass bei Autismus Wahrnehmungs-verarbeitungsstörungen eine zentrale Rolle spielen. Veränderungen bei der Reiz-aufnahme, der Bewertung und Verarbeitung des Wahrgenommenen und einem vom Normalen divergierenden Ergebnis der Realität können durch bestimmte chemische oder biochemische Störungen, Veränderungen im Erbgut, Störungen in der Beziehungs- und Bindungsfähigkeit, organische Hirnverletzungen oder –dysfunktionen und verschiedene andere Erkrankungen verursacht sein.[2]

Wie diese Störungen entstehen und welche Prozesse bei der Wahrnehmungs-verarbeitung beeinträchtigt sind, darüber gehen die Meinungen auseinander.[3] Bevor ich auf einige dieser Theorien zu Wahrnehmungsverarbeitungs-störungen eingehe, möchte ich mich zunächst mit den Auffälligkeiten in der Wahrnehmung autistischer Menschen befassen.

2.1 Nahsinne

Autistische Kinder ziehen oft die Nahsinne Geruchs- und Tastsinn den Fernsinnen Hören und Sehen vor.[4] Besonders Kinder mit stärkerer Beeinträchtigung schnüffeln, lecken oder kratzen an Oberflächen, an sich selbst oder sogar anderen Menschen. Außerdem fehlt vielen das Bewusstsein für Schmerz, Hitze und Kälte[5]. Viele autistische Kinder lehnen sanfte, zärtliche Berührungen ab, bevorzugen heftigere, bisweilen sogar schmerzhafte Reize oder fügen sich selbst Schmerzen zu, indem sie z.B. ihren Kopf schlagen, Wunden aufkratzen oder in den Augen bohren.[6] Diese starken Berührungs-reize ermöglichen es ihnen, ihren Körper und sich selbst zu spüren.[7]

Wer Probleme bei der Körperwahrnehmung hat, kann seinen Körper auch kaum zur Kommunikation einsetzen. Auf ihre Umwelt wirken diese Menschen aufgrund ihrer mangelnden Körpersprache oftmals „linkisch“.[8]

2.1.1 Schmecken

„Eigentlich aß ich vor allem Dinge, die ich gerne ansah oder befühlte oder die angenehme Assoziationen in mir auslösten. Ich liebte „Durchsichtiges“ buntes Glas, Götterspeise ähnelt dem.“[9] „Ich mochte Tintenfisch, weil ich Lindas Mutter mochte.“[10]

Diese Beispiele verdeutlichen, dass die Ernährungsvorlieben von Menschen mit Autismus nicht unbedingt von ihrem Geschmack beeinflusst werden, sondern auch einen ganz anderen Hintergrund haben können, wie z.B. Assoziationen auf anderen Kanälen.[11]

Allgemein kann man festhalten, dass viele Autisten wenig oder gar nicht auf unangenehmen Geschmack reagieren[12], da ihr Geschmackssinn oft wenig ausgereift ist.

Extremes Ernährungsverhalten kann ein Versuch sein, ihren unterentwickelten Geschmackssinn zu stimulieren oder aber auch eine kinästhetische Reizung darstellen, bei der es darum geht, den Körper von innen zu spüren.[13]

2.1.2 Riechen

Viele Autisten erkunden ihre Umwelt mit Hilfe ihres Geruchssinns, das heißt, sie riechen an Dingen oder Personen. Menschen mit einer derartigen Hochsensibilität sind Umweltgerüchen gegenüber oftmals ausgeliefert, was zu Ekelgefühlen und Abwehr-verhalten führen kann. Nach Delacato[14] können Auffälligkeiten in der Geruchs- und Geschmackswahrnehmung lebensbedrohliche Folgen haben, gerade beim Säugling oder Kleinkind sind sie aber nur schwer therapeutisch zugänglich.[15]

2.2 Sehen

Häufig wird das Vermeiden des Blickkontakts als auffälliges Symptom genannt, wenn das Störungsbild frühkindlichen Autismus beschrieben wird. Außerdem kann man beobachten, dass viele autistische Kinder das periphere Gesichtsfeld bevorzugen und Personen oder Gegenstände nur ganz kurz fixieren. Es gibt aber auch Autisten, deren Begabungen gerade im visuellen Bereich liegen.[16]

Aarons weist darauf hin, dass bei autistischen Kindern immer darauf geachtet werden sollte, ob eine gute visuelle Wahrnehmung altersentsprechend oder ob sie nur im Vergleich mit den eigenen anderen Leistungen relativ gut ausgebildet ist. Außerdem weisen herausragende Leistungen im Erkennen von Formen oder im Legen von Mustern nicht zwingend auf eine gute zukünftige Entwicklung hin.[17]

2.3 Hören

Auch im auditiven Bereich zeigen autistische Kinder oft Auffälligkeiten. Sie werden häufig für taub gehalten, da sie auf die menschliche Stimme nicht reagieren und manchmal selbst bei lauten Geräuschen nicht reagieren. Solche Kinder sind in der Vergangenheit sogar mit Hörgeräten ausgestattet worden. Wenn man sie sorgfältig beobachtet stellt man fest, dass ihr Gehör ausgezeichnet ist, wenn sie sich für das Geräusch interessieren. Rascheln von Bonbonpapier oder das Öffnen einer Keksdose beispielsweise können ein Kind dazu bewegen, aus dem anderen Ende des Hauses angelaufen zu kommen.

Die Überempfindlichkeit im auditiven Bereich, die einige Kinder aufweisen, kann alle auditiven Reize oder nur bestimmte Frequenzen oder Laute betreffen. Diese Überempfindlichkeiten sind teilweise auch Schwankungen unterworfen, was dazu führt, dass sie schlecht einzuschätzen sind. Darüber hinaus leiden manche Autisten unter einer so genannten Filterschwäche, d.h. Hintergrundgeräuschen können nicht ausgeblendet werden.[18] Manche nehmen sogar Körperinnengeräusche wahr.

Um sich vor der auditiven Reizüberflutung zu schützen bedecken einige Menschen mit Autismus ihre Ohren mit den Händen,[19] oder sie errichten einen inneren „Schutzwall“ und „schalten ab“, was von der Umwelt dann als taub interpretiert werden kann.[20]

2.4 Zusammenfassende Bemerkung zur Wahrnehmung

Autistische Kinder können sowohl unter einer Überempfindlichkeit als auch an einer Unterempfindlichkeit eines Sinnes leiden.[21] Hinzu kommt, dass es vielen Autisten schwer fällt, das Kurzweilige, Vielfache und Gegenwärtige wahrzunehmen. Sie können sich daher nicht lange mit einer Information, einem Gefühl usw. befassen.

Außerdem können sie sich nicht mit mehreren verschiedenen Themen oder Gefühlen abwechselnd oder gleichzeitig beschäftigen. Darüber hinaus fällt es ihnen schwer, Abläufe, die nur in der Gegenwart neu vorkommen zu registrieren.[22]

Laut Forschungsberichten kommen autistische Kinder besser mit stabilem, räumlich verteiltem Material zu Recht als mit Aufgaben, die in einer bestimmten zeitlichen Reihenfolge zu erledigen sind.[23]

In Bezug auf das Phänomen der Filterschwäche kommen Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass selektives Wahrnehmen nur dann möglich ist, wenn einige Reize unterdrückt werden. Man könnte also sagen, Betroffene sehen und hören zu viel und sind nicht dazu in der Lage, die unwesentlichen Informationen herauszufiltern.

Sie sehen „manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht, es fällt ihnen schwer, das Ganze vor den Teilen zu erkennen“.[24]

Zusammenfassend kann man sagen, dass Autismus mit Besonderheiten in der Wahr-nehmungsverarbeitung verbunden ist, aber auch schon bei der Wahrnehmungsauf-nahme kommt es innerhalb der einzelnen Sinneskanäle zu Auffälligkeiten. Die frühere Ansicht, dass autistische Menschen sehen, hören, riechen und schmecken können wie wir, aber nicht in der Lage sind, dies entsprechend zu verarbeiten ist also widerlegt.[25]

3 Erklärungsversuche

3.1 Delacatos Förderkonzept

Delacato war zwanzig Jahre in der Erforschung von Hirnverletzungen tätig, bevor er sich dem Autismus zuwandte. Während seiner Beschäftigung mit autistischen Kindern stellt er bei ihnen Gemeinsamkeiten im Verhalten von Kindern mit Hirnverletzungen fest. Kinder, die infolge eines Unfalls an Hirnverletzungen litten, zeigten z.B. auch Symptome wie Hyper-aktivität, die Tendenz nach Gleichhaltung der zeitlichen Abläufe oder der räumlichen Umgebung.[26] Aufgrund dieser Beobachtung fragte er sich, ob autistische Kinder Hirnverletzungen aufweisen.

Mitarbeiter eines italienischen Delacato-Zentrums gingen dieser Frage nach und erklärten 1996 in Barcelona auf der europaweiten Autismustagung: „All of the symptoms of autistic syndrom are simply a consequence of the fact that autistic children`s brains are injured (they often have very small injuries). The injuries make them perceive inputs from the world differently from not injured brains.”[27]

Ein weiterer Ansatzpunkt Delacatos waren die Stereotypien autistischer Kinder. Er hoffte durch das Erforschen der Stereotypien einen Zugang zur autistischen Störung zu bekommen: „Wäre es möglich, dass hinter all diesem unheimlichen und fremdartigem Verhalten eine Bedeutung verborgen ist- eine Botschaft, für die wir blind sind?“[28]

Delacato beobachtete bei blinden und gehörlosen Kindern, dass auch sie gleichförmige rhythmische Verhaltensweisen zeigten und zwar jeweils in dem gestörten Sinnesbereich: beispielsweise schlugen gehörlose Kinder mit den Händen auf ihre Ohren oder auf Gegenstände oder sie erzeugten mit der Stimme gleichmäßige Laute. Delacato fühlte sich in seiner Vermutung bestätigt, dass diese Verhaltensauffälligkeiten, die eindeutig mit einer Sinnesstörung zusammenhängen, auch etwas mit den Stereotypien der autistischen Kinder zu tun haben. Außerdem kam er zu dem Schluss, dass sich die Wahrnehmungsleistungen der Kinder mit Autismus in verschiedene Kategorien einordnen lassen, in hypersensibel und hyposensibel.

[...]


[1] Dzikowski 1996, S. 6.

[2] Ebd., S. 121.

[3] Able 2001, S. 56.

[4] Verein zur Förderung von autistisch Behinderten e.V. 1996, S. 7.

[5] Aarons 2000, S. 59.

[6] Dzikowski 1996, S. 9.

[7] Verein zur Förderung von autistisch Behinderten e.V. 1996, S. 17.

[8] Vgl. Aarons 2000, S. 59.

[9] Williams 1992, S. 20.

[10] Ebd., S. 34.

[11] Verein zur Förderung von autistisch Behinderten e.V. 1996, S. 17.

[12] Dzikowski 1996, S. 9.

[13] Verein zur Förderung von autistisch Behinderten e.V. 1996, S. 17.

[14] Mündliche Aussage Delacatos bei einem Vortrag in Stuttgart im Februar 1995.

[15] Verein zur Förderung von autistisch Behinderten e.V. 1996, S. 17.

[16] Ebd., S. 15.

[17] Aarons 2000, S. 58.

[18] Verein zur Förderung von autistisch Behinderten e.V. 1996, S. 16.

[19] Aarons 1994, S. 58 f.

[20] Verein zur Förderung von autistisch Behinderten e.V. 1996, S. 15.

[21] Ebd., S. 13.

[22] Ebd., S. 6.

[23] Ebd., S. 7.

[24] Ebd., S. 13.

[25] Ebd.

[26] Vgl. Delacato 1975, S. 44f.

[27] Parisi u.a. 1998, S. 1.

[28] Delacato 1975, S. 9.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen als Ursache des Autismus
Hochschule
Universität Koblenz-Landau  (Sonderpädagogik)
Veranstaltung
Bedingungen und Behinderungen kognitiver Entwicklung
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
31
Katalognummer
V76211
ISBN (eBook)
9783638816939
ISBN (Buch)
9783668220553
Dateigröße
520 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar des Dozenten: "Sehr fundiert und ausführlich! Es wurde umfangreiche Literatur verwendet."
Schlagworte
Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen, Ursache, Autismus, Bedingungen, Behinderungen, Entwicklung
Arbeit zitieren
Bachelor of Arts Caroline Debelt (Autor:in), 2007, Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen als Ursache des Autismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76211

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen als Ursache des Autismus



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden