"Extreme Methoden" - Gewalt, Zivilisation und der Ausnahmezustand im Algerienkrieg


Seminararbeit, 2006

34 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

Einleitung
Das Problem der „Folter in der Republik“
Der Ausnahmezustand

1. Die Logik des kolonialen Ausnahmezustandes:
Extreme Gewalt als Teil des kolonialen Systems (1830-1956)
1.1 Der Kolonialisierte als Minderwertiger
1.2 Gewalt als Antwort auf den kolonialen Notstand
1.3 Gewalt und die Zivilisatorische Mission

2. Algerien: Ein „Teil Frankreichs“ im Ausnahmezustand (1945-1956)
2.1 Die Abschaffung des Ausnahmezustandes?
Die „assimilation“
Gleiche Rechte und koloniale Traditionen
2.2 Eine neuartige Bedrohung
Der FLN
Der Weg in den Krieg
2.3 Der Ausnahmezustand als staatliches Instrument
Krieg oder Polizeioperation? Etat d’urgence und pouvoirs spéciaux
Der Gegner als „hors-la-loi“

3. Die Generalisierung der Gewalt im Ausnahmezustand des „modernen Krieges“
(1956-1961)
3.1 Die Armee im Ausnahmezustand
Die Ideologie des antisubversiven Krieges
Die Ausbreitung der Rechtlosigkeit
3.2 Die Zeit der„großen Straflosigkeit“
Die Bataille d’Alger und die Folter als „spezielles Gift gegen den Terrorismus“
Technisierung und Professi onalisierung extremer Gewaltformen
3.3 Dysfunktionale Gewalt und die Grenzen der Effizienz

Fazit

Bibliographie:

Einleitung

Das Problem der „Folter in der Republik“

Am 19. März 1962, nach 132 Jahren französischer Kolonialherrschaft, beendete ein Waffenstillstand die fast 8 Jahre andauernden blutigen Kämpfe um die algerische Unabhängigkeit. Frankreich hatte damit sein letztes wichtiges Territorium außerhalb des Hexagons in einem traumatischen Krieg verloren, der wohl insgesamt an die 250 000 Menschen das Leben kostete[1]. Lange Zeit totgeschwiegen, aber nicht vergessen, kehrt dieses besonders dunkle Kapitel der kolonialen Vergangenheit Frankreichs im neuen Jahrtausend nachdrücklich ins Bewusstsein der Grande Nation zurück. Nicht ohne Anlass zu engagierten und höchst kontroversen öffentlichen Debatten zu geben.[2] Am meisten Aufmerksamkeit erregt einmal mehr die lange Liste der Menschenrechtsverletzungen, insbesondere die Folter und Ermordung „verdächtiger“ Gefangener, in die die französische Seite in diesem Krieg verwickelt war. Gerade letzteres Problem hat in jüngster Zeit eine ganze Reihe von Skandalen, Anschuldigungen und Rechtfertigungen[3], aber auch wissenschaftlichen Untersuchungen hervorgebracht.

Die Auswüchse der französischen Repression spielten schon zu Zeiten des Krieges die zentrale Rolle bei der Mobilisierung des Widerstandes gegen den Algerienkrieg in Frankreich. Existenz und Umfang dieser „Vorfälle“ war sowohl den politischen und militärischen Entscheidungsträgern als auch – in eingeschränkterem Maße – in der Öffentlichkeit keineswegs ein Geheimnis. In Zeitungen wurde davon berichtet und darüber gestritten, offizielle Untersuchungen informierten die Regierung darüber. Wehrpflichtige, die – im Unterschied etwa zum Indochinakrieg – ab 1955 in Nordafrika in großer Zahl im Einsatz waren, schrieben ebenso Erlebnisberichte wie diejenigen, die als FLN-Sympathisanten Opfer der Repression geworden waren.[4] Die Armee, einst bekannt als „ La Grande Muette “, „die große Schweigsame“, wurde über den vielen Versuchen, ihr Vorgehen zu rechtfertigen und um Unterstützung für ihre Konzeptionen zu werben, geradezu zur „ Grande Bavarde “, zur „Großen Geschwätzigen“, wie George Kelly ironisch anmerkt.[5] Dass gerade dieser Punkt im Zentrum der Debatte stand und steht, ist sicherlich kein Zufall. Er bot sich für eine emotionale Diskussion geradezu an, umso mehr da sich in diesem Punkt auch Kriegsgegner auf „nationale“ Argumente berufen konnten: Solch extreme Gewalt in Form von Folterungen und Massakern wurde vom Großteil der Franzosen für zutiefst „unfranzösisch“ gehalten. Sie wiedersprach zutiefst dem französischen Selbstbild der großen Zivilisations- und Menschenrechtsnation, die sich auf die Traditionen von 1789 berief. Nicht umsonst war wohl das erste, was einem „Durchschnittsfranzosen“ 1954 zu diesem Thema eingefallen wäre, das Wort „Gestapo“:[6] Folterungen durch die Henkersknechte des totalitären Hitlerstaates während des Zweiten Weltkrieges riefen Empörung, aber kein Erstaunen hervor. „ La Question “, Titel des Erlebnisberichtes des Folteropfers Henri Alleg[7] evozierte dagegen die „barbarischen“ Vorgehensweisen des Ancien Régime in vor-aufklärerischer und vor-revolutionärer Zeit.[8] Doch wie war eine „Folter in der Republik“[9] möglich?

Das Ziel des vorliegenden Textes wird es daher nicht so sehr sein, die „Fakten“ der Anwendung extremer Gewalt im Rahmen des Algerienkrieges zu ermitteln – noch weniger soll ein Anspruch auf ihre vollständige Darstellung erhoben werden. Es soll vielmehr auf das Umfeld eingegangen werden, in der diese Handlungen stattfanden und möglich wurden. Dazu zählen koloniale Traditionen, die zugrundeliegenden Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Akteure, Befehls- und Machtstrukturen, sowie die sehr alte Diskussion um Gewalt im Dienste einer „guten Sache“. Denn diese tauchte natürlich nicht erst 1954 auf. Sie war vielmehr von Anfang an Teil des „kolonialen Projekts“, das seine „zivilisierten“ Werte mit Gewalt über den Globus zu verbreiten suchte.[10] Gerade in der „Nicht-Kolonie“ Algerien, das offiziell als Teil Frankreichs gelten sollte, wurde der Graben zwischen Gleichberechtigungsrhetorik und kolonialer Wirklichkeit oft nur allzu deutlich. Während in der Öffentlichkeit meist das Militär als ausführendes Organ im Mittelpunkt stand, muss und soll hier auch die Frage nach der Verantwortung des Zivilstaates, der Justiz und der Polizei gestellt werden.[11]

Der Ausnahmezustand

Im Zentrum der Analyse soll dabei der Begriff des „Ausnahmezustandes“ stehen, der in verschiedensten Formen und Formulierungen von 1830 bis 1962 immer wieder als Rechtfertigung für massive Verletzung von Menschenrechten auftaucht. Dabei handelt es sich zuerst einmal um einen juristischen Terminus: Um einer akuten Bedrohung zu begegnen, werden kurzzeitig ansonsten verbotene Vorgehensweisen erlaubt. Als „Diktatur“ existierte diese Einrichung schon im alten Rom und findet sich bis heute in fast allen Verfassungen der Welt wieder. Im Kontext des Algerienkrieges wurde der „ état d'urgence “ auch ins französische Recht aufgenommen.[12] Die paradoxe Struktur – um Recht und Verfassung zu schützen, beseitigt man sie – machte ihn jedoch von jeher anfällig für den Missbrauch. Durch eine sehr weite Auslegung von „Bedrohung“ und die Außerkraftsetzung der zeitlichen Begrenzung konnte aus der Ausnahme ein Dauerzustand werden. Historische Beispiele fehlen nicht, angefangen beim Diktator Caesar über den berüchtigten Artikel 48 der Weimarer Republik bis zum Dritten Reich, das sich 12 Jahre lang auf der Basis der „Notverordnung zum Schutz von Volk und Reich“ (dem sogenannten Ermächtigungsgesetz) über die de jure weiterbestehende Verfassung hinwegsetzte.[13] Wenn man die Frage „Was ist erlaubt?“ nicht nur rein juristisch interpretieren will, lässt sich das Konzept des „Ausnahmezustandes“ aber auch sehr viel allgemeiner als eine Möglichkeit verstehen, „normale“ Regeln und Normen aufzuheben, ohne im Allgemeinen ihre Gültigkeit anzweifeln zu müssen. Es kann so als eine Art „psychologisches Prinzip“ seine Wirkung auch im Widerspruch zu bzw. unabhängig von geltendem Recht entfalteten, solange sich dies durch die Wahrnehmung einer „besonderen Bedrohung“ rechtfertigen lässt. Angewandt auf die „koloniale Situation“ ließ sich mit diesem Argument die dauerhafte Nicht-Geltung europäischer Normen in den Kolonien begründen. Die „Eingeborenen“ wirkten oft schon allein wegen ihrer Fremdheit bedrohlich, als „Barbaren“ wurde ihnen oft angeborene Gewalttätigkeit zugeschrieben. Darüber hinaus waren sie in der Mehrzahl. Und bewiesen nicht zahlreiche Aufstände, wie sehr die koloniale Herrschaft tatsächlich gefährdet war? Als der FLN am 1. November 1954 zum ersten Mal mit Anschlägen auf sich aufmerksam machte, glaubte man es wieder einmal mit einem solchen Aufstand zu tun zu haben und reagierte zunächst nach den erprobten Mustern. Mit der zunehmenden Eskalation änderte sich allerdings die Wahrnehmung des Konfliktes in Algerien. Traditionelle koloniale Perzeptionen traten zunehmend in den Hintergrund. Die Armee, die ab 1955 zunehmend zur entscheidenden Macht auf Seiten der Verteidiger des „französischen Algeriens“ wurde, orientierte sich mehr an Erfahrungen, die sie im Indochinakrieg gesammelt hatte. Die daraus entstandene Doktrin des „antisubversiven Krieges“ bot nicht nur eine neue, globale und radikale Wahrnehmung des Krieges, sondern sah sich auch als Reaktion auf eine völlig neuartige Bedrohungslage. Sogar vom „Dritten Weltkrieg“ war die Rede, der schon begonnen habe.[14] Gegen einen „Volkskrieg“, wie ihn der FLN in Algerien nach dem Vorbild Ho Chi Minhs organisierte, meinte man nur bestehen zu können, indem man „neuartige“ Methoden entwickelte und die Effizienz über alles stellte. In diesem Kontext schien vielen staatlicher Terror zur Abschreckung nötig und die Folter das „spezielle Gift gegen den Terrorismus [15]. Nachdem durch Ausnahmezustand und die sogenannten „ pouvoirs spéciaux “ der rechtliche Rahmen für eine sehr weitgehende Machtübertragung an die Armee geschaffen war, wurden ab 1957 Folter und Staatsterror als wertvolle Waffe im Kampf gegen den FLN bewusst und systematisch eingesetzt und angeordnet. Dies geschah im Namen des französisches Staates, der „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“, des Schutzes Unschuldiger vor dem Terrorismus, gar der „Verteidigung der Zivilisation“. Der Ausnahmezustand konnte für manche selbst die extremsten Widersprüche zwischen Ziel und Mitteln unsichtbar werden lassen: Für einen Père Delarue, als Regimentskaplan immerhin ein Mann der Kirche, forderte es „das Gewissen des Christen, des zivilisierten Mannes“ von den Soldaten in der „Schlacht von Algier“, vermutliche Terroristen „im Notfall“ zu foltern und zu töten: „Unter außergewöhnlichen Umständen – und genauso lange wie sie so bleiben – außergewöhnliche Aufgaben.“[16]

1. Die Logik des kolonialen Ausnahmezustandes: Extreme Gewalt als Teil des kolonialen Systems (1830-1956)

1.1 Der Kolonialisierte als Minderwertiger

Extreme Gewalt war von Anfang an Teil des Auftretens der Franzosen in Algerien. Die Kolonie enstand ab dem Jahre 1830 im Laufe eines langen Eroberungskrieges, der sich schon bald als so blutig erweisen sollte, dass seine Folgen die eingeborene Bevölkerung innerhalb von 20 Jahren um ein Drittel dezimierten. Schon hier wird auf die Folter zurückgegriffen, um Informationen über den Gegner zu erhalten: Raphaëlle Branche zitiert als Beispiel eine entsprechende Bemerkung des französischen Offizier Archille Leroy de Saint-Arnaud, der 1845 davon spricht, er habe sich zu diesem Zweck gezwungen gesehen, „den Caligula zu machen“[17] – Gefangene prügeln zu lassen.

Die Grundlage des neuzeitlichen Kolonialismus ist die „Konstruktion von inferiorer „Andersartigkeit“[18] des Kolonialisierten. In Nordafrika stützte sie sich vornehmlich auf das Unterscheidungsmerkmal der Religion, die jedoch von beiden Seiten auch und in erster Linie als Zeichen ethnischer und rassischer Zugehörigkeit verstanden wurde: die Bezeichnungen „ indigène “, „ arabe “ und „ musulman “ wurden weitgehend synonym verwendet. Dem zivilisierten und daher höherstehenden Christen wurde das Gegenbild des rückständigen Muslims gegenübergestellt, der aufgrund seiner Religion nur die Sprache der „force“ verstünde. Politische Ziele wurden den „Eingeborenen“ nicht zugebilligt, Widerstand gegen die koloniale Ordnung erschien als „angeborene“ Aufsässigkeit, die durch Kompromissbereitschaft und Schwäche auf Seiten der Kolonialmacht nur verstärkt würde..[19] Besonders hartnäckig hielten sich auch in späteren Zeiten noch solche radikalen Urteile unter der europäischstämmigen Siedlerbevölkerung Algeriens: Der „ Conseil supérieure de l'Algerie “, bestehend aus ihren Repräsentanten, bekräftigt 1894, „der Araber [sei] eine inferiore und nicht erziehbare Rasse“.[20] Fünfzig Jahre später bescheinigt General Catroux den sogenannten „ pieds-noirs “ eine praktisch unveränderte Haltung: Ihrer Meinung nach seien die Araber „von Geburt minderwertig“ und könnten nur mit harter Hand regiert werden. Da ihre Gesellschaftsordnungen nur Feudalismus oder Anarchie kennten, seien sie „dem Geist und der Praxis demokratischer Regierungsformen nicht zugänglich.“[21] Aufgrund der „Unzivilisiertheit“ der kolonisierten Bevölkerung, wird hier behauptet, gelten für sie auch andere Regeln, die Übertretung der in Europa gültigen Gesetze wird im kolonialen Kontext als angemessen betrachtet. Eine Anfang 1957 vom Generalgouvernement verteiltes Heft über „ mutilation criminelles “ in Algerien bestätigt die Persistenz solcher Vorstellungen, wenn auch auf einer etwas subtileren Ebene. Fast entschuldigend wird zur Erklärung der durch die Unabhängigkeitsbewegung begangenen Gräueltaten erklärt: „Die historischen Tatsachen, die Traditionen und der Faktor der Religion haben dazu beigetragen, dem algerischen Muslim eine ganz eigene Verhaltensweise zu geben, geprägt durch Härte und Fatalismus, die Missachtung des menschlichen Lebens und des Eigentums, die Servilität und den Stolz, die besondere Bedeutung der Ehre, die Fabuliererei und die Lüge, und der geheiligte Respekt der Gastfreundschaft. Man versteht folglich die Unmöglichkeit in der er sich manchmal befindet, Gut und Böse in seinen Handlungen zu unterscheiden.“[22]

1.2 Gewalt als Antwort auf den kolonialen Notstand

Erklärtes Ziel der Eroberer Algeriens war die „Pazifikation“, die in der Theorie dafür sorgen sollte, dass der Staat zur Aufrechterhaltung der Ordnung wie in Europa nur noch auf „symbolische“ Gewalt zurückgreifen muss – also in Ausnahmefällen mit Gewalt dafür sorgen, dass seine Untertanen seine Gesetze und Normen befolgen.[23] Innerhalb des Kolonialsystems waren dafür aber andere Vorraussetzungen gegeben als in Europa. Die Bereitschaft zur Gewalt wurde hier bedeutend verstärkt von einer permanenten Verunsicherung der Kolonialherren. Sie bilden eine absolute Minderheit, die über ein erobertes und folglich feindlich gesinntes Land die Kontrolle bewahren musste. Es waren vor allem die rein numerischen Verhältnisse, die den Kolonisatoren in Algerien Sorge bereiteten. Zwar hatten sich bis zum Ausbruch des Algerienkrieges fast eine Million colons aus Frankreich, aber auch Spanien, Italien und Malta angesiedelt. Dem standen allerdings eine fast 10 Millionen starke muslimische Bevölkerung entgegen, deren demographische Kurve steil nach oben zeigte. Von dieser „steigenden Flut“[24] hinweggespült zu werden bildete lange Jahre die größte Sorge der pieds-noirs.

Hier erscheint die koloniale Gesellschaft als „permanenter Verteidigungszustand in feindlichem Land“[25], der außergewöhnliche Maßnahmen erforderte. Diese Wahrnehmung wurde scheinbar bestätigt durch die meist in den Schwächephasen der Kolonialmacht periodisch auftretenden Aufstände – 1871 in der Kabylei, 1916 im Aurès oder 1945 in der Gegend von Sétif. Gerade das letzte Beispiel gibt eine guten Vorgeschmack auf die Ereignisse ab 1954. Charakteristisch für die koloniale Gesellschaft im Ausnahmezustand wurde, sobald man die koloniale Ordnung ernsthaft bedroht sah, die Armee zu Hilfe gerufen, die für Operationen im Inneren eigentlich weder ausgebildet noch zuständig war. Rechtlich wurde dies möglich durch die Verhängung des Kriegsrechts („ loi martiale “). Der Einsatz von Gewalt folgt der Logik der Selbstverteidigung, neigt jedoch in einer als extrem eingeschätzten Situation stets zur unverhältnismäßigen Eskalation, wobei unterschiedslos Aufrührer und unbeteiligte Zivilbevölkerung massakriert wurden. „Je krisenhafter eine Gefahrensituation wahrgenommen wird, desto größer wird die Bereitschaft, Gewalt einzusetzen. Je definitiver eine gewaltsame Auseinandersetzung beendet werden soll, um die bedrohte Sicherheit wiederherzustellen, desto zielstrebiger muss der innere Feind geschlagen werden, was zielgerichtet mit dem weitgehend kalkulierbaren und rational erfassbaren Massaker geschieht.“[26] Symptomatisch ist die immer wieder feststellbare völlige Disproportionalität der Zahl der Opfer auf beiden Seiten. Nach den Aufstände in Sétif im Mai 1945, denen nicht ganz 30 Siedler zum Opfer fielen, forderte die „Wiederherstellung der Ordnung“ wohl insgesamt zwischen 6 000 und 8 000 Opfer unter der muslimischen Zivilbevölkerung. Die genaue Zahl der Toten schwankt je nach Quelle zwischen 1500 und 50 000 Toten.[27] Diese Zahlen stellten offenbar ein Politikum dar: zwar erfüllten solche Massaker ihren Zweck, Angst und Schrecken zu verbreiten und die Bevölkerung einzuschüchtern. Andererseits eigneten sie sich auch gut als Propaganda für die Gegenseite, sobald sich diese erst einmal politisch organisiert hatte. Je asymmetrischer die Gewalt, umso stärker war sie auch als Argument gegen die koloniale Herrschaft zu gebrauchen.

[...]


[1] Genaue Zahlen lassen sich nur schätzen. Siehe dazu Pervillé, Guy: La guerre d’Algerie: combien des morts?, in: Harbi, Mohammed/Stora, Benjamin et al.: La guerre d'Algérie, Paris 2004, 693-716.

[2] Einen Überblick darüber bietet der Aufsatz von Benjamin Stora: 1999-2003, guerre d'Algérie, accelerations de la mémoire, in: Harbi, Mohammed/Stora, Benjamin et al.: La guerre d'Algérie, Paris 2004, S. 725-744. Interessant sind in diesem Kontext auch Versuche zur Einrichtung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse zu diesem Thema: proposition de résolution (n° 3215) tendant à créer une commission d'enquête « sur l'ampleur et la responsabilité des arrestations arbitraires, détentions illégales, actes de torture et exécutions sommaires imputables aux autorités françaises, durant la guerre d'Algérie », 29.Juni 2000, sowie der darüber erstellte Bericht: „rapport [...]sur la proposition de résolution (n° 3215) de m. jean-pierre brard, visant à la création d'une commission d'enquête relative à l'ampleur et à la responsabilité des arrestations arbitraires, [...], 10 Oktober 2001. Im Netz unter : http://www.assemblee-nationale.fr/11/propositions/pion3215.asp sowie http://www.assemblee-nationale.fr/11/cr-cloi/01-02/c0102004.asp (12.4.2006).

[3] Beispielsweise im Fall des Generals Aussaresses, der nach der Veröffenlichung seiner Erinnerungen aus dem Algerienkrieg aufgrund von „Verherrlichung von Kriegsverbrechen“ seine légion d'honneur verlor. Aussaresses, Paul: Services spéciaux. Algérie 1955-1957, Paris 2001.

[4] Wie etwa Henry Alleg: Alleg, Henri: La Question, 1958. Auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Die Folter“, 1960. (Alleg, Henri: Die Folter. Mit Geleitw. v. Jean-Paul Sartre u. Eugen Kogon, Wien, München [u.a.], 1958.) Zu weiteren Berichten und Veröffentlichungen siehe unten.

[5] Kelly, George Armstrong: Lost Soldiers. The French Army and Empire in Crisis, Cambridge (Mass) 1965, Überschriften Kapitel 2 und 14.

[6] Foltergegner benutzten diesen Vergleich von Anfang an: Claude Bourdet am 6.12.1951 („Y a-t-il une Gestapo en Algérie“), dann nochmals am 13.1.1955 „Votre Gestapo d'Algérie“: Vidal-Naquet, Pierre: La torture dans la République (1954-1962). Essai d'histoire et de politique contemporaines, Paris 1972, S. 25 FN3. Siehe für den Gestapo-Vergleich auch ebd., S. 14.

[7] Alleg, Henri: La Question (deutsch: „Die Folter“). „La Question“ war ebenfalls der Titel eines Artikels von François Mauriac in der Zeitung L’Express, 15.1.1955.

[8] Thénault, Sylvie: Une drole de justice. Les magistrats dans la guerre d'Algérie, Paris 2001 [= Thénault, Drôle de Justice], 27.

[9] Vidal-Naquet, Pierre: La torture dans la République (1954-1962). Essai d'histoire et de politique contemporaines, Paris 1972

[10] Zum Thema Folter und „mission civilisatrice“ siehe vor allem Maran, Rita: Staatsverbrechen. Ideologie und Folter im Algerienkrieg, Hamburg 1996. (Engl. Original von 1989)

[11] Siehe zur Justiz: Thénault, Sylvie: Drôle de justice, zur Polizei: Peyroulou, Jean-Pierre: Rétablir et maintenir l'ordre colonial. La police française et les Algériens en Algérie française de 1945 à 1962, in: Harbi/Stora: La guerre d'Algérie Paris 2004.

[12] Als Loi n° 55-385 vom 3.4.1955: www.senat.fr/connaitre/pouvoirs_publics/pouvois_publics15.html. (Stand: 1.2.2006)

[13] Zur juristischen bzw. rechtsphilosophischen Seite des Ausnahmezustands siehe etwa: Schmitt, Carl: Die Diktatur von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf , München 1921, sowie Agamben, Giogio: Ausnahmezustand, Frankfurt a.M. 2004.

[14] Robin, Marie-Monique: Ecadrons de Mort. L'ecole francaise, Paris 2004, 13, zitiert Charles Lacheroy.

[15] Maran, Rita: Staatsverbrechen. Ideologie und Folter im Algerienkrieg, Hamburg 1996, 157.

[16] Jacques Massu druckt Delarues Text als „Dokument von besonderem Wert für mich“ ab: Massu, Jaques: La vraie bataille d'Alger, Paris 1971, 160-162.

[17] Branche: La torture pendant la guerre d'Algerie, in: Harbi, Mohammed/Stora, Benjamin et al.: La guerre d'Algérie, Paris 2004, 549. Interessant ist, dass Saint-Arnaud sich in seiner Wortwahl auf die Antike bezieht und damit zumindest indirekt seine kulturelle Überlegenheit „nachzuweisen“ versucht.

[18] Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte - Formen - Folgen , München 1995, S. 113.

[19] Elsenhans, Hartmut: Frankreichs Algerienkrieg. Entkolonisierungsversuch einer kapitalistischen Metropole, München 1974, S. 322-327.

[20] Julien, Charles André: L'Afrique du Nord en marche. Algérie-Tunisie-Maroc 1880-1952, Paris 2002 (Neuauflage von 1952), 31.

[21] Ebd. Die zitierten Bemerkungen von Catroux stammen aus dem Jahr 1949.

[22] Branche, Raphaelle: La torture et l'armée pendant la guerre d'Algérie. 1954-1962, Paris 2001 [=Branche, L’armee], 28.

[23] Siehe Frémaux, Jacques: La France et l’Algérie en guerre, 1830-1871 et 1954-1962, Paris 2001, 202f. zur « pacification ».

[24] Der Ausdruck stammt von Julien, 31.

[25] Mann, Michael: Das Gewaltdispositiv des modernen Kolonialismus. , in: Dabag, Mihran/Gründer, Horst/Ketelsen, Uwe (Hgg.): Kolonialismus, Kolonialdiskurs und Genozid, Bochum 2004, S. 120.

[26] Ebd. S. 119.

[27] Julien, 263.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
"Extreme Methoden" - Gewalt, Zivilisation und der Ausnahmezustand im Algerienkrieg
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Historisches Seminar)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
34
Katalognummer
V76319
ISBN (eBook)
9783638805551
ISBN (Buch)
9783638807500
Dateigröße
580 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Extreme, Methoden, Gewalt, Zivilisation, Ausnahmezustand, Algerienkrieg
Arbeit zitieren
Stefan Esselborn (Autor:in), 2006, "Extreme Methoden" - Gewalt, Zivilisation und der Ausnahmezustand im Algerienkrieg, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76319

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