Seit nunmehr 15 Jahren kämpft der russische Staat um die eigene Stellung im neuen Weltgefüge. Der Kommunismus hat ausgedient und die Wortgewalt des Kremls verliert sich im kapitalistischen Konsumrausch. Neue Staaten entstanden und neue Gesichter geben den internationalen Ton an.
Russland befindet sich gegenwärtig immer noch im Transformationsprozess; hin zu Demokratie und Marktwirtschaft. Auf dem Papier wurde vieles erreicht, die Umsetzung leidet unter ‚Verzögerung’ des russischen Alltags. Mit Amtsantritt Putins verbesserte sich die wirtschaftliche, soziale und gesellschaftspolitische Situation des Landes.
Der gesellschaftliche Umbruch und die neuen westlichen Einflüsse sind an der russischen Bevölkerung nicht unbemerkt vorübergegangen. Die Begeisterung für westliche Konsumgüter mischt sich mit Angst vor Reizüberflutung. Die Entscheidung, was gut und schlecht ist, nimmt jetzt kein Parteiführer mehr ab. Große Teile der russischen Bevölkerung fühlen sich durch die alleinige Entscheidungsgewalt und Variantenvielfalt überfordert.
Sowohl der russische Staat als auch die Bevölkerung sind sich über ihren eigenen Standpunkt unklar. Wohin soll sich Russland orientieren; Als was definiert sich ein Russe und welche Konsequenzen in Politik und Gesellschaft müssen gezogen werden? Prowestliche Bewegungen treffen dabei auf konservative Patrioten und der Russe wird hin- und hergerissen zwischen Tradition, Postkommunismus, Globalisierung und persönlichen Bedürfnissen.
In Europa hat sich in den letzten Jahren der Begriff der Russischen Identitätsfindung herausgebildet. Es umfasst den Prozess der russischen Gesellschaft und des Staates, ein beständiges, nationales Gesicht herauszubilden.
Die russische Regierung versucht ihrerseits die russische Identität durch den allgemeinen politischen Kurs, Gesetzten und Reformen zu prägen. Die Freiheit der individuellen Identität endet aber am staatlichen Hoheitsgebiet.
Eine besondere Rolle fällt dem Sektor Kunst und Kultur zu. Kulturelle Institutionen haben – vielleicht so wie kein Anderer – Einfluss auf das Selbstgefühl eines jeden russischen Bürgers und können somit alleinig die gesamtrussische Identitätsausprägung [von unten] bekräftigen.
Das Selbstbild Russlands ist noch unfertig: das Muster abstrakt, vielfarbig und der Rahmen brüchig. Es gibt noch zu viele verschiedene/ strittige Interpretationsweisen, als dass man von DEM Russland reden könnte.
INHALT
ABSTRACT
1. Der Einfluss des Staates
1.1) Systemwandel und neue Tendenzen
1.1.1) Sozialer Wandel und Volksarmut
1.1.2) Persönlichkeitsprägendes Bildungswesen
1.1.3) Demographie und Generationswechsel
1.2) Putins Westorientierung
1.3) Militarismus einer Schein- Weltmacht
1.3.1) Stellung des Militärs in der Gesellschaft
1.3.2) Der Tschetschenienkrieg als nationaler Erhaltungskampf
2. Der Einfluss gesellschaftlicher Gruppe
2.1) Die Familie als zuverlässige Stütze
2.2) Interessengruppen und Verbände
2.2.1) Der steinige Weg von Nichtregierungsorganisationen
2.2.2) Frauenrechtsgruppen
3. Identitätssuche in Kunst und Kultur
3.1) Presse und Fernsehen
3.1.1) Neue Freiheiten
3.1.2) Das Ende der freien Berichterstattung
3.1.3) Nationalgeist aus der Flimmerkiste
3.2) Kultureinrichtungen und Geschichtsbewusstsein
3.2.1) Sehnsucht nach Vergangenheit
3.2.2) Patriotismus
3.2.3) Museen und Theater
3.2.4) Die russische Literatur
3.3) Die Rolle der Kirche
3.3.1) Renaissance der Orthodoxie
3.3.2) Traditionalismus und Wertekonservatismus
4. Folgen der Identitätsfindung Russlands
LITERATURNACHWEIS
ABSTRACT
Seit nunmehr 15 Jahren kämpft der russische Staat um die eigene Stellung im neuen Weltgefüge. Der Kommunismus hat ausgedient und die Wortgewalt des Kremls verliert sich im kapitalistischen Konsumrausch. Neue Staaten entstanden und neue Gesichter geben den internationalen Ton an.
Russland befindet sich gegenwärtig immer noch im Transformationsprozess; hin zu Demokratie und Marktwirtschaft. Auf dem Papier wurde vieles erreicht, die Umsetzung leidet unter ‚Verzögerung’ des russischen Alltags. Mit Amtsantritt Putins verbesserte sich die wirtschaftliche, soziale und gesellschaftspolitische Situation des Landes.
Der gesellschaftliche Umbruch und die neuen westlichen Einflüsse sind an der russischen Bevölkerung nicht unbemerkt vorübergegangen. Die Begeisterung für westliche Konsumgüter mischt sich mit Angst vor Reizüberflutung. Die Entscheidung, was gut und schlecht ist, nimmt jetzt kein Parteiführer mehr ab. Große Teile der russischen Bevölkerung fühlen sich durch die alleinige Entscheidungsgewalt und Variantenvielfalt überfordert.
Sowohl der russische Staat als auch die Bevölkerung sind sich über ihren eigenen Standpunkt unklar. Wohin soll sich Russland orientieren; Als was definiert sich ein Russe und welche Konsequenzen in Politik und Gesellschaft müssen gezogen werden? Prowestliche Bewegungen treffen dabei auf konservative Patrioten und der Russe wird hin- und hergerissen zwischen Tradition, Postkommunismus, Globalisierung und persönlichen Bedürfnissen.
In Europa hat sich in den letzten Jahren der Begriff der Russischen Identitäts-findung herausgebildet. Es umfasst den Prozess der russischen Gesellschaft und des Staates, ein beständiges, nationales Gesicht herauszubilden.
Die russische Regierung versucht ihrerseits die russische Identität durch den allgemeinen politischen Kurs, Gesetzten und Reformen zu prägen. Die Freiheit der individuellen Identität endet aber am staatlichen Hoheitsgebiet.
Eine besondere Rolle fällt dem Sektor Kunst und Kultur zu. Kulturelle Institutionen haben – vielleicht so wie kein Anderer – Einfluss auf das Selbstgefühl eines jeden russischen Bürgers und können somit alleinig die gesamtrussische Identitätsausprägung [von unten] bekräftigen.
Das Selbstbild Russlands ist noch unfertig: das Muster abstrakt, vielfarbig und der Rahmen brüchig. Es gibt noch zu viele verschiedene/ strittige Interpretations-weisen, als dass man von DEM Russland reden könnte. Was macht eine [nationale] Identität aus?
Geht man von der Definition einer Identität aus, so ist sie das im Entwicklungsprozess herausgebildete Ich einer Person. Identität kann ebenfalls als die einzigartige Gesamtheit aller Daten zu einem bestimmten Menschen formuliert werden. Überträgt man dies auf ein Land, so bilden Geographie, Geschichte, Kultur, Bewohner und Umwelt die Gesamtheit aller Landesdaten. Der an den Daten wiederum angelehnte bzw. daraus resultierende Entwicklungsprozess kann aus Fakten eine Identität – ein Ich- bzw. Wir-Gefühl – schaffen.
Bei der menschlichen wie auch nationalen Identität nimmt man Kontinuität und Gleichheit an. Trotz immer neuer Eindrücke und Erfahrungen werden wir keine andere Person. Durch traumatische Erlebnisse aber kann eine Identität Schaden nehmen. Das Selbstbild einer Person oder eines Landes kann schmerzhaft hinterfragt werden oder gar ganz verloren gehen.
Die Gründe für eine Identitätsausprägung sind unterschiedlich. Man kann dabei die Interessen von dominanten und dominierten Gruppen unterscheiden. Prägen dominierende Gruppen [z.B. Staat] die Vorstellungen einer Identität, so werden sie den dominierten Gruppen ein Selbstbild erzeugen, das der dominanten Gruppe weiterhin den Machterhalt garantiert. Dies kann bis hin zu totalitären Weltanschauungen führen.
Dominierte Gruppen [z.B. Bevölkerung, Minderheiten…] wiederum versuchen bei einer Identitäts-Findung ein Wir-Gefühl zu entwickeln. Es geht ihnen darum, sich selbst zu repräsentieren und dem von oben aufgedrücktem Stempel der Selbstdefinition entgegenzuwirken. „Dominierte Gruppen verstehen ihre Identitätspolitik oftmals als vorübergehendes notwendiges Stadium, um in einem dialektischen Prozess zur Aufhebung der Differenzen zu gelangen (z.B. klassenlose Gesellschaft).“[1] Ziel ist die Änderung des Staus Quo.
Erst das Bewusstsein über die eigene Identität ermöglicht aktives Handeln, denn erst mit der Auslotung des eigenen Standpunktes kann man in die richtige Richtung steuern.
1. Der Einfluss des Staates
1.1) Systemwandel und neue Tendenzen
1.1.1) Sozialer Wandel und Volksarmut
Mit Zusammenbruch der Sowjetunion erfolgte eine sozialer Wandel, der tiefe Einschnitte in der Gesellschaft hinterließ[2]. Der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft stürzte den Großteil der Bevölkerung in soziale Unsicherheit und Armut und ermöglichte einigen Wenigen das große Geschäft.
Der soziale Wandel wurde durch zwei wesentliche Elemente der marktwirtschaftlichen Reform eingeleitet: die Hyperinflation und die Privati-sierung. Zwischen 1992 und 1995 wurden durch die steigenden Preise die Ersparnisse der Menschen aufgebraucht und Gehälter und Renten vermindert. Somit war die traditionelle sozialistische Mittelschicht besonders benachteiligt: Funktionäre, Lehrer und Ingenieure. Mitte der 90er Jahre lag der durchschnittliche Monatsverdienst bei 100 US-Dollar, sank mit der Finanzkrise 1998 aber weiter auf 60 USD ab.
Noch stärker betroffen waren die Rentner, deren Rentenzahlung nicht an die Inflation angepasst wurde. Halbierte sich die durchschnittliche Rente von 1992 bis 1995, sank sie 1998 um ein weiteres Drittel. 1999 lag die durchschnittliche Rente bei 20 USD.
Das soziale Sicherungssystem konnte diese Probleme nicht lösen. Sozialleistungen wurden vielfach durch die sozialistischen Betriebe verteilt. Mit Marktwirtschaft und Privatisierung brach dieses Gerüst zusammen und der Staat verpasst die Etablierung einer wirkungsvollen Alternative.
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung 1999 verbesserte sich die Lage allmählich. Der Durchschnittslohn stieg bis 2003 auf 150 USD und die Rentenzahlungen wurden verdreifacht [2003 bei 50 USD]. Von einer dauerhaft beständigen Entwicklung kann aber noch nicht gesprochen werden und die Renten und Gehälter im Lehrbereich ermöglichen immer noch kein gutes Leben.
Während es in der Sowjetunion eine soziale Verteilung ähnlich der im Westen gab – kleine Oberschicht, kleine Unterschicht, große Mittelschicht – wandelte sich das Bild in Russland und die russische Bevölkerung sah sich zunehmend als ‚Unterschicht’. Daneben existiert eine kleine Oberschicht, die vom Transformationsprozess profitierte. Ein Mittelstand – auch in der Industrie – etabliert sich nur langsam. Ein ‚Bürgertum’ mit gesichertem Einkommen und sozialem Stand hat sich noch nicht herausbilden können.
Das Bewusstsein, dass der Nachfolgestaat des reichen Zarenreiches verarmt ist und seine Bewohner in ärmlichen Verhältnissen leben müssen ist schlecht mit dem Nationalstolz vereinbar. Aber trotz der Tatsache, dass die russische Gesellschaft international nicht mit den Industriestaaten mithalten kann, möchte man die historische Rolle der Weltmacht nicht ablegen – und träumt zumindest weiterhin von ihr.
1.1.2) Persönlichkeitsprägendes Bildungswesen
Mit Ende der Sowjetunion forderten Lehrkräfte einen radikalen Paradigmen-wechsel gegenüber der sowjetischen Epoche. Statt ideologisch motivierter Erziehungsmethoden autoritärer Pädagogik sollte Platz für eine freie Persönlichkeitsentwicklung werden. Das Bildungs- und Lenkungsmonopol des Staats wurde abgelehnt.
1992 wurde im Bildungsgesetz der Russländischen Föderation ein „[…] radikalliberaler Reformkurs [mit] weltweit gültigen Grundsätzen von Demokratie und Marktwirtschaft sowie der gesellschaftlichen Mitwirkung am Bildungssystem […]“[3] verankert[4]. Die Umsetzung zeigte bald Erfolge hinsichtlich der Umgestaltung der Lehrpläne [Geschichte, politische Bildung], Einrichtung von pädagogischen Modellschulen und Privatisierungen.
Aufgrund des schnellen Reformtempos und der mangelhaften Vorbereitung zeigten sich Schwächen des Reformkurses erst ab Mitte der 90-er Jahre. Leistung, Qualität und Gerechtigkeit der Bildung erlitten Einbußen. Es kommt jetzt wieder die Forderung nach einheitlichen russischen Bildungsraum auf. Mit Stipendien- und Gehaltszahlungen versucht die Regierung das Recht auf unentgeltliche Bildung zu garantieren.
Zugleich nahm sie [die Regierung, A.d.A.] das Gedankengut der nationalpatriotisch gesinnten Kreise im Lande auf und berücksichtigte so die Anerkennung, die das sowjetische Bildungswesen […] in der eigenen Bevölkerung weiterhin genoss.[5]
Das gegenwärtige russische Bildungswesen ist frei von Parteieinfluss und Gleichschaltung. Dennoch ist keine so ausgeprägte Individualisierung wie in Europa oder den USA zu bemerken. Im ‚Frontalunterricht’ werden den Schülern und Studenten die rechten Antworten diktiert, welche wortwörtlich bei Prüfungen abgefragt werden. Eine selbstständige Auseinandersetzung mit einer Problematik wird durch die geringe Wertschätzung von Eigeninitiative unattraktiv. Mancherorts wird gar die persönliche Entwicklung der Schüler behindert, indem man bei Auslandsaufenthalten mit Exmatrikulation droht.
Mit der nur zaghaft ausgeprägten Individualisierung von Schülern und Studenten verhindert der Staat die Herausbildung von selbstdenkenden, kritischen Persönlichkeiten, die sich den aktuellen Problemen von Staat und Gesellschaft annehmen und eventuell lösen könnten. Die Individualisierung von Meinungen und Lebensläufen erscheint noch zu beschwerlich und unnötig im gegenwärtigen Russland. Auf längere Sicht aber wird nur Ideen- und Erfindungsreichtum die lähmende Hülle des Sozialismus und die Befangenheit des Frühkapitalismus abstreifen können.
1.1.3) Demographie und Generationswechsel
Die demographische Situation in Russland ist alarmierend. Bis 2015 wird die Bevölkerungsanzahl um 15%[6] sinken. Gründe dafür sind Geburtenrückgang und eine gesunkene Lebenserwartung. Seit den 60er Jahren war die Geburtenrate in Russland rückgängig, brach aber mit der „postsozialistischen Wirtschaftskrise“[7] in den 90er Jahren gänzlich ein. Lag das Verhältnis von Geburten zu Sterbefällen Ende der 80er Jahre noch bei 1, sank es bis 2000 auf 0,5. Erschreckend ist auch, dass die Zahl der offiziell registrierten Abtreibungen doppelt so hoch ist, wie die Geburtenzahl.
[...]
[1] …
[2] Vgl. Heiko Pleines: Aspekte der postsowjetischen Gesellschaft. In: Informationen zur politischen Bildung. 281 Russland. Bonn 2003. S.24-26.
[3] Gerlind Schmidt: Bildung und Wissenschaft. In: Informationen zur politischen Bildung. 281 Russland. Bonn 2003. S.44.
[4] Schmidt. 2003: „Hierzu gehören die Sicherung der Rechte des Individuums und einer Vielzahl politischer, weltanschaulicher, sozialer und ethnisch-kultureller Ansprüche der Gesellschaft gegenüber dem Staat, die Freiheit von Wissenschaft und Forschung sowie die Trennung von staatlichem Bildungswesen und Kirche.“
[5] Schmidt. 2003. S.44.
[6] Ausgehend von 2003.
[7] Pleines. 2003. S.23.
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