Erich Kästner ist gemeinhin als Kinderbuchautor bekannt. Vermutlich hat jeder von uns als Kind wenigstens eine seiner großen Geschichten für kleine Leute gelesen oder als Film gesehen. "Pünktchen und Anton", "Emil und die Detektive" und "Das fliegende Klassenzimmer" gehören dazu. Weitaus weniger bekannt ist Kästner als Autor von Erwachsenenliteratur.
Sein Roman "Fabian. Die Geschichte eines Moralisten" ist Kästners erstes zeitkritisches Prosawerk und mit einer Auflage von 30.000 Exemplaren im Veröffentlichungsjahr überaus erfolgreich. Kästner zeichnet darin das düstere Bild einer durch politische und ökonomische Missstände verkommenen Gesellschaft.
Diese Arbeit betrachtet, wie Moral und Anstand im großstädtischen Überlebenskampf aufgegeben werden. Mit dem Angestelltenroman Fabian hat Kästner wichtige stilistische Eigenarten und thematische Schwerpunkte der Neuen Sachlichkeit aufgegriffen. Kästners literarisches Werk ist besonders stark von seiner Biografie geprägt. Er ist ein Moralist mit einer sehr pessimistischen Einstellung und bleibt seinen Idealvorstellungen treu, obwohl er selbst nicht daran glauben mag, dass Menschen zu einer Einsicht gelangen könnten („Jede Bemühung, die Menschheit zu bessern, wird an deren Unverbesserlichkeit scheitern.“). Die literaturwissenschaftliche Bearbeitung des Romans wird belegen, wie fortgeschritten Kästner den durch die beschriebenen Rahmenbedingungen hervorgerufen sittlichen Verfall einstuft und für wie nötig Kästner es hält, an der moralischen Verbesserung der Menschen zu arbeiten. Die Unmoral durchzieht alle Gesellschaftsschichten, wobei die obere Schicht sich vergnügt und die von der Wirtschaftskrise Gebeutelten sich erniedrigen müssen, um nicht zu verhungern. Kästner beklagt die Sittenlosigkeit der emanzipierten, neuen deutschen Frau, die Unmoral in Liebesbeziehungen, die auswegslose Massenarbeitslosigkeit und eine fehlende Richtungsvorgabe der Politik. Schließlich wirft diese Arbeit einen Blick auf Fabians Ende, welches nicht ausbleiben darf, denn es soll als negatives Beispiel den Leser zum Moralismus „missionieren“.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Zeitgeschichtlicher Kontext: Zur Entstehung des Romans
2.1 Neue Sachlichkeit
2.2 Rahmenbedingungen und geistige Situation am Ende der Zwanziger Jahre
2.3 Kästner in den Krisenjahren der Weimarer Republik
2.4 Unverbesserlicher Pessimist mit Neigung zur Hoffnung
3 Moral und Unmoral in allen Bereichen
3.1 Kästner in der Tradition der europäischen Moralisten
3.2 Dr. Jakob Fabian - Moralist, Melancholiker, Nichtschwimmer
3.2.1 Ein ungleicher Freund gibt auf
3.2.2 Liebesmoral und Liebesbeziehungen
3.2.3 Wenig Aussicht auf dem Arbeitsmarkt
3.2.4 Verschiedene Politikauffassungen
3.2.5 Elemente einer unmoralischen Gesellschaft: Medien, Technik und Wissenschaft
3.2.6 Fabians Ende
4 Schlussbetrachtung
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Erich Kästner ist gemeinhin als Kinderbuchautor bekannt. Vermutlich hat jeder von uns als Kind wenigstens eine seiner großen Geschichten für kleine Leute gelesen oder als Film gesehen. Pünktchen und Anton, Emil und die Detektive und Das fliegende Klassenzimmer gehören dazu. Weitaus weniger bekannt ist Kästner als Autor von Erwachsenenliteratur. Sein Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten ist Kästners erstes zeitkritisches Prosawerk und mit einer Auflage von 30.000 Exemplaren im Veröffentlichungsjahr überaus erfolgreich. Kästner zeichnet darin das düstere Bild einer durch politische und ökonomische Missstände verkommenen Gesellschaft.
Diese Arbeit betrachtet, wie Moral und Anstand im großstädtischen Überlebenskampf aufgegeben werden. In seinem Aufsatz Fabian und die Sittenrichter, der der Neuauflage von 1950 nachgestellt ist, schreibt Kästner über sich: „Ich bin ein Moralist.“[1] Wie sehr ihm anständiges Verhalten der Menschen untereinander und die Wahrung der Moral am Herzen liegt, wird die Arbeit zeigen. Mit dem Angestelltenroman Fabian hat Kästner wichtige stilistische Eigenarten und thematische Schwerpunkte der Neuen Sachlichkeit aufgegriffen, wie die Einordnung in den zeitgeschichtlichen Kontext belegen wird. Darauf folgt eine kurze Betrachtung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umstände einer Zeit, die speziell in Bezug auf das Berliner Großstadtleben die „Goldenen Zwanziger“ genannt wird. Doch „golden“ war diese Epoche nur für bestimmte Gesellschaftskreise. So präsentiert Kästner in seinen Beschreibungen nicht die glanzvolle Seite der Stadt. Die betont ausgelassene Freiheit der Berliner zeigt sich zu dieser Zeit nicht mehr durch kulturelle Höhepunkte, sondern wird von der betuchten Gesellschaftsschicht in fragwürdigen Etablissements mit perversen Bühnenspielen oder gekaufter Liebe ausgelebt.
Kästners literarisches Werk ist besonders stark von seiner Biografie geprägt, wie Hermann Kesten in seiner Einleitung zur Gesamtausgabe bemerkt.[2] Daher ist ein kurzer Blick auf Kästners Leben sinnvoll, soweit es für das Thema dieser Arbeit eine Rolle spielt. Seinen moralischen Standpunkt hat Kästner schon früh ausgeprägt. Die negativen Auswirkungen der Industrialisierung, die in seinem Roman zu Massenarbeitslosigkeit und schließlich zum moralischen Untergang führen, trafen auch Kästners Eltern. Wichtig für seine Entscheidung, der menschlichen Unmoral den Kampf anzusagen, war Kästners Zeit im Militärdienst. Dort hatte der Individualist mit der strengen Unterordnung zu kämpfen, die jegliches eigenständige Denken verbot. Kästner gilt als scharfsinniger Beobachter seiner Zeit. Die Romanfiguren sind unter anderem deswegen so treffend charakterisiert, weil Kästner selbst in der pulsierenden Großstadt lebte, die er im Fabian beschreibt. Kästner ist ein Moralist mit einer sehr pessimistischen Einstellung. Er bleibt seinen Idealvorstellungen treu, obwohl er selbst nicht daran glauben mag, dass Menschen zu einer Einsicht gelangen könnten („Jede Bemühung, die Menschheit zu bessern, wird an deren Unverbesserlichkeit scheitern.“[3]). Der Abschnitt 2.4 soll zeigen, dass der Autor nicht nur in diesem Roman, sondern auch in seinen zahlreichen Gedichten und Essays wenig Hoffnung auf eine Entwicklung der Menschen zu Moral und Anstand hat. Der genaueren Betrachtung des Textes geht ein kurzer Blick auf die moralistische Tradition voraus, in der Kästner mit seiner Haltung steht. Interessanterweise ist die im Roman beschriebene Orientierungslosigkeit der Gesellschaft der Übergangssituation vom Mittelalter zur Neuzeit sehr ähnlich. Die literaturwissenschaftliche Bearbeitung des Romans wird belegen, wie fortgeschritten Kästner den durch die beschriebenen Rahmenbedingungen hervorgerufen sittlichen Verfall einstuft und für wie nötig Kästner es hält, an der moralischen Verbesserung der Menschen zu arbeiten. Die Unmoral durchzieht alle Gesellschaftsschichten, wobei die obere Schicht sich vergnügt und die von der Wirtschaftskrise Gebeutelten sich erniedrigen müssen, um nicht zu verhungern. Kästner beklagt die Sittenlosigkeit der emanzipierten, neuen deutschen Frau, die Unmoral in Liebesbeziehungen, die auswegslose Massenarbeitslosigkeit und eine fehlende Richtungsvorgabe der Politik. Schließlich wirft diese Arbeit einen Blick auf Fabians Ende, welches nicht ausbleiben darf, denn es soll als negatives Beispiel den Leser zum Moralismus „missionieren“.
Der populäre Autor Kästner wird von der Literaturwissenschaft für seine Oberflächlichkeit stark kritisiert. Seine Betonung der Moral, die nicht näher definiert wird, bringt ihm den Vorwurf mangelnder Alternativen ein, wie in der Schlussbetrachtung hervorgehoben wird.
2 Zeitgeschichtlicher Kontext: Zur Entstehung des Romans
2.1 Neue Sachlichkeit
Eine der großen literarischen und gesamtkulturellen Strömungen der Weimarer Republik (1919-1933) ist die der Neuen Sachlichkeit, in deren Spätphase Erich Kästners Roman Fabian 1931 erschien. Sie befasst sich zunächst nicht mit der politischen Entwicklung der Weimarer Zeit, sondern ist als Gegenmodell zum späten Expressionismus konzipiert.
Sabina Becker unterteilt die verschiedenen literarischen Genres innerhalb der Neuen Sachlichkeit in der Zeit von 1925 bis 1933 in „Antikriegsroman, Situation der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, Industrieroman, Angestelltenroman und allgemeiner Zeitroman“.[4] Als herausragende Vertreter der Epoche seien an dieser Stelle exemplarisch genannt: Hermann Hesse (Der Steppenwolf, 1927), Hans Fallada (Kleiner Mann- was nun?, 1932), Thomas Mann (Mario und der Zauberer, 1930), Erich Maria Remarque (Im Westen nichts neues, 1929) oder Ludwig Renn (Krieg, 1928).
Die neusachlichen Zeitromane als vornehmliches Phänomen der Berliner Großstadtkultur orientieren sich an der Wirklichkeit und sind um deren Darstellung im soziokulturellen wie ökonomischen Bereich bemüht. Oft spielten die Biografien der Autorschaft bei der Produktion der Prosa eine große Rolle, waren sie doch selbst Betroffene der in ihren Romanen beschriebenen Krisen. Daher sind die Romanfiguren häufig im Angestelltenbereich angesiedelt, während die Arbeitersituation, wie bei Kästner, in den Hintergrund tritt. Es handelt sich bei der neusachlichen um eine pragmatische Literatur, die für eine breit gestreute Leserschaft ansprechend sein soll und nicht auf eine avantgardistische Elite ausgerichtet ist.
Die neusachlichen Autoren waren darauf bedacht, passiv zu beobachten statt die Menschen als aktive Vordenker mit idealen Lebensmodellen in eine bessere Zukunft zu leiten. Leicht verständliche Beobachtungen erschienen wichtiger als komplex formulierte utopische Visionen. Die Hauptfiguren in der neusachlichen Literatur standen nicht für ihr Einzelschicksal, sondern beispielhaft für ihre soziale Schicht. Fabian etwa betrachtet die Schicksale der Menschen, denen er begegnet, und setzt sie zu einem Gesamtbild zusammen, das die gesamtgesellschaftliche Situation darstellt. Die Neue Sachlichkeit ist in literarischer Form ebenso wie in der Malerei eine Gebrauchskunst, die sich an den Wünschen der Menschen orientiert und versucht, ihre Alltagsfragen zu beantworten. Im Gegensatz zum irrational utopischen Expressionismus werden Gefühle ausgeblendet. Die neusachliche Forderung nach Aktualität und Berichterstattung führt zu Themen wie Technik, Urbanisierung, Schilderung der Arbeits- und Produktionswelt, Unterhaltungs-industrie mit den Filmtheatern, Revuen und Kabaretts. Ebenso interessieren die politischen Entwicklungen der Weimarer Republik und das neue Frauenbild. Der Angestelltenroman, zu dem auch Kästners Roman Fabian zählt, beschäftigt sich besonders mit der nach dem New Yorker Börsenkrach eintretenden Weltwirtschaftskrise. Tatsächlich sind viele dieser Romane in der Zeit nach 1929 entstanden. Die Bestrebungen der neusachlichen Literatur sind jedoch nicht ausschließlich mit der ökonomischen Situation der Weimarer Zeit verbunden.[5] Neben der Wirtschaftskrise befasst sich die Literaturepoche mit der Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges und der Schilderung der industriellen Produktionswelt. Betrachtet wird dabei weniger das Schicksal eines Individuums als dessen Lebensraum.
Im neusachlichen Roman berichten die Ich-Erzähler, aber auch, wie im Fabian, die unpersönlichen Beobachter. Das klassische, historisierende und psychologisierende Erzählen spielt keine Rolle. Kästner analysiert in schnörkelloser Ästhetik nicht etwa das Individuum Fabian, sondern die Soziologie der Menschen im Gesamten und zeigt damit ein wichtiges Kriterium des neusachlichen Stils. Daher wird Fabians Verhalten nicht erklärt, sondern seine Situation und seine Entscheidungsalternativen stehen exemplarisch für die Masse, oder zumindest für seine sozial gleichgestelltenMitmenschen.
Ebenso wenig ist es die Absicht der neusachlichen Autoren, historische Elemente einzufügen. So beschränken sich die Beschreibungen Fabians lediglich auf kurze Erwähnungen vergangener Ereignisse.[6] Wichtiger als Historisches sind die aktuellen Ereignisse und der Blick in die Zukunft.
Erich Kästner wollte seinen Roman nicht zur Neuen Sachlichkeit gezählt wissen, wie Britta Jürgs in ihrem Aufsatz festhält.[7] Dennoch wird Kästner dieser Literaturepoche zugerechnet. Dass dem so ist liegt nicht ausschließlich an der zeitlichen Einordnung des Fabian. Kästner hat eine Vielzahl neusachlicher Elemente in seinem ersten Erwachsenenroman aufgenommen, etwa das schnelle, reportagenhafte Erzählen. Auch sind viele beliebte neusachliche Themen wie Technik, Journalismus, Werbung und Großstadt im Roman enthalten, die im Verlauf dieser Arbeit eine Rolle spielen werden.
Die vorangegangenen Ausführungen geben nur einen kleinen Teil der Komplexität des Begriffes „Neue Sachlichkeit“ wieder. Martin Lindner gibt zu bedenken, dass dieser Terminus keine exakte Stildefinition impliziert und die Inhalte, Interessen und Ziele sich nicht so einfach festhalten lassen, sondern in Einzelfällen sehr vielschichtig sein können. Ebenso wenig kann man eine „ideologisch geschlossene Gruppe“[8] neusachlicher Autoren definieren, die sich an ein ähnliches Schreibmuster halten. Der Begriff der „Neuen Sachlichkeit“ erlangte schnell enorme Popularität und wurde zum geflügelten, allzu abgenutzten Modewort für das urbane Lebensgefühl der Großstädter.
2.2 Rahmenbedingungen und geistige Situation am Ende der Zwanziger Jahre
Fabian ist ein Zeitroman, der die Probleme der Menschen mit ihrer Zeit in den Vordergrund stellt. Der zeitgeschichtliche Hintergrund, aus dem diese Probleme erwachsen sind, soll in dem folgenden Abschnitt behandelt werden.
Der Anfang vom Ende der Weimarer Republik wird historisch auf das Jahr 1930 gelegt, in dem die Weltwirtschaftskrise gemeinsam mit zunehmender politischer Radikalität die bestehenden politischen und gesellschaftlichen Strukturen aufzulösen begann. Entsprechend groß war die literarische Aktivität um diese Gegenwartskrise. Das Bürgertum, dem Erich Kästner in seinem Werk nachtrauert, konnte sich gegen die zunehmende Inflation, die Massenkultur und den durch die Technisierung beschleunigten Anstieg der Arbeiterschaft nicht behaupten. Der Begriff „Bürger“ stand politisch für eine demokratisch-liberale Staatsform, für die Vernunft des Individuums und das kapitalistische Wirtschaftssystem.[9]
Politisch litt das System unter der Orientierungslosigkeit der vielen, durch das Verhältniswahlrecht zersplitterten Parteien und der Spannung zwischen der radikalen Rechten und der nicht weniger radikalen Linken.[10] In den modernen Industrie-gesellschaften begann ein Aufstieg der linken Arbeiterparteien, die einen bürgerlichen Liberalismus zurückdrängten, der durch den ökonomisch bedingten Wegfall des Mittelstandes ohnehin geschwächt war. Als Reaktion auf die Linksdynamik folgte die Bildung eines autoritären, gewaltbereiten, faschistischen rechten Flügels.
Die Demokraten waren nicht nur in Deutschland in einer ungünstigen Situation. In mehreren europäischen Staaten hatten Diktaturen die instabile Zwischenkriegszeit genutzt, um sich auszubreiten. Die Regierung musste hohe Erwartungen erfüllen. Da die Sozialpolitik von der wirtschaftlichen Konjunktur abhing, konnten nur bei stetigem Wachstum Sozialleistungen aufgebaut werden. Als die Menschen in der Wirtschaftskrise finanzielle Unterstützung dringend brauchten, war kein Geld da und das Systemvertrauen schwand. Durch die Staatsintervention in Sozialfragen und den Rechtsanspruch auf Sozialleistungen wurden die Lebensumstände der Menschen standardisiert. Das Einzelschicksal ging in der Masse unter und der individuelle Handlungsspielraum der Bürger wurde beschnitten. Industrialisierung und Urbanisierung führten in den Großstädten der Zwanziger Jahre zu lokaler Massierung der Arbeiterklasse und sozialen Brennpunkten durch niedrige Lebensqualität. Erich Kästner gibt hiervon nur einen kleinen Ausschnitt wieder. Seine Beschreibungen beziehen sich hauptsächlich auf das Bürgertum und weniger auf die Arbeiterklasse.
Die Intellektuellen verspürten nur wenig den Drang, einer der radikalen Massenbewegungen zu dienen. Während in der Zeit zwischen 1910 und 1920 Schriftsteller noch eine Art expressionistisch-vitale „Führerrolle“ angestrebt hatten, gab sich die neusachliche Intelligenz mit der „Chefideologen“-Rolle zufrieden.[11] Diejenigen, die sozial und politisch zwischen den Fronten standen, sahen sich als unabhängig kommentierende und kritisierende Beobachter des gesellschaftspolitischen Geschehens in Deutschland. Erich Kästner ist einer dieser gemäßigten Intellektuellen, die, oft ohne wirklich Partei zu ergreifen, tendenziell mit der Seite der Linken sympathisierten.
Berlin lockte mit besonders vielen Verlagen, Zeitschriften, Kinos und Restaurants zahlreiche Schriftsteller, Schauspieler, Regisseure oder Maler an. Besonders das „Romanische Cafe“ war eine willkommene Plattform für Kreative aller Genres. Man konnte sich untereinander austauschen, Ideen entwickeln und Kontakte knüpfen.
Interessant für die Betrachtung des Romans war die sich entwickelnde Emanzipation der Frauen. Im Schutz der anonymen Großstadt Berlin konnten sie ein neues Selbstverständnis ausbilden und sich auf einem breiten Berufsfeld engagieren. Die weibliche Sexualität konnte thematisiert und ausgelebt werden. Der Begriff der „Neuen Frau“ wird im Zusammenhang mit der Betrachtung des Frauenbildes im Fabian im weiteren Verlauf noch von Bedeutung sein.
2.3 Kästner in den Krisenjahren der Weimarer Republik
Erich Kästner wird 1899 in Dresden als Sohn des Sattlermeisters Emil Richard Kästner und Ida Amalie Kästner geboren. Der Vater muss seine Selbständigkeit aufgeben, da Lederwaren immer mehr in der industriellen Massenproduktion hergestellt werden. Der Handwerker verdient sich sein Geld als Arbeiter in einer Kofferfabrik. Ida Kästner stammt aus wohlhabenden Verhältnissen und leidet unter dem sozialen Abstieg.[12] Wie alle Mütter wünscht sie sich das Beste für ihren Sohn. Im Falle des jungen Erichs bedeutet das eine fundierte Ausbildung. Sie spart jeden Groschen, um dem Sohn Klavierunterricht, regelmäßige gemeinsame Theaterbesuche und später eine Laufbahn als Volksschullehrer zu ermöglichen. Kästner sieht sich früh mit den negativen Eigenschaften des Menschen konfrontiert. Der Vater wird von Ida Kästner praktisch ignoriert und muss um die Aufmerksamkeit des kleinen Erichs mit der Mutter um die Wette buhlen.[13] Erich fühlt sich nicht nur für die Familienharmonie verantwortlich, sondern auch für seine suizidgefährdete Mutter, deren ganzer Lebensinhalt er ist. So bildet Kästner früh Eigenschaften aus, die später in seinem Werk eine große Rolle spielen. Etwa das Verantwortungsgefühl für das Wohl seiner Mitmenschen oder seine Auffassung von dem, was richtig oder falsch ist.
Erich Kästner muss schnell feststellen, dass in der wilhelminischen Gesellschaft Gehorsam und Unterordnung einen höheren Stellenwert einnehmen als seine kleinbürgerlichen Vorstellungen von Tugend, Moral und Gerechtigkeit. Entsprechend schwer fällt ihm die Anpassung an die gesellschaftlichen Normen. Während des Kriegsdienstes muss er auf dem Kasernenhof die Klassenunterschiede und den Sadismus der Menschen kennen lernen. Während seines Armeedienstes zieht er sich eine Herzschwäche zu, wie sie der Romanheld Fabian im Krieg erlitten hat. In dieser Zeit nimmt Kästner die antimilitaristische und pazifistische Haltung ein, die sein Lyrik- und Romanwerk prägt.
Kästner lebte in einem sehr spannenden und spannungsgeladenen Berlin der späten Zwanziger Jahre. Die deutsche Hauptstadt hatte zwei Gesichter: Berlin war kulturelles Zentrum und Anlaufstelle für ein kunst- und kulturbesessenes Publikum und wuchs innerhalb weniger Jahre rasant auf die drittgrößte Metropole Europas hinter London und Paris an. Die „Zerstreuungsindustrie“ boomte rund um den Kurfürstendamm. Anders sah es in den Arbeitervierteln aus, etwa dem Wedding und um den Alexanderplatz herum. Die sich dort ausbreitenden Folgen der Massenarbeitslosigkeit und den täglichen Überlebenskampf thematisierten neben Kästner die Schriftstellerkollegen Alfred Döblin in Berlin Alexanderplatz und Hans Fallada in Kleiner Mann- was nun?
Der fleißige Kästner findet in dieser Umgebung reichlich Motive, über die er schreiben kann. 1928 veröffentlicht die Neue Leipziger Zeitung mehr als hundert Geschichten, Gedichte sowie Kino- und Theaterrezensionen des Autors.[14] Kästner schildert seine Beobachtungen Berlins und dessen „kleine“ Bewohner. Die großen spektakulären Ereignisse interessieren ihn als Autor weniger. Er beschreibt die Eigenarten der Menschen von nebenan und lässt dabei seinen Moralbegriff deutlich werden:
Augenzwinkernd beschreibt er, wie auf der Friedrichstraße gutgläubige Passanten bei verbotenen Glücksspielen oder unseriösen „Antiquitätenversteigerungen“ betrogen werden. Kopfschüttelnd berichtet er über besondere Kleider- und Hutmoden, monokeltragende Damen, das Eintänzerwesen, Wettbewerbe im Dauertanzen oder die Inflation der Kostümbälle. Einfühlsam werden die bescheidenen Vergnügungen der Arbeiter auf einem Rummelplatz am Wedding oder die Situation arbeitsloser Artisten in den Kneipen am Alexanderplatz geschildert. Kästners Großstadt-Kaleidoskop fasziniert vor allem durch den gleichermaßen intimen wie genauen Blick für das Wesentliche im Alltäglichen.[15]
Dieser „Blick für das Wesentliche“ schließt gleichzeitig eine sehr klare und leicht verständliche Sprache mit ein. Seine Formulierungen entstammen ebenso dem Alltag wie seine Themen. Pathos ist ihm fremd.
Kästners Wunsch war immer, ein breites Publikum zu erreichen und auf dessen Leben Einfluss zu nehmen. Das produktivste Jahr Kästners ist 1931, in dem ihm seine Arbeit für Redaktionen, Theater, Hörfunkanstalten und Filmstudios große Erfolge beschert. Kästner hat sein Ziel erreicht, als Autor berühmt zu werden und steht somit auf dem Zenit seiner Karriere.
Was danach geschieht, ist für diese Arbeit nicht allzu wichtig und soll daher nicht weiter vertieft werden. Über die nächsten Lebensjahre Erich Kästners sei nur soviel gesagt: Er schafft es, einigermaßen unbehelligt und vor allem lebendig die zwölfjährige Schreckensherrschaft Adolf Hitlers zu überdauern. Obwohl er während des Krieges und danach weiter fleißig schreibt und seine Kinderbücher in viele Sprachen übersetzt werden, gelingt es Kästner nicht mehr, zu der ehemaligen Größe zurückzufinden.
2.4 Unverbesserlicher Pessimist mit Neigung zur Hoffnung
Wer als Kind Erich Kästners reizende Geschichten von Emil oder Pünktchen und Anton kennen gelernt hat, mag kaum glauben, welche Untergangsstimmung der Autor in seinen Werken für Erwachsene verbreitet.
Kästner beabsichtigt, die Menschheit zu moralischem Verhalten zu veranlassen, indem er die Welt durch möglichst pessimistische Darstellungen karikiert. Sein Menschenbild zeigt beispielsweise das Gedicht Die Entwicklung der Menschheit von 1932:
Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
behaart und mit böser Visage.
Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt
und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
bis zur dreißigsten Etage.
[...]
So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch davon mal abgesehen und
bei Lichte betrachtet sind sie im Grund
noch immer die alten Affen.[16]
Kästner geht es um den Stillstand, den die Menschen erleiden. Sie sind zwar technisch vorangeschritten, aber prinzipiell hat sich an ihrem Umgang miteinander wenig geändert. Sie bleiben die „alten Affen“, die ihrem Sexualtrieb und Egoismus frönen.
In dem Gedicht Ansprache an Millionäre besteht Kästner darauf: „Der Mensch ist schlecht. Er bleibt es künftig.“[17] Dabei breitet sich seine pessimistische Darstellung auf alle Zeiten aus, egal ob Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Die Menschen haben sich bisher nicht geändert und werden es auch in Zukunft nicht tun. Besonders deutlich verbreitet Kästner seine Untergangsstimmung in der Großstadtsatire Fabian. Hier überträgt er seine Sicht der Dinge auf die Hauptfigur. Auch Jakob Fabian hat wenig Hoffnung auf Besserung der Menschheit. Dabei ist der negative Grundtenor aus Melancholie und Pessimismus kein reines Stilmittel des Autors, sondern Kästners ganz persönliche Weltsicht. Kästner weicht in seinen Werken, zumindest jenen für das erwachsene Publikum, nie von seiner Theorie ab, der Mensch müsse sich durch Einsicht bessern. In der Neuen Leipziger Zeitung schreibt er 1928 in dem Artikel Kritik des idealistischen Sozialismus:
Nun steht zwar fest, daß sich, im Verlauf der Geschichte, sehr vieles in fortschrittlicher Richtung gewandelt hat: die Wissenschaftserkenntnisse, die technische Praxis, das Wirtschaftsgebaren usw. Nur der Mensch als moralisches Einzelwesen und die Menschheit als moralische Gemeinschaft haben sich nicht geändert. [...] Egoismus, Profitgier, Machtprinzip, Sexualtrieb, Kriegsgreuel waren und sind die Leitmotive des privaten und historischen Verlaufs. Und außer ehrenwerten Hoffnungen gibt es nichts, was zukünftige Besserung versprechen kann.[18]
Diese Haltung erlegt Kästner also nicht nur als Schriftsteller seinen fiktiven, erwachsenen Protagonisten auf, sondern nimmt sie tatsächlich für sein eigenes reales Leben ein. Nun könnte man meinen, dass Kästners Einstellung ihn dazu verleite, die Erziehung und Verbesserung der Menschheit aufzugeben. Er sieht es jedoch als seine Pflicht an, wenigstens den Versuch zu unternehmen und an der Vernunft seiner Mitmenschen zu arbeiten. In dem sehr lesenswerten Artikel Eine kleine Sonntagspredigt rechtfertigt sich der Satiriker 1947 gegenüber seinen Kritikern, die ihm fehlenden Positivismus vorwerfen. Kästner weist unangebrachten Optimismus oder Schönrederei weit von sich und erklärt die „Umerziehung“ der Menschen zum Ziel des Satirikers. Seinen Eltern erklärte er, sich nicht für den Beruf des Volksschullehrers zu eignen. Nun lehrt und belehrt er umso mehr. Er sieht sich als Schullehrer und zählt die Erwachsenen zur Kategorie der „Schwererziehbaren“, die es sich in ihrer verlogenen Welt bequem gemacht haben und es dem Satiriker übel nehmen, wenn dieser sie wachrütteln will. Aber genau das ist Kästners Anspruch. Er hegt die Hoffnung, dass die Menschen ein wenig besser werden, „wenn man sie oft genug beschimpft, bittet, beleidigt und auslacht.“[19]
Dass der Moralist und Satiriker mit seinen Ansichten über Einsicht durch Erkenntnis wenig Chancen auf Erfolg hat, weiß Kästner. In seinem Vorwort zur Neuauflage des Fabian von 1950 schreibt er über die Aussichten des Moralisten: „Sein angestammter Platz ist und bleibt der verlorene Posten. Ihn füllt er, so gut er kann, aus. Sein Wahlspruch hieß immer und heißt auch jetzt: Dennoch!“[20]
Kästner bleibt bei seiner Darstellung. Sein Scheitern liegt jedoch nicht an seiner eigenen Methode, sondern an der Beschaffenheit der Menschen, so Kästner. Er ist selbst ratlos, wie sich etwas ändern könne, wenn nicht durch die Einstellung der Menschheit selbst. Eine Alternative fehlt dem Romancier wie dem Lyriker. Er dreht sich genauso im Kreis, wie seine Romanfigur Fabian, der sich ebenfalls ratlos zeigt. Die Kreismetaphorik wird im Roman aufgenommen. Nach dem feucht-philosophischen Stammtischgespräch im dritten Kapitel fühlt sich Fabian an eine Zeichnung mit dem Titel Der Fortschritt erinnert. Gemeint ist der Fortschritt der Menschheit. Doch der Zeichner
[…] hatte auf dem Blatt Schnecken dargestellt, die hintereinander herkrochen, das war das Tempo der menschlichen Entwicklung. Aber die Schnecken krochen im Kreise! Und das war das Schlimmste.[21]
Wie bereits angedeutet schreibt Kästner seine Kinderbücher anders als seine Erwachsenenwerke. In Pünktchen und Anton oder Emil und die Detektive werden ideale junge Menschen kreiert, die mit Mut, Tapferkeit und Tatendrang glänzen. Sie haben eine identifikatorische Vorbildfunktion für heranwachsende Generationen, die einmal vernünftiger sein sollen. Kästners Werke für Kinder sind aus einer ganz anderen Perspektive geschrieben. Der Autor stellt in Aussicht, dass es mit der heilen Welt doch noch etwas werden kann:
Nun könntet ihr womöglich daraus schließen, daß es auch im Leben immer so gerecht zuginge und ausginge wie in unserem Buch hier! Das wäre allerdings ein verhängnisvoller Irrtum! Es sollte so sein, und alle verständigen Menschen geben sich Mühe, daß es so wird. Aber es ist nicht so. Es ist noch nicht so. […] Die Erde soll früher einmal ein Paradies gewesen sein. Möglich ist alles. Die Erde könnte wieder ein Paradies werden. Alles ist möglich![22]
[...]
[1] Bd.2. S.191.
[2] Vgl. Erich Kästner: Gedichte. Köln: Kiepenheuer und Witsch 1959. (= Gesammelte Schriften in sieben Bänden, Bd.1. Im Folgenden GS). S.6.
[3] Kritik des idealistischen Sozialismus. In: Gemischte Gefühle, Bd.1. S.264.
[4] Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Hrsg. von Sabina Becker, Christoph Weiss. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 1995. S.9.
[5] Vgl. ebd., S.18.
[6] Wir erfahren nicht viel mehr aus Fabians Vergangenheit, als dass er ein Herzleiden aus seiner Militärdienstzeit während des Ersten Weltkrieges davongetragen hat.
[7] Vgl. Jürgs, Britta: Neusachliche Zeitungsmacher, Frauen und alte Sentimentalitäten. In: Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Hrsg. von Sabina Becker, Christoph Weiss. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 1995. S.195.
[8] Linder, Martin: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne; mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Stuttgart: J.B. Metzler 1994. S.155.
[9] Vgl. ebd., S.147.
[10] Die folgenden geschichtlichen Ausführungen beziehen sich auf: Bernecker, Walter L.: Europa zwischen den Weltkriegen 1914–1945. Stuttgart: Ulmer 2002. (= Handbuch der Geschichte Europas, Bd. 9).
[11] Lindner, S.149.
[12] Vgl. Schikorsky, Isa: Erich Kästner. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998. S.10.
[13] Vgl. ebd., S.14.
[14] Vgl. Schikorsky, S.43.
[15] Ebd., S.45.
[16] GS, Bd.1. Die Entwicklung der Menschheit. S.223f.
[17] Ebd., S.177.
[18] Kästner, Erich: Kritik des idealistischen Sozialismus. In: Gemischte Gefühle. Hrsg. von Alfred Klein. Zürich: Atrium Verlag 1989 (= Literarische Publizistik aus der „Neuen Leipziger Zeitung“ 1923-1933, Bd.1). S.263f.
[19] Erich Kästner: Eine kleine Sonntagspredigt. In: Vermischte Beiträge. Köln: Kiepenheuer und Witsch 1959.
(= Gesammelte Schriften in sieben Bänden, Bd.5). S.120.
[20] Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. In: Romane. Köln: Kiepenheuer und Witsch 1959. (= Gesammelte Schriften in sieben Bänden, Bd.2). S.10.
[21] Ebd., S.33.
[22] Erich Kästner: Pünktchen und Anton. In: Romane für Kinder. Köln: Kiepenheuer und Witsch 1959. (= Gesammelte Schriften in sieben Bänden, Bd.6). S.508.
- Arbeit zitieren
- Nicolai Friedrichsen (Autor:in), 2007, Moral und Unmoral in Erich Kästners "Fabian - Die Geschichte eines Moralisten", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76739
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