Nibelungen-Mythos und Soest: Das Potenzial des Mythos für Tourismusförderung und Stadtwerbung


Bachelorarbeit, 2004

86 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Grundlegendes
1.1 Einführung
1.2 Rückblick auf das Projekt „Rezeption des Nibelungenstoffes“ im Sommersemester 2004
1.3 Kurze Zusammenfassung der Projektarbeit „Die Theorie de Nibelungenunterganges i n der Stadt Soest sowie ihre Rezeption und Kommunikation“
1.4 Die Stadt Soest und ihre Verbindung zum Nibelungenstoff
1.5 Überleitung zum Thema dieser Arbeit

2 Die Rezeption des Nibelungenstoffes in der Stadt Soest
2.1 Zum Begriff der Rezeption
2.2 Lokale Zeitungsmeldungen
2.3 Berichte in anderen Drucksachen
2.3 .1 Das Faltblatt des Vereins für Geschichte und Heimatpflege Soest e.V.
2.3 .2 Das Faltblatt Heinz Ritters
2.3 .3 Die Soester Zeitschrift
2.3 .4 Mitteilungsblätter des Vereins für Geschichte und Heimatpflege Soest e.V.
2.3 .5 Füllhorn - Magazin für die älteren Bürger der Stadt Soest
2.4 Niflungen-Tagungen und Niflungen-Bote
2.5 Weitere Veranstaltungen
2.6 Straßennamen
2.7 Zusammenfassung der Ergebnisse dieses Kapitels

3 Möglichkeiten der Nutzung des Sagenpotenzials für die Soester Tourismusförderung
3.1 Vorbemerkungen
3.2 Die Bedeutung des Nibelungenliedes als Nationalmythos
3.3 Grundsätzliches zu den Begriffen „Stadtmarketing“, „Stadtwerbung“ und „Tourismusförderung“
3.4 Die Stadt Worms und der Nibelungenmythos
3.5 Die Stadt Xante n und der Nibelungenmythos
3.6 Ideen für ein Strategisches Konzept zur Förderung de Soester Tourismus
3.6 .1 Der allgemeine Aufbau eines Strategischen Konzepte zur Tourismusförderung
3.6 .2 Bestandsaufnahme in Soest
3.6 .3 Ausblick
3.6 .4 Strategiensuche
3.6 .5 Tourismuskonzept

4 Bilanz und Anmerkungen
4.1 Zusammenfassung
4.2 Persönliche Anmerkungen

5 Quellenverzeichnis
5.1 Literaturverzeichnis
5.2 Abbildungsverzeichnis
5.3 Internetquellen

6 Anhang
6.1 Schriftliches Interview

1 Grundlegendes

1.1 Einführung

Ferdinand Freiligrath (1830) Das Nöttentor zu Soest1

(kurz vor Abbruch desselben gedichtet)2

Doch was ich sah, was mir mit Zauberwalten Die Phantasie, die göttliche gezeigt; Bewohner Soests! euch sang ich die Gestalten, Die kräftig einst Germanien gezeugt! Die alte Sage wollt’ ich euch entfalten Von dem, was uns der Chronik Mund verschweigt; Euch zeigt’ ich sie, die hehren Nibelungen; Nehmt freundlich auf, was ich euch gern gesungen!3

„Das Nibelungenlied und die Stadt Soest? Wo bitte ist da der Zusammenhang?“ Solche und andere Bemerkungen bekam die Verfasserin während ihrer Recherchen in Soest manchmal zu hören. Oder auch „Nicht schon wieder einer, der in Soest die Schädel der Nibelungen finden will“. Letzteres hörte man dann eher aus dem Mund von Soestern, die sich an die Thesen des Nibelungenforschers Heinz Ritter4 und die dadurch verursachte Diskussion mit Unhagen erinnerten.

Alle Reaktionen konnten aber nur noch mehr in dem Vorhaben bestärken, die Soester Nibelungenstoffrezeption näher zu betrachten. Denn genau hier schien das Problem zu bestehen: ungenügende Information schien bei manchen Soestern eine Abneigung gegen das Thema hervorgebracht zu haben. Im Allgemeinen wurde aber eher neutral damit umgegangen. Viele Soester zeigten sich auch auf Anhieb sehr interessiert an dem Thema selbst und auch an dem Vorankommen dieser Arbeit.

Es soll direkt zu Anfang betont werden, dass es auch weiterhin keine Beweise für einen historischen Untergang der Nibelungen in Soest gibt. Die skandinavische Thidrekssaga nennt allerdings mehrfach die Stadt Soest und benennt diese auch als den Ort, an dem die Nibelungen untergingen. Da der vorliegenden Arbeit also die Thidrekssaga und nicht das Nibelungenlied zugrunde liegt, wird in Bezug auf die Stadt Soest ausschließlich von dem „Nibelungenstoff“, dem „Nibelungenmythos“, dem „Nibelungenthema“, dem „Sagenstoff“ oder ähnlichem geschrieben, nie jedoch der Begriff „Nibelungenlied“ verwendet. Dieses könnte zu Missverständnissen führen und wäre zudem sachlich falsch. Lediglich das Kapitel, das die Bedeutung des Nibelungenliedes als Nationalmythos thematisiert, benutzt der Einfachheit halber den Begriff „Nibelungenlied“, da dieses in der Rezeptionsgeschichte des Nibelungenstoffes im Fokus der meisten Untersuchungen stand .

Auf die Thidrekssaga und auf den Zusammenhang mit Soest machte in den 1980er Jahren der bereits erwähnte und umstrittene Germanist und Sagenforscher Heinz Ritter aufmerksam5. Begeisterung, Ablehnung und hitzige Debatten unter Wissenschaftlern ebenso wie unter Soester Bürgern waren die Folge. Diese Diskussion ist aber nur insofern Gegenstand der vorliegenden Arbeit, als dass der öffentliche Umgang mit dem Thema untersucht wird.

So soll zunächst gezeigt werden, wie die bisherige Rezeption des Themas in Soest verlief. In einem weiteren Schritt soll erörtert werden, welches Potenzial der Stoff der Thidrekssaga möglicherweise für die Soester Tourismusförderung bereithält. Dazu werden Ideen für ein Strategisches Tourismuskonzept skizziert.

In diesem ersten Kapitel wird zunächst kurz auf das Projekt „Die Rezeption des Nibelungenstoffes“ der Universität Duisburg-Essen, das dieser Arbeit voranging, eingegangen. Die Ergebnisse ihrer Projektarbeit „Die Theorie des Nibelungenunterganges in der Stadt Soest sowie ihre Rezeption und Kommunikation“, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, stellt die Verfasserin kurz vor. Außerdem wird in diesem Kapitel auf die Soester Verbindung zum Nibelungenstoff eingegangen, was dem Leser als Grundlage für das weitere Verständnis der vorliegenden Arbeit dienen soll.

1.2 Rückblick auf das Projekt „Rezeption des Nibelungenstoffes“ im Sommersemester 2004

In dem Studiengang „Angewandte Kommunikations- und Medienwissenschaft“ der Universität Duisburg-Essen spielen Praxisprojekte eine zentrale Rolle. Grundsätzlich müssen sie interdisziplinär sein und einen Bezug zur Berufspraxis haben. Im Sommersemester 2004 wurde das Praxisprojekt „Die Rezeption des Nibelungenstoffes“ zum dritten Mal angeboten. Den Studenten ging es dabei um die breit gefächerte Erforschung der Rezeption des Nibelungenmythos zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Konte xten. Das Literaturlexikon von J.B. Metzler erklärt den Begriff „Rezeption“ so: „die über geschichtl. Zeiträume und die Grenzen der Nationalliteraturen sich erstreckende Art und Weise der Überlieferung, Verbreitung und Wirkung einzelner Werke und Stile. Seit Mitte der 60er Jahre hat sich der Begriff inhaltlich erweitert und kennzeichnet nicht mehr nur ein Gebiet der histor. vergleichenden Literaturwissenschaft, sondern allgemein jede Art der kommunikativen Aneignung von Literatur durch Leser und Hörer (Rezipienten).“6

In dem Universitätsprojekt sollte genau diese „Art der kommunikativen Aneignung“ bezüglich der Nibelungenliteratur untersucht werden. Dabei gab es keine Festlegung auf eine bestimmte Art von Rezeption. Anhand sehr verschiedener Beispiele wurde gezeigt, wie weit das Spektrum von Rezeptionsgeschichte sein kann. Das Ziel des Praxisprojektes lag schließlich in der Erweiterung eines schon bestehenden Informationsportals im Internet zum Thema „Nibelungenlied-Rezeption“. Dieses Portal war bereits im Sommer- semester 2003 von einer anderen Projektgruppe aufgebaut worden.

An dem Praxisprojekt im Sommersemester 2004 nahmen 14 Studenten7 teil. Darunter waren Studenten der „Angewandten Kommunikations- und Medienwissenschaft“ und Germanistikstudenten. Es gab Treffen der gesamten Gruppe sowie einzelne Treffen mit den Projektleitern Herrn Grimm und Herrn Werlein. Bei den drei ersten Gruppentreffen sorgte n diese für eine Einführung in die Rezeption des Nibelungenstoffs anhand verschiedener Beispiele aus Kuns t, Theater, Literatur und Film. Es wurde auch angesprochen, was in dem Projekt im Sommersemester 2003, an dem die Verfasserin auch schon beteiligt gewesen war, erarbeitet worden war.

In den nächsten Wochen und Monaten recherchierte jede Einzelgruppe intensiv für ihr jeweiliges Thema. In verschiedenen Treffen des gesamten Seminars wurde den Kommilitonen zwischenzeitlich der Stand der Recherchen vorgestellt. So konnte man sich immer ein Bild über das Vorankommen der anderen Gruppen machen.

Bei der Wahl des Rezeptionsthemas gab es nur wenige Einschränkungen. Eine bis vier Personen sollten es pro Gruppe sein. Die Arbeitsgruppen verteilten sich schließlich je nach Interessenschwerpunkt. So gab es eine Gruppe, die sich mit dem Nibelungenlied in der Bildenden Kunst (mit einem Schwerpunkt auf dem Schweizer Künstler Füssli) beschäftigte, eine, die sich die Bibliographie des Nibelungenliedes genauer ansah sowie eine, die den Zusammenhang der Stadt Xanten mit dem Nibelungenlied thematisierte. Ein Student interessierte sich für Nibelungenschatzsucher, eine weitere Gruppe erforschte das Nibelungenlied in der Modernen Kunst und es gab das Thema der Rezeption des Nibelungenliedes im Nationalsozialismus. Eine Studentin kümmerte sich um die grafische Überarbeitung des Internetportals zur Nibelungenliedrezeption.

Das Thema der Verfasserin dieser Arbeit lautete damals: „Die Theorie des Nibelungenunterganges in der Stadt Soest sowie ihre Rezeption und Kommunikation“.

1.3 Kurze Zusammenfassung der Projektarbeit „Die Theorie des Nibelungenunterganges in der Stadt Soest sowie ihre Rezeption und Kommunikation“

In der Projektarbeit „Die Theorie des Nibelungenunterganges in der Stadt Soest sowie ihre Rezeption und Kommunikation“ im Sommersemester 2004 ging es der Verfasserin nicht darum herauszufinden, was denn nun die „wahre Nibelungenstadt“ sei.

Das zentrale Interesse lag vielmehr in einem Vergleich der Thidrekssaga mit dem Nibelungenlied und in der Darstellung des Zusammenhangs der Thidrekssaga mit der Stadt Soest. Die Stadt selbst wurde außerdem im Hinblick auf ihren Zusammenhang mit dem Sagenstoff kurz portraitiert und die Theorie Heinz Ritters sowie die Kritik an seiner Forschung zusammengefasst. Schließlich wurde anhand zweier Beispiele eine kurze Einführung in die Soester Rezeption des Sagenstoffes gegeben.

Es konnte festgestellt werden, dass sich die Art der Kommunikation der Sage in der Stadt Soest generell verändert hat. Man scheint im Allgemeinen misstrauisch gegenüber konservativem Ideengut geworden zu sein, da man möglicherweise befürchtet, durch eine Beschäftigung mit diesem eine nationalistische und eventuell auch eine rechtsradikale Motivation unterstellt zu bekommen. Die Autorin hatte den Eindruck, dass der Zusammenhang Soests mit der Thidrekssaga ganz bewusst ignoriert wird, was ihrer Meinung nach in vielerlei Hinsicht genau der falsche Weg ist. Das vorhandene Potenzial könnte dagegen sehr zur Steigerung der touristischen Attraktivität der Stadt beitragen.

Als Schlussfolgerung konnte außerdem festgestellt werden, dass es neben der „offiziellen Missachtung“ durchaus erstaunlich ist, wie viele Heimatforscher sich alleine im Raum Soest in den letzten Jahren noch mit der Nibelungenthematik beschäftigt haben und immer noch beschäftigen. Es wurde die Feststellung gemacht, dass der Nibelungenmythos so lange ein Thema in Soest bleibe, wie sich Menschen dafür interessierten. Alleine durch ihre Rezeption des Themas machten sie Soest zu einer „Nibelungenstadt“.

Das gestiegene Interesse an regional-geschichtlichen Fragen wurde auf ein möglicherweise zunehmendes Interesse an der persönlichen Herkunft und damit an der eigenen Identität zurückgeführt. Dieses wiederum könnte die Reaktion sein auf ein immer weiter zusammen wachsendes Europa und auf die damit einhergehende Angst, die eigene Identität zu verlieren.

Die soeben skizzierte Projektarbeit der Verfasserin bildet die Basis für ihre vorliegende Bachelorarbeit.

1.4 Die Stadt Soest und ihre Verbindung zum Nibelungenstoff

In Bezug auf Soest von dem Nibelungenlied zu sprechen ist schwierig, da diese Verbindung tatsächlich nicht belegbar ist. Im Nibelungenlied kommt Soest nämlich überhaupt nicht vor; im Fokus der Erzählung stehen Süddeutschland und das heutige Ungarn.

Der Nibelungenstoff wird aber nicht nur in dem bekannten Nibelungenlied, sondern auch in der skandinavischen Thidrekssaga8 behandelt. Da die Stadt Soest hier eine zentrale Rolle spielt, baut auch die vorliegende Arbeit ausschließlich auf der Thidrekssaga als literarische Quelle und ausdrücklich nicht auf dem Nibelungenlied auf. Im Folgenden soll kurz erklärt werden, was genau die Thidrekssaga erzählt und welche Bedeutung der mittelalterlichen Stadt Soest darin zukommt.

Die Thidrekssaga ist eine um 1250 entstandene Sagenkompilation über Dietrich von Bern. Wie schon erwähnt, stammt die im Prosastil gehaltene Erzählung aus Skandinavien und gehört damit zur altnordischen Literatur. Verschiedene niederdeutsche Heldenlieder werden in der Thidrekssaga zusammengefasst. Berichtet wird beispielsweise von dem König Attila, von Wieland dem Schmied, von Sigurd und den Burgunden, von Walter und von Hildegunde.9

Ursprünglich kamen die Dietrichstoffe wohl durch niedersächsische Kaufleute nach Skandinavien. Es wird vermutet, dass alle diese Geschichten seit dem 13. Jahrhundert systematisch gesammelt wurden.10

Im Allgemeinen muss beachtet werden, dass die Texte immer wieder auf andere Art und Weise erzählt und dabei verändert wurden. Sämtliche Dichtungen wurden um den bekannten König Dietrich von Bern angeordnet, miteinander vernetzt und zu einem Gesamtbild zusammengefügt.11 Bezüglich der Erwähnung Soests herrscht bei den Forschern Einigkeit. In der Thidrekssaga taucht eindeutig die Stadt Soest, deren mittelalterlicher Name „Susa“ bzw. „Susat“ lautet, auf. Es wird im Prosastil berichtet, wie die Nibelungen vom Rhein kommend durch Westfalen ziehen und schließlich in Soest untergehen. Wie schon erwähnt, steht Dietrich von Bern im Mittelpunkt der Erzählung, darüber hinaus wird aber auch beispielsweise von Sigurds Jugend, Sigurds und Gunnars Heirat, Sigurds Tod und Grimhilds Rache berichtet.

In der Thidrekssaga herrscht König Attila von Susat (Soest) aus über Hunenland. Seiner Brautwerbung um Erka und seinem Tod werden zwei ganze Kapitel gewidmet. König Attila tritt aber auch darüber hinaus an verschiedenen anderen Stellen in der Thidrekssaga auf.

Den stärksten Bezug zu Soest hat sicherlich das Kapitel „Grimhilds Rache“12. Es wird berichtet, wie König Attila nach dem Tod von Iung-Sigurd um dessen Witwe Grimhild wirbt. Nachdem Grimhild der Werbung zugestimmt hat, reitet Attila zu ihr ins Niflungenland, heiratet sie und geht mit ihr zurück nach Susat. Sieben Jahre später lädt Grimhild ihre Brüder zu sich nach Susat (Soest) ein, da sie auf den Goldschatz ihres Mannes Iung-Sigurd, den sie nach seinem Tode nicht bekommen hat, Anspruch erheben will. König Gunnar nimmt die Einladung an. Als die Niflungen in Susat angekommen sind, fordert Grimhild den Niflungenschatz von ihrem Bruder Högni, wird aber abgewiesen. Thidrek, der die Nibelungen vorher vor Grimhilds Rache gewarnt hat, wird nun ebenso wie Blodin und Attila von Grimhild gebeten, ihr dabei zu helfen, Iung-Sigurd zu rächen. Alle drei lehnen es ab. Während eines Gartenfestes für die Nibelungen sagt Grimhild ihrem Sohn Aldrian, er solle Högni ins Gesicht schlagen. Nachdem der Junge es getan hat, schlägt Högni ihm den Kopf ab und entfacht dadurch den Kampf. Eingekesselt im Garten sterben viele Niflungen. König Gunnar wird gefangen genommen und in einen „Schlangenhof“ geworfen, in dem er stirbt. König Thidrek ermordet auf Attilas Wunsch hin Grimhild. Am Ende sind alle Niflungen tot und im Hunenland leben nur noch König Attila, König Thidrek und Meister Hildibrand.

Anhand dieser Schilderung sollte kurz die für Soest relevante Handlung der Thidrekssaga wiedergegeben werden. Wir sehen, dass sich das Geschehen selbst kaum von dem des Nibelungenliedes unterscheidet. Im Mittelpunkt der Handlung steht in der Thidrekssaga allerdings eindeutig die Stadt Soest. Warum gerade Soest so eine zentrale Rolle zugedacht wurde, kann nur vermutet werden.

Durch den Hansebund unterhielt die Stadt Soest im Mittelalter weit reichende Handelsbeziehungen, die sie vor der Reichsstadt Dortmund und Bischofsstädten wie Münster, Osnabrück und Paderborn zur bedeutendsten Stadt Westfalens werden ließen.13 Es ist auch bekannt, dass Soest mit Skandinavien regen Handel trieb14 und ein Teil der Sagenstoffe wahrscheinlich über Kaufleute mündlich nach Skandinavien transportiert wurde. So muss es nahe gelegen haben, die mächtige und reiche Stadt Soest als zentralen Handlungsort der Sage zu benennen.

1.5 Überleitung zum Thema dieser Arbeit

Das Thema der Projektarbeit „Die Theorie des Nibelungenunterganges in der Stadt Soest sowie ihre Rezeption und Kommunikation“ soll in der vorliegenden Arbeit weiterentwickelt werden. Die Soester Rezeption des Nibelungenstoffes wurde in der genannten Projektarbeit lediglich kurz angesprochen. An dieser Stelle soll nun sehr viel umfassender auf die Rezeption und damit auch auf die Kommunikation des Themas eingegangen werden.

Das Ziel ist, einen Überblick über die bisherige Sagenrezeption und -kommunikation in Soest zu erhalten. Dieser bietet dann die Grundlage für den zweiten Hauptteil der Arbeit. Hier soll gefragt werden, was die Stadt aus ihrem literarisch belegbaren Zusammenhang mit dem Nibelungenstoff für einen Nutzen ziehen könnte. Es wird ein Blick auf die Städte Worms und Xanten geworfen, wo der Nibelungenstoff, in diesem Fall das Nibelungenlied, auch erst vor wenigen Jahren ein großes Thema für die Tourismusförderung wurde.

In einem kreativen Teil wird erörtert, welche Potenziale der Nibelungenstoff für die Stadt Soest bereithalten und wie man sie in der Tourismusförderung einsetzen könnte. Natürlich soll auch kritisch hinterfragt werden, warum von Seiten der Stadt bisher nur wenige Anstrengungen unternommen wurden, sich dem Thema zu nähern.

2 Die Rezeption des Nibelungenstoffes in der Stadt Soest

2.1 Zum Begriff der Rezeption

Wie schon im ersten Kapitel erwähnt, verstand man ursprünglich unter dem Begriff „Rezeption“ die „über geschichtl. Zeiträume und Grenzen der Nationalliteraturen sich erstreckende Art und Weise der Überlieferung, Verbreitung und Wirkung einzelner Werke oder Stile.“15

Seit Mitte der 1960er Jahre veränderte sich dann aber das Verständnis von Rezeption. Man fasste nun darunter „nicht mehr nur ein Gebiet der histor. vergleichenden Literaturwissenschaft, sondern allgemein jede Art der kommunikativen Aneignung von Literatur durch Leser und Hörer“16 zusammen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Dietrich von Bern, wie ihn sich der Soester Künstler Fritz Risken vorstellt

Bezüglich des Nibelungenliedes definiert Werner Wunderlich den Begriff „Rezeption“ als „die Aufnahme des primären Rezeptionsgegenstandes ‚Nibelungenlied’ durch ein Publikum“17. Abbildung 2 ist ein Beispiel für eine solche Rezeption, da hier der Soester Künstler Fritz Risken sich mit dem Nibelungenstoff auf seine persönliche Weise auseinandersetzt.

Dass es nie zu bewältigen sein wird, die vollständige Rezeptionsgeschichte zu einen Thema zu untersuchen, liegt auf der Hand. Trotzdem wird in dieser Arbeit versucht, die Rezeption des Nibelungenstoffes in Soest von sehr verschiedenen Blickwinkeln aus zu betrachten und so einen möglichst guten Überblick über den bisherigen Umgang mit dem Thema zu erhalten.

Um sinnvolle Kommunikationskonzepte entwickeln zu können, ist eine Untersuchung des bisherigen Umganges mit einem Thema eine Grund- voraussetzung. Nur so kann man zum Beispiel einschätzen, wie die Öffentlichkeit bisher in den Kommunikationsprozess einbezogen war und wie das Thema in der öffentlichen Diskussion zukünftig behandelt werden könnte.

2.2 Lokale Zeitungsmeldungen

Die beiden Soester Tageszeitungen „Soester Anzeiger“ und „Westfalenpost“ berichteten in der Vergangenheit häufig über den Soester Bezug zum Nibelungenstoff und über Veranstaltungen, die sich mit diesem Thema beschäftigten. Besonders in den Jahren 1993 bis 1996 fand eine sehr intensive Berichterstattung statt. Betrachtet man nur diese vier Jahre genauer, kommt man auf eine Zahl von über 150 Zeitungsmeldungen18, die sich in irgendeiner Weise mit der Nibelungenthematik beschäftigten.

In der vorliegenden Arbeit werden lediglich Meldungen aus den Jahren 1993 bis 1996 sowie die wenigen aktuelleren Meldungen behandelt. Da die Berichterstattung von 1993 bis 1996 so intensiv war, dass man hier nicht auf jeden Artikel eingehen kann, werden nur die in den jeweiligen Jahren als besonders relevant angesehenen Themen angesprochen. Kommentiert werden die Textauszüge allerdings zunächst kaum, da dieses bei einer ersten Darstellung der Rezeption noch nicht angebracht zu sein scheint.

Das Jahr 1993 kann man im Wesentliche n in drei große Themen der Berichterstattung einteilen. In der ersten Hälfte des Jahres 1993 fand die intensivste Berichterstattung der Lokalpresse zum Nibelungenstoff bezüglich eines am 24. April 1993 von dem Germanisten Heinz Ritter in Soest gehaltenen Vortrages statt. Neben Berichterstattungen im Soester Anzeiger19 und in der Westfalenpost20 wurden im Anschluss an den Vortrag mehrere Stellungnahmen veröffentlicht. Zunächst beto nt im Soester Anzeiger Ulrich Loer, Vorsitzender des Vereins für Geschichte und Heimatpflege e.V., welche Anstrengungen sein Verein in der Vergangenheit bereits bezüglich einer sachlichen „Auseinandersetzung mit dem Thema Niflungen/Thidrekssaga“ unternommen habe.21

Auch Heinz Ritter legt nach seinem Vortrag dem Soester Anzeiger im Mai 1993 eine Stellungnahme vor. Darin heißt es: „Aber meine Gegner in Soest, die sonst jeden Besucher, der auf den Spuren meiner Forschungen in diese Stadt kommt, gegen mich vergraulen, die waren nicht anwesend. Sie scheuten wohl die Aussprache mit dem 90jährigen Kämpfer für die Thidrekssaga.“ Ritter verlangt nun ein völliges Umdenken der Verantwortlichen.22

In einem am 10. Juni 1993 im Soester Anzeiger erschienenen Leserbrief gibt der Skandinavist und Märchenforscher Ralf Koneckis Ritter weitestgehend Recht23, während der Soester Altphilologe Dietmar-Ingo Deichmann am 26. Juni 1993 Heinz Ritter mangelnde altphilologische Kenntnisse unterstellt.24 Mit der Aussage, seine altphilologischen Kenntnisse seien keineswegs schwach, geht am 10. Juli 1993 schließlich Heinz Ritter auf den Leserbrief von Deichmann ein.25

Der andere große Berichtblock des Jahres 1993 zum Nibelungenstoff thematisiert im November und Dezember 1993 einen Vortrag von Ralf Koneckis. Neben mehreren Vorankündigungen26 wird der Vortrag schließlich auch in drei Meldungen inhaltlich kommentiert. Hier liest man, Koneckis stimme Ritter in vielen Punkten zu, spreche sich aber bei der Zeiteinordnung für einen 70 Jahre früheren Zeitpunkt aus.27 Außerdem habe Koneckis der Stadt Soest vorgeworfen, dass sich beim Nibelungenepos in Bezug auf den Fremdenverkehr fast gar nichts rühre.28

Im Dezember 1993 liest man im Soester Anzeiger schließlich noch, dass der Verein für Geschichte und Heimatpflege e.V. nun bezüglich der Nibelungensage „eine Kurzinformation in Form eines graphisch gestalteten Faltblattes zur Verfügung“29 stelle. Daraufhin wird Ende Dezember in derselben Zeitung gemeldet, Heinz Ritter denke über an ein „Gegenfaltblatt“ zu den Nibelungen nach, welches seiner Ansicht nach die Besucher Soests nicht abschrecken, sondern anlocken soll.30

Im Jahr 1994 beginnt die Berichterstattung des Soester Anzeiger über die Nibelungen mit zwei Leserbriefen. Zunächst meldet sich am 11. Januar 1994 der Soester Pfarrer Frieder Schütz zu Wort. Er zeigt sich von der Sage fasziniert und sieht darin ein großes Potenzial für den Tourismus: „Wenn es schon den Pfarrer von St. Petri wohlig erschauert bei dem Gedanken, der wackelige Holzstuhl im Gemeindebüro des alten Petrushauses sei eine, wenn auch kümmerliche, Fortentwicklung des sicher glanzvolleren Thrones von König Attala/Etzel an einst der gleichen Stelle - welches Kribbeln mag wohl Touristen und gläubige Wallfahrer überkommen, wenn sie Sparkasse und Kreiskirchenamt umschreitend noch das Klirren blutgetränkter Schwerter und das Wehklagen dahingestreckter Recken in dem alten Garten um die Pfalz erahnen.“ Er selbst befürchte eine ernsthafte Fehde um die Nibelungen in Soest. Und weiter: „Oder sollte man nicht doch mit dieser schön-schaurigen Geschichte der Thidreksage werben? Wenigstens ein ganz klein wenig? (…) Seltsam, wie unkooperativ sich aber dann Stadtarchiv sowie der Heimat- und Geschichtsverein verhalten. Ihre Veröffentlichungen sind ja geradezu kontraproduktiv. (…) Wie soll sich ein armer, kleiner, sachunkundiger, aber seine Stadt liebender Soester Bürger da verhalten? (…) Was ist besser zu ertragen: das verhaltene Gelächter unserer Historiker oder der Zorn eines immer wieder verkannten Propheten und seiner im unerschütterlichen Glauben gefestigten Nibelungen-Gemeinde?“31

Andreas Erbslöh aus Springe-Eldagsen greift in seinem am 19. Februar 1994 im Soester Anzeiger veröffentlichten Leserbrief die in Soest gefundenen Kammergräber auf. Er betont, dass „in anderen deutschen Orten schon aus wesentlich weniger Funden mehr gemacht wird“. Die in Soest freigelegten Grabkammern aus dem 6. Jahrhundert seien durch ihren Goldreichtum um ein Vielfaches reicher als zum Beispiel die in Scharfenberg im niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg gefundenen und viel gepriesenen Gräber. Erbslöh stellt bezüglich der Soester Grabkammern die Fragen: „Wäre es nicht an der Zeit, der in jenen Kammergräbern bestatteten Sippe den Titel beizulegen, der ihr vermutlich zukommt? (…) Warum eigentlich fällt es vielen so schwer, diese offensichtlichen Zusammenhänge anzuerkennen? Vielleicht, um nicht eingestehen zu müssen, daß der Schaumburger Ritter nun doch recht gehabt hat?“32

Interessant ist auch ein erneuter Leserbrief des Altphilologen Dietmar-Ingo Deichmann, der am 25. Februar 1994 in der Westfalenpost abgedruckt wurde. Deichmann geht hier auf die Anregung der Stadtverantwortlichen ein, Themenvorschläge zum Hansetag zu machen. Als „geistiges Produkt der Hansezeit“ gehöre für ihn die Thidrekssaga in Form eines „Nibelungen-Forums“ auf den Soester Hansetag. Deichmann, der noch im Juni 1993 Heinz Ritter in einem Leserbrief öffentlich angegriffen hatte, bietet nun einen eigenen Vortrag zu dem Thema an.33

Nachdem im Mai 1994 über eine von Ralf Koneckis durchgeführte Rad- und Bustour und einen von ihm gehaltenen Vortrag berichtet wurde, geht es im Juni 1994 dann um den Tod von Heinz Ritter. Kritisch merkt der Soester Anzeiger an: „Nun muß man fragen, wie die Stadt den Mann ehren wird, der sich so mannigfach um sie verdient gemacht hat.“34 Hans Rudolf Hartung, der als Redakteur des Soester Anzeiger häufig den Nibelungenmythos thematisierte, geht auch Ende Juni 1994 noch einmal auf Heinz Ritters Forschungen ein: „Für die Soester Stadtgeschichtsforschung hätten Ritters Hinweise Anlaß sein müssen, in aller Ruhe den Faden weiterzuspinnen. Statt dessen machte ihm noch im letzten Dezember ein Faltblatt des Soester Geschichtsvereins deutlich, daß die Geschichtskundigen in Soest ‚sagenhaft ahnungslos’ (Ritter) geblieben waren; sie hatten gar nicht kapiert, worum es wirklich geht.“35

Hartung schrieb im Jahr 1994 für den Soester Anzeiger außerdem eine zwölfteilige Reihe von Berichten mit dem Titel „Soest in der Sage“.36 Darin zeigt er alle Erwähnungen der Stadt Soest in der skandinavischen Nibelungen- dichtung auf. Wie der Anzeiger selbst meldete, wurde die Serie schließlich sogar als Taschenbuch37 veröffentlicht, um auf „die überaus große Nachfrage von Lesern, die den Zeitungstext gerne ‚zum Aufbewahren’ haben wollten“38, zu reagieren.

Mit einem regelrechten „Federkrieg“ aus sieben Leserbriefen wird schließlich im Herbst und Winter 1994 auf die Serie „Soest in der Sage“ reagiert. Zunächst meldet sich am 01. September 1994 der Historiker Heiko Droste zu Wort. Er betont: „Vollends verwegen aber scheint doch die Behauptung, daß die Nibelungen ihren Untergang in Soest erlebt hätten. Die bisher vorgebrachten ‚Beweise’ und Belege (…) haben die Fachwelt jedenfalls bisher kaum überzeugt, eher belustigt. (…) Die Nibelungensage gewinnt durch eine zweifelhafte Lokalisierung auf die Stadt Soest jedenfalls keine zusätzliche Glaubwürdigkeit und Wahrheit. Die Geschichte der Stadt Soest und ihrer Bürger könnte dagegen einigen Schaden nehmen. Hinter dem Versuch, die Soester Frühzeit durch die Nibelungensage oder immer weitere Rückdatierungen der Stadtgeschichte aufzuwerten, steckt ein Ruhm- und Geltungsbedürfnis, das mir recht peinlich vorkommt. Das hat unsere Stadt nicht nötig.“39 Auch Dietmar-Ingo Deichmann, der oben bereits als Schreiber zweier Leserbriefe zitiert wurde, meldet sich daraufhin erneut zu Wort. Er schreibt: „Ohne sich intensiv mit der isländischen Version der Thidreks- und Nibelungen- Saga, in der Soests Name ‚Susa’ und ‚Susat’ hundertmal vorkommt, befaßt zu haben, macht der Fach-Historiker Heiko Droste (…) eine Reihe unqualifizierter höhnischer Bemerkungen gegen die Soester Beschäftigung mit der Soest- Version der Nibelungen-Sage in einer Art, die eines Akademikers Toleranz gegen andere Wissenschaften schmerzlich vermissen läßt (…). Hans Rudolf Hartungs ‚ANZEIGER’-Serie ‚Soest in der Sage’ führt in den Einzeldarstellungen und im ‚Epilog’ (…) mehr und wichtigeres respektables Wissen an als der radikale Fach-Skeptizismus des zu eng orientierten Historikers Heiko Droste, der keine ausreichende Achtung für die Thidrekssaga von 1260 als Soester Kulturgut aufzubringen weiß, der zwar Kirchen in Soest als Kulturgut anerkennt, aber keine uralten Sagen, die Gebäude aus Wörtern, Gedanken, Geist und Historie sind.“40

Zu der Serie „Soest in der Sage“ und zu der neuen Bezeichnung „HellwegRegion“ meldet sich im Oktober 1994 auch der Skandinavist Ralf Koneckis erneut zu Wort. Die Hellwegregion, die von Bochum über Soest bis Paderborn reiche, beschreibe in etwa das Gebiet, das schon in der Thidrekssaga als „Hunaland“ bzw. „Hünenland“ bezeichnet worden sei. Koneckis spricht sich nun für den älteren Begriff aus: „‚Hünenland’ klingt spannender und dürfte allein von der Namensgebung her ein überregionales Interesse wecken. (…) Wenn Soest für die Zukunft gewinnen möchte, muß es den Mut haben, neue Wege zu gehen, und oft sind dabei die alten die besten.“41

Nur vier Tage später, am 24. Oktober 1994, druckt der Soester Anzeiger den nächsten Leserbrief des Historikers Heiko Droste ab. Zu den Vorwürfen, er sei die Nibelungendiskussion aus zu enger Fachsicht angegangen, schreibt er: „Das Problem in der Debatte um den angeblichen Untergang der Nibelungen in einem Soester Garten liegt wohl auch eher in der fehlenden Kommunikation zwischen Fachwissenschaftlern und Laien. (…) Daß ich mich als Historiker in die Debatte um Ritter-Schaumburg eingemischt habe, hat mir daher, wenig überraschend, den Vorwurf eingetragen, ein intoleranter und radikaler Fach- Skeptiker zu sein. Mit dem Vorwurf kann ich leben, wenn auch nicht gut. Nicht leben kann ich mit den Ausführungen Ritter-Schaumburgs. (…) Schließlich denke ich, daß sich die Anhänger der Theorie Ritter-Schaumburgs fragen sollten, ob sie diese Theorie nicht vielleicht deshalb so feurig vertreten, weil sie sie glauben wollen. Weil sie als Soester von der Idee begeistert sind, in ihrer Stadt könnte ein welthistorisches Ereignis stattgefunden haben. Die Liebe zu ihrer Stadt Soest, die ich als gebürtiger Soester teile, macht sie möglicherweise blind.“42

In die Diskussion um die Nibelungen schaltet sich nur zwei Tage später, am 26. Oktober 1994, der Soester Klaus Schmedtmann ein. In seinem im Soester Anzeiger abgedruckten Leserbrief geht er zunächst in ironischer Weise auf Heiko Drostes Leserbriefe ein: „Hoffentlich stellt der Wissenschaftler nicht auch die Existenz des Hunnenkönigs Attila (‚König Etzel’) in Frage. Dann wäre ich stocksauer, da Attila für mich eine der faszinierendsten Figuren des Altertums ist. Ich bin sicher, daß er auch in Soest war… (…) Weshalb sollte Attila also bei seinen Beutezügen im Dienste Roms nicht in der schönen Börde Rast gemacht haben? Ein militärischer Stützpunkt zwischen Rhein und Ostsee ist doch - wie auch die jüngere Geschichte beweist - in Soest mehr als logisch.“ Im Anschluss kommt Schmedtmann auf eine angebliche Niederlage Attilas bei Chalons-sur -Marne und auf die Flucht der überlebenden Hunnen zu sprechen: „In Frankreich gibt es sogar ein Dorf, wo sich offensichtlich eine ganze Kompanie geflohener Hunnen ansiedelte. Es heißt Courtisols. Etliche der heutigen Nachfahren haben noch immer den sogenannten Mongolenfleck in der Lendenwirbelgegend. Alle Soester sind also aufgerufen, mal nach dem bewußten Mal zu schauen, um endlich den Beweis zu erbringen, daß die Hunnen tatsächlich hier waren! Außerdem sollten die Bördebauern beim Ackerpflügen besser aufpassen, denn noch heute finden ihre Kollegen bei Chalons Überreste der damaligen Schlacht. Also Augen auf! Irgendwo müssen die Hunnen auch bei uns Spuren hinterlassen haben.“43

Wenige Wochen später druckt der Soester Anzeiger eine Reaktion auf die von Klaus Schmedtmann dargestellten historischen Verflechtungen ab. Erneut kommt hier Ralf Koneckis zu Wort: „Der Leserbrief von Klaus Schmedtmann (…) belebt zwar das Streitgespräch über die Soester Nibelungensage, ist aber aufgrund zweier Fehler wenig hilfreich: Einmal wird das westfälische Hünenland mit dem asiatischen Hunnenreich und der aus Friesland stammende Soester König Attala mit dem Hunnenkönig Attila in unberechtigter Weise gleichgesetzt. Zum zweiten wird fälschlich behauptet, in der westfälischen Nibelungensage seien die Burgunder gemeint.“ Weiter geht Koneckis auf die von Droste vermutete unbedingte Gläubigkeit der Soester an die Sage ein: „Die Gläubigkeit, die sich in Soest mittlerweile zu einem Geschichtsdogmatismus ausformt, liegt bei einer kleinen, aber einflußreichen Soester Minderheit, die sich nicht nur gegen die Thesen Ritters wehrt, sondern auch eine sachbezogene Diskussion behindert. (…) Um das von Droste erkannte Problem zu lösen, also um eine Brücke zwischen interessierten Laien und Fachwissenschaftlern zu begründen, habe ich bereits im August 1993 der Stadt Soest die Planung, Finanzierung und Durchführung einer Fachtagung zur Nibelungenfrage in Soest angeboten. Welchen Wirbel ich damit angerichtet hatte, konnte ich damals nicht ahnen. (…) Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Die Tagungsplanung liegt bei mir in der Schublade.“44

Um den „Federkrieg“ zu komplettieren, folgt nun noch die kurze Darstellung eines erne ut von Dietmar-Ingo Deichmann geschriebenen Leserbriefes im Soester Anzeiger vom 28. Dezember 1994. Deichmann geht hier auf die letzten drei Leserbriefe zum Nibelungenthema, die von Ralf Koneckis, Klaus Schmedtmann und Heiko Droste geschrieben wurden, ein: „Ralf Koneckis hat durch zahlreiche Leserbriefe sowie durch Vorträge in Soest als Dortmunder dazu beigetragen, daß das Thema ‚Soest in der Thidrek-Saga als Stadt des Nibelungenunterganges’ in manch wesentlicher Beziehung bereichert wurde; (…) Koneckis’ Richtigstellungen zu diesen beiden mit ominösen Anspielungen statt ehrlichen Argumenten arbeitenden Leserbriefen sind berechtigt. (…) In jeder wissenschaftlichen Auseinandersetzung - soweit es irgend geht, müssen sich auch Leserbriefe daran halten - sind die Quellen, die man benutzt hat, ehrlich anzugeben. (…) Heiko Droste (…) und Klaus Schmedtmann (…) arbeiteten mit ungenauen Anspielungen, nannten nicht ‚Nibelungen-Roß noch Ritter’, nannten nicht die Leserbriefe, auf die sie sich bezogen, Heiko Droste griff Zitate an, ohne den Mut zu haben, die Herkunft der Zitate zu nennen. Nochmals: Ehrlich währt am längsten! Die Nibelungen sind den Streit wert, den Streit mit offenem ritterlichen Visier!“45

Soweit die erste große Leserbriefdiskussion um die Nibelungen. Darin wird einerseits deutlich, wie unterschiedlich die Positionen in der Diskussion waren, andererseits stellt man aber auch fest, dass sich in der Öffentlichkeit häufig dieselben Personen zu dem Thema äußerten. Bei allem nachgewiesenen großen Interesse der Soester scheinen doch nur wenige den Mut gehabt zu haben, selbst mitzureden.

Bei einer Leserbriefdiskussion blieb es Mitte der 1990er Jahre in Soest aber nicht. Der Redakteur Ulrich Holtzwart kündigte noch am 31. Dezember 1994 im Soester Anzeiger an, dass „im kommenden Jahr ein neues Kapitel im Nibelungen-Streit“ in Soest aufgeschlagen werde.46 Der Verein für Geschichte und Heimatpflege e.V. hatte nämlich angekündigt, den Historiker Heiko Droste im Januar 1995 bei einem Vortrag zu Wort kommen zu lassen.

In einem schriftlichen Interview mit der Verfasserin vom Mai 2004 erinnert sich Heiko Droste an diese Einladung des Geschichtsvereines: „Ein großer Teil des Geschichtsvereins war gegen die Arbeiten Ritters eingestellt. Der Verein selbst wollte sich aber nicht äußern - ich glaube aus internen Gründen - und hat mich nach meinem ersten Leserbrief eingeladen, einen Vortrag zu halten. Dabei war klar, dass die Stoßrichtung meines Vortrags mit den Überzeugungen des Vorstands weitgehend übereinstimmte. Immerhin ist der Vortrag später als Aufsatz in der Soester Zeitschrift erschienen. Eine Einflussnahme von seiten des Vereins hat es aber nicht gegeben.“47

Wie schon angedeutet sorgte Heiko Droste mit seinem am 18. Januar 1995 gehaltenen Vortrag mit dem Titel: „Warum sta rben die Nibelungen in Soest? - Über den Sinn historischer Fragen“ besonders in der Lokalpresse für erneuten Wirbel. „Ziel Dr. Drostes Vortrages sei es weniger, den Soestern den Stolz auf ihre Heimat zu nehmen, sondern vielmehr die seiner Ansicht nach unwissenschaftliche Vorgehensweise Ritters zu kritisieren“ wird Heiko Droste in der Westfalenpost zitiert und abschließend heißt es: „Die anschließende Diskussion gab den Zuhörern Gelegenheit, mit Dr. Droste diverse Punkte näher zu erörtern.“48

Diese etwas verhaltene Art der Berichterstattung der Westfalenpost lässt sich im kritischen Soester Anzeiger nicht wieder finden. Hier heißt es unter anderem: „Wer allerdings neue Erkenntnisse über historische Fakten erwartet hatte, wurde trotzdem ein wenig enttäuscht. (…) Noch deutlicher wurde der Hamburger Wissenschaftler, der die Forschungen Ritters in Bausch und Bogen ablehnt, im zweiten Teil seines Vortrages, in dem er die These aufstellte, daß der Sagenforscher seine Bücher vor allem geschrieben habe, um germanische Helden zu verherrlichen. (…) Für diese zum Teil recht gewagten Ansichten mußte sich Dr. Heiko Droste nach seinem mit Beifall bedachten Vortrag in der anschließenden Diskussion auch manche Kritik gefallen lassen. Längst nicht alle Anwesenden waren der Meinung, daß die Nibelungen nur deshalb in Soest starben (oder auch nicht…), weil die Soester das einfach so wollten.“49

Der Redakteur Hans Rudolf Hartung legte vier Tage später im Soester Anzeiger sogar in sehr direkter Weise seine Meinung zu Heiko Drostes Vortrag dar: „Sie waren gekommen, weil sie es endlich wissen wollten. Sie gingen frustriert nach Hause, weil sie auf die Lock-Frage ‚Warum starben die Nibelungen in Soest?’ nicht die erhoffte Antwort gekriegt hatten. Heiko Droste aus Enkesen, Abiturient des Aldegrever-Gymnasiums, der mit der reißerischen Formulierung seines Vortrags-Themas und im Schmuck seines frisch erworbenen Hamburger Doktortitels im Fach Mittelalterliche Geschichte ‚letzte Aufklärung’ suggeriert hatte, war als Etikettenschwindler empfunden worden. (…) Kein Wort zur Sache. Nicht der geringste Versuch, Ritters Forschungsergebnisse mit Argumenten zu verwerfen.

[...]


1 Schröder, Ludwig (Hrsg.): Ferdinand Freiligraths sämtliche Werke in zehn Bänden. Erster Band. Leipzig 1907

2 Das Nöttentor wurde ebenso wie acht weitere Stadttore Soests vernichtet. Von den ehemals zehn Stadttoren existiert nur noch das Osthofentor.

3 Es handelt sich hier um die letzte von insgesamt 16 Strophen des Gedichts

4 Der Germanist Heinz Ritter-Schaumburg wird im Folgenden bei seinem meistens verwendeten, kürzeren Namen Ritter genannt.

5 vgl. Ritter-Schaumburg, Heinz: Die Nibelungen zogen nordwärts. 2. Aufl. München 1984 5

6 Schweikle, Günther und Irmgard (Hrsg.): Metzler Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2. Aufl. Stuttgart 1990, S. 388

7 Der Begriff „Student“ wird in diesem Kapitel sowohl für weibliche als auch für männliche Studierende verwendet.

8 vgl. z.B. Erichsen, Fine (Übers.): Die Geschichte Thidreks von Bern. 2. Aufl. Düsseldorf 1967

9 dtv-Brockhaus-Lexikon in 20 Bänden. Band 18. Mannheim und München 1988, S. 180

10 Erichsen, Fine (Übers.): Die Geschichte Thidreks von Bern. 2. Aufl. Düsseldorf 1967, S. 1 9

11 vgl. Erichsen, Fine (Übers.): Die Geschichte Thidreks von Bern. 2. Aufl. Düsseldorf 1967, S.1

12 ebenda: S. 383 ff.

13 Isenberg, Gabriele: Die Stadt Soest. Archäologie und Baukunst. Stuttgart 2000, S. 22

14 vgl. Droste, Heiko: Der Nibelungen Tod in Soest. Eine Erzählung über die Soester Vergangenheit und Gegenwart in: Verein für Geschichte und Heimatpflege (Hrsg.): Soester Zeitschrift. Nr. 107. Soest 1995, S.15 - 38

15 Schweikle, Günther und Irmgard (Hrsg.): Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2. Aufl. Stuttgart 1990, S. 388

16 Schweikle, Günther und Irmgard (Hrsg.): Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2. Aufl. Stuttgart 1990, S. 388

17 Buck, Theo und Steinbach, Dietrich (Hrsg.): Der Schatz des Drachentöters. Materialien zur Wirkungsgeschichte des Nibelungenliedes, zusammengestellt und kommentiert von Werner Wunderlich. 1. Aufl. Stuttgart 1977, S. 5

18 Diese Zahl ist das Ergebnis eigener Zählungen der Verfasserin

19 Soester Anzeiger vom 26.04.1993: Statt des Streits ein großes Lob für Querdenker. 60 Zuhörer lockte der Disput

20 Westfalenpost vom 27.04.1993: Starben 5 000 Recken an der Petrikirche? Beim Vortrag von Dr. Ritter-Schaumburg keine neuen Erkenntnisse zum Soester Nibelungenstoff

21 Soester Anzeiger vom 03.05.1993: Nichts Neues über die Nibelungen. Leserbrief von Ulrich Loer

22 Soester Anzeiger vom 25.05.1993: Der Streit um die Frühzeit von Soest. Dr. Heinz Ritter verteidigt seine Thesen: „Gegner verstehen zu wenig“

23 Soester Anzeiger vom 10.06.1993: Soest spielt eine wichtige Rolle. Leserbrief von Ralf Koneckis

24 Soester Anzeiger vom 26.06.1993: „Germanen waren Spätentwickler“. Leserbrief von Dietmar-Ingo Deichmann

25 Soester Anzeiger vom 10.07.1993: „Andere Maßstäbe für eine andere Kultur“. Leserbrief von Heinz Ritter

26 vgl. u.a. Soester Anzeiger vom 23.11.1993: Neues zu Nibelungen. Vortrag von Ralf Koneckis / Forschungen

27 Westfalenpost vom 01.12.1993: Waren Nibelungen früher in Soest? Sagenforscher Koneckis referierte

28 Soester Anzeiger vom 03.12.1993: Nachdenken über die Nibelungen

29 Soester Anzeiger vom 11.12.1993: Geschichtsverein zu Nibelungenthese

30 Soester Anzeiger vom 30.12.1993: „Ablehnung überall spürbar“. Heinz Ritter denkt an ‚Gegenfaltblatt’ über Nibelungen

31 Soester Anzeiger vom 11.01.1994: Ernsthafte Fehde um die Nibelungen. Leserbrief von Frieder Schütz

32 Soester Anzeiger vom 19.02.1994: Frühes Königstum in Soest möglich? Leserbrief von Andreas Erbslöh

33 Westfalenpost vom 25.02.1994: Nibelungen-Forum. Wichtiger Bestandteil für Hansetag. Leserbrief von Dietmar-Ingo Deichmann

34 Soester Anzeiger vom 24.06.1994: Der „Nibelungen-Ritter“ ist tot. Soest war zentraler Punkt seiner Forschungen

35 Soester Anzeiger vom 28.06.1994: Soest gegen Ritter oder: Worum ging der ganze Streit?

36 vgl. Soester Anzeiger vom 30.06.1994: „Wieso ausgerechnet in Soest?“ Was die Sagen aus dem 5. und 6. Jahrhundert erzählen

37 Hartung, Hans Rudolf: Soest in der Sage. 1. Aufl. Hamm 1994

38 Soester Anzeiger vom 15.10.1994: Soest in der Sage als Buch 18

39 Soester Anzeiger vom 01.09.1994: Soest wichtig auch ohne Nibelungen. Leserbrief von Heiko Droste

40 Soester Anzeiger vom 19.09.1994: Achtung für die Thidrekssaga. Leserbrief von DietmarIngo Deichmann

41 Soester Anzeiger vom 20.10.1994: Die alten Wege sind oft die besten. Leserbrief von Ralf Koneckis

42 Soester Anzeiger vom 24.10.1994: Zweifel an Ritter. Leserbrief von Heiko Droste

43 Soester Anzeiger vom 26.10.1994: Attilas Börde-Rast. Leserbrief von Klaus Schmedtmann

44 Soester Anzeiger vom 05.12.1994: Soester Sage kennt keine Burgunder. Leserbrief von Ralf Koneckis

45 Soester Anzeiger vom 28.12.1994: Seriös auch bei lockerer Feder. Leserbrief von Dietmar-I. Deichmann

46 Soester Anzeiger vom 31.12.1994: Ein Verdienst Heinz Ritters. Thidrekssage im Blickpunkt

47 Das vollständige schriftliche Interview befindet sich im Anhang ab S. 85 22

48 Westfalenpost vom 20.01.1995: Rätsel um den Nibelungentod. Dr. Droste widerlegt RitterSchaumburg

49 Soester Anzeiger vom 20.01.1995: Nibelungenforschung: Vortrag mit Herzblut. Keine neuen Erkenntnisse / Auch Kritik

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Nibelungen-Mythos und Soest: Das Potenzial des Mythos für Tourismusförderung und Stadtwerbung
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Germanistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
86
Katalognummer
V77555
ISBN (eBook)
9783638786461
ISBN (Buch)
9783656628019
Dateigröße
1000 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nibelungen-Mythos, Soest, Potenzial, Mythos, Tourismusförderung, Stadtwerbung
Arbeit zitieren
Master of Science Sarah Wulle (Autor:in), 2004, Nibelungen-Mythos und Soest: Das Potenzial des Mythos für Tourismusförderung und Stadtwerbung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77555

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