Versuch einer religiösen Deutung von Joseph Roths 'Hiob'-Roman: Menuchim - ein jüdisch-christlicher Messias?


Hausarbeit, 1995

60 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

I. Einleitung

II. Hauptteil
1. Menuchim - der Tröster
2. Menuchim - der Gottesknecht
2.1 Der leidende Gerechte als Gottesknecht
2.2 Israel als Gottesknecht
2.3 Der Gottesknecht als Messias
3. Die Messianität Menuchims
3.1 Die Prophetie des Wunderrabbis - Menuchim als Prophet
3.2 Die Offenbarung in der Musik
3.3 Die Offenbarung im Wunder: Überwindung der Entfremdung; Versöhnung des verlorenen Vaters
4. Menuchim - ein jüdischer Messias
5. Menuchim - ein Messias im christlichen Sinne
5.1 Die Präfiguration Christi im Alten Testament: Gottesknecht-Lieder und Psalmen
5.2 Der Sinn messianischen Leidens
5.3 Menuchim - ein Heiliger: Die Epilepsie als „heilige Krankheit“
5.4 Erlösung von Schuld und Sünde
5.5 Die Vergleichbarkeit mit der Passion Christi: Erlösertod und Auferstehung im Hiob-Roman
6. Versuch einer Synthese aus jüdischen und christlichen Messiasvorstellungen

III. Schluss Die Biographie Joseph Roths als Synthese jüdischer und christlicher Glaubenselemente

IV. Bibliographie

I. EINLEITUNG

“’Hiob’ proves that a sophisticated and supposedly hypercritical audience is ready to shed its acquired disillusion in the presence of such unashamed faith, hope and tenderness as Joseph Roth’s”.[1]

Ist das wahr? Ist der moderne Leser noch fähig zu einer derart unschuldigen Rezeption? Und wenn ja: Ist eine solche „Naivität“ - und insbesondere die „Naivität“ einer religiösen Hermeneutik - heute noch vertretbar? Längst hat sich die Literatur von ihrer früheren Rolle als „ancilla theologicae“[2] gelöst, und es bedarf häufig eines hermeneutischen Kraftaktes, um sie in religiöse Deutungsschemata zu pressen. Nicht so bei Joseph Roths Hiob-Roman: Hier scheint die theologische Interpretation bereits aufgrund des Titels gerechtfertigt zu sein. Dennoch ist Behutsamkeit geboten. Zu Recht warnt Marcel Reich-Ranicki vor einer allzu einseitig fixierten Hermeneutik: „Ich glaube, daß man diesen Schriftsteller verkennt, wenn man seinem Werk mit philosophischen, ideologischen[3] und politischen Kategorien beizukommen versucht.“[4] In der Tat sprengt das Werk Roths jede ideologische Schublade: hier revolutionär, dort reaktionär, hier sozialistisch, dort konservativ, hier skeptisch, dort religiös. Den Wendepunkt bildet der Hiob-Roman. Mit ihm beginnt der Autor seinen Weg als „Legenden- und Mythenschöpfer“[5], als „homo religiosus“[6] - allerdings ohne ein „dogmatisch-apologetisches Interesse“[7] zu verfolgen. Ihm geht es um etwas anderes, nämlich

„im weitesten Sinne um Verklärung, um jene schöpferische Aktivität, die sich darauf versteht, Sinn allererst zu stiften, zu wecken und transparent zu machen, wo Sinnlosigkeit erfahren wird“.[8] Dabei „unterbindet er zugleich, daß Wunder oder Vision als Transzendenzmedien in Form von Beweisen der göttlichen Wirksamkeit, wieder auf der argumentativen Bewußtseinsebene apologetisch oder gar propagandistisch verzweckt werden können, damit der Glaube bleibe was er ist, ein nicht operationalisierbares Vertrauen ‚gegen alle Hoffnung auf Hoffnung hin’ (Röm.4, 18)“.[9]

Man muss sich also davor hüten, die religiöse Substanz des Hiob- Romans je nach ideologischem Interesse zu funktionalisieren, denn bei „keinem Autor kann die Gefahr größer sein, daß man selektiv interpretiert“.[10] An die Stelle des Selektierens sollte die Synthese treten - auch auf die Gefahr hin, ein synkretistisch geprägtes Substrat zu erhalten. In einem solchen Substrat würde sich die religiöse Komponente als das offenbaren, was sie wirklich ist: „Tiefendimension“[11], „Mythisierung der Wirklichkeit“.[12] Zentraler Mythos ist dabei der Transzendenzbegriff. Wie bei Roth nicht anders zu erwarten, ist dieser Transzendenzbegriff vielschichtig; er ist aus Roths „Interkulturalität zu verstehen. Man war zu seiner Jugendzeit in Galizien auf verschiedene Kulturen, Religionen und Sprachen angewiesen. Man klammerte sich fest an eigene Mythen, man tolerierte aber auch fremde.“[13]

Um die Idee von der Transzendenz rankt sich ein ganzes Geflecht mythologisch-religiöser Bezüge. Diese bilden „ein Netz von synthetisierenden Erzählstrategien, die auf eine nicht unbedingt rationale Perzeption der Werke ausgerichtet sind. Joseph Roth vermittelt ganz bewußt eineWeltsicht, die Wunschträume als höher organisierte Realitäten sehen läßt und sich kurzfristig mit einer idealisierten Wirklichkeit zu identifizieren erlaubt.“[14]

Wie wird die Mythisierung der Wirklichkeit konkret realisiert? Zunächst sprachlich: Im Hiob-Roman operiert Roth „mit Ausdrucksformen einer poetisch-sinnlich, überdies bewußt (biblisch) stilisierten […] und höchst suggestiven Bildersprache“.[15] Bei Langenhorst ist von einem „gedämpften, quasi-religiösen Sprachduktus Roths die Rede“:[16] In Anlehnung an die Bibel bedient sich Roth eines schlichten und prunklosen, aber klaren Stils mit ruhigem, gleichmäßigem Sprachfluß. Eine auffällige Parallele sind auch die anaphorisch verknüpften parataktischen Reihungen sowie der Parallelismus membrorum:

„Sein Schlaf war traumlos. Sein Gewissen war

rein. Seine Seele war keusch“ (S. 8).[17]

„Man sparte Petroleum. Man legte sich zeitig

schlafen. Man versank dankbar in der gütigen

Nacht“ (S.60).

Bisweilen tritt die Analogie auch unmittelbar zutage: in Form von Zitaten oder Paraphrasierungen der biblischen Quellen.

Doch nicht nur sprachlich, sondern auch motivisch[18] und thematisch schöpft Roth aus dem biblischen Mythos. Im Vordergrund steht die Thematik des leidenden Gerechten, auf die in doppelter Weise Bezug genommen wird:

1. durch den Verweis auf den alttestamentlichen Hiob - eine Frage, die hier ausgeklammert werden muß, und
2. durch die messianische Dimension der Menuchim-Figur, deren mythologischer Urgrund bei den Klageliedern und Psalmen, bei den Liedern vom Gottesknecht sowie bei den Evangelien des Neuen Testamentes zu suchen ist.

Im folgenden soll diese biblische Verwurzelung Menuchims näher untersucht werden, und zwar in zwei Schritten:

1. durch Analyse der alttestamentlichen Bezüge. Dabei soll gezeigt werden, dass Menuchim die Züge eines jüdischen Messias trägt.
2. durch Ermittlung der neutestamentlichen Bezüge - ausgehend von der christologischen Deutung des Alten Testaments. Hierbei soll deutlich werden, dass Menuchim - zugleich - Messias im christlichen Sinne ist.

Ergebnis dieser Untersuchung soll sein, dass Menuchim als eine Art Synthese aus jüdischen und christlichen Messiasvorstellungen gedeutet werden kann - zumal unter Berücksichtigung der Biographie Joseph Roths.

II. HAUPTTEIL

1. Menuchim - der Tröster

Hebräisch „m'náchejm“ heißt „Tröster“, und Menuchim trägt diesen Namen zu Recht, denn durch ihn wird Mendel am Ende getröstet.

Der Beginn des vierten Liedes vom Gottesknecht ist wie ein Selbstporträt Menuchims:

„Gott, der Herr, gab mir die Zunge eines Jüngers,

damit ich verstehe, die Müden zu stärken durch mein Wort“

(Jes. 50,4).

Tatsächlich richtet Menuchim Mendel auf, er ist taktvoll und zartfühlend, macht seinem Vater keinerlei Vorwürfe:

„Er schreit nicht und lärmt nicht […]

Das geknickte Rohr zerbricht er nicht“ (Jes. 42, 2-3).

Diese Sanftheit und Behutsamkeit ist Balsam für Mendels Seele – schließlich steht die Vergebung durch Menuchim für die Vergebung durch Gott.

Zunächst aber ist mit Menuchim nicht Trost, sondern Unheil verbunden. Schon vor seiner Geburt weiß Deborah, „daß ein Unglück im Anzug ist. Ein Unglück trägt sie im Schoß“ (S. 30). Und tatsächlich erweist sich Menuchim von Anfang an als störendes Element: Er wirft das ruhige und harmonische - obgleich ärmliche- Leben Mendel Singers aus den gewohnten Bahnen. Seit der Epilepsie-Diagnose des Doktors Soltysiuk nämlich hängt „die Furcht wie ein Ungetüm“ (S. 14) über Mendels Haus, und der Kummer durchzieht „die Herzen wie ein dauernder heißer, stechender Wind“ (S. 14). Die Geschwister empfinden ihren behinderten Bruder gar als Plage:

„Von nun an begann die Plage der Kinder. Sie schleppten

Menuchim wie ein Unglück durch die Stadt […] Sie ertrugen

den Hohn der Altersgenossen nur schwer“ (S. 22).

Dennoch kommt Menuchims Wandel zum Tröster nicht gänzlich unerwartet: Bereits in der Prophetie des Wunderrabbis heißt es, Menuchim werde einst „gütig“ und „mild“ sein, sein Mund werde „Gutes künden“ (S.19). Die tröstliche Wirkung der Prophetie auf Deborah könnte als Antizipation des Romanendes verstanden werden:

„finster war ihr Herz“ (S. 17 ) „Gnade im Herzen“ (S. 20)

„Wangen ,die in hellroten Flammen „Ihre Wangen waren blaß“ ( S.20) standen“( S.18)

„Ein See von Tränen [lag] vor ihrem „Ihre Augen trocken“ (S. 20)

Blick“ (S.19)

„Ihr[em] offenen Mund , aus dem ein „Ihre Lippen leicht geöffnet , als

sengender Hauch zu strömen schien“ atmeten sie lauter Hoffnung“ (S.18) (S. 20)

Auf eine ähnlich umfassende und heilsame Weise wird auch Mendel getröstet. Er, dessen Gemüt sich nach dem Ausbruch von Mirjams Geisteskrankheit auf das äußerste verdüstert, er, der auf das verzweifeltste gegen Gott rebelliert, ihn gar verbrennen will,[19] findet durch Menuchim zu seelischer und geistiger Harmonie zurück. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die notorische Analogie zu den Klageliedern ,die bezüglich der Sehnsucht nach dem „m’náchejm“ als locus classicus gelten können :

„Fern sind alle Tröster, mich zu erquicken“ (Klgl 1,11) .

„Hör , wie ich stöhne; ich habe keine Tröster“ (Klgl 1 , 21).[20]

Die Klagelieder erinnern an die Zerstörung des Tempels im Monat Ab. Sie offenbaren den übergroßen Schmerz über die Katastrophe des Jahres 586 v. Chr. Mendels persönliche Katastrophe, die bittere Erkenntnis der Nymphomanie Mirjams, fällt ebenfalls in den Monat Ab,[21] und sie hat - wie die Eroberung Jerusalems - die Auswanderung zur Folge, das „Exil“. In Amerika trifft Mendel ein Schicksalsschlag nach dem anderen, und nicht zuletzt sieht er sich - wie das Volk Israel in Babylonien - mit dem Verlust seiner religiösen Identität konfrontiert.

„Ihr alle, die ihr des Weges zieht , schaut doch und seht,

ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz , den man mir angetan,

mit dem der Herr mich geschlagen hat“ (Klgl 1, 16).

Diese Klage könnte auch Mendels Mund entstammen, und es lassen sich noch weitere Parallelen finden:

Klgl 3, 3-13

„Täglich von neuem kehrt er „Warum nicht Lemmel, den Fleischer?

[der Herr] die Hand nur Warum straft er nicht Skowronnek?

gegen mich“. Warum straft er nicht Menkes? Nur

Mendel straft er „ ( S.162).[22]

„Er zehrte aus mein Fleisch und „Meine Haut ist […] verbrannt, meine

meine Haut , zerbrach meine Glieder sind […] gelähmt“ (S.169).

Glieder.“

„Im Finstern ließ er mich wohnen, „Ich bin ein Toter und lebe“ (S.154)

wie längst Verstorbene“.

„Wenn ich auch schrie und flehte, „Mendel Singer hatte einst geglaubt ,

er blieb stumm bei meinem Gebet“ eine Antwort zu hören. Ein Trug war es gewesen […]. Der Vater war mächtig und böse. Keine anderen Laute kamen über seine Lippen als Donner“ (S. 173).

„Ein lauernder Bär war er mir, ein Löwe „Er ist ein großer , grausamer Isprawnik“ im Versteck. Er hat mich vom Weg (S. 165).[23]

vertrieben, mich zerfleischt und zerrissen.“

„Er spannte den Bogen und stellte mich „Alle Pfeile seines Köchers haben mich

hin als Ziel für den Pfeil. In die Nieren schon getroffen“ (S. 168) .

ließ er mir eindringen die Geschosse

seines Köchers.“

Es gibt aber auch einen grundlegenden Unterschied: Die Klagelieder, obwohl bisweilen durchaus als Anklage zu verstehen, sind stets Ausdruck eines unbeirrbaren Gottvertrauens; die Hoffnung auf den „m’náchejm“ wird nie aufgegeben - heißt es doch beim Propheten Jesaja: „Tröstet , tröstet mein Volk , spricht euer Gott!“ (Jes 40, 1).

Mendels Zorngesang hingegen - Eruption tiefster Verzweiflung - ist eine radikale Absage an Gott; der moderne Hiob will von Trost nichts wissen - und wird dennoch getröstet: Verbittert und ohne jeden Halt stürzt sich Mendel in den Abgrund metaphysischer Leere, doch die Tiefe hebt sich in ihm entgegen und trägt ihn. So wird aus dem

„Equidem novi quod redemptor meus vivat“[24]

ein nicht weniger gehaltvolles „Menuchim lebt!“ (S. 205). Menkes’ Prophezeiung „Du wirst getröstet werden“ (S. 168) ist in Erfüllung gegangen. Zwar kann Mendel sein Leiden noch immer nicht verstehen, er kann es aber - dank Menuchim - bestehen, und so gelingt ihm die Befreiung aus den Fängen der Theodizeefrage:

„Soll es denn umsonst sein, daß ich mein Herz rein hielt und

meine Hände in Unschuld wasche? Ich bin doch täglich geplagt,

und meine Züchtigung ist alle Morgen da […].

So sann ich noch, ob ich’s begreifen könnte, aber es war mir

zu schwer […]. Dennoch bleibe ich stets bei dir, denn du hältst

mich bei deiner rechten Hand […]. Wenn ich nur dich habe, so

frage ich nichts nach Himmel und Erde.[25]

Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, so bist du doch,

Gott, allezeit meines Herzens Trost“ (Ps. 73, 13-26).

Die Augen des Trösters lassen Mendels Theodizeefrage verstummen. Nicht, dass in ihnen - expressis verbis - eine Antwort formuliert wäre, nein, die Antwort besteht in der „Erlösung von der Fragestellung“:[26] „Alles wissen sie [Menuchims Augen], nichts verraten sie, das Licht ist in ihnen“ (S. 193). Es ist also völlig belanglos, daß „nichts verraten“ wird; das Licht allein genügt: Nicht das „Was“, sondern das „Daß“ der in Menuchim realisierten Theodizee ist entscheidend – gemäß: „Gott antwortet den Fragen des menschlichen Schicksals nicht, aber er kann es wenden“:[27] durch das „Mysterium der Nähe“[28], durch die Offenbarung im „m’náchejm“. Diese Offenbarung wird durch „Menuchims Lied“ bereits vorweggenommen:

Die Musik des Trösters bewirkt, daß sich Mendels verhärtete Seele löst und so für die Er-lösung bereitet: „Da begann Mendel zum erstenmal seit langer Zeit zu weinen“ (S. 179).[29]

Doch nicht nur Mendel wird durch „Menuchims Lied“ gerührt; der Trost hat auch eine kollektive Dimension: „Sie spielen jüdische Melodien […]. Das Herz wird warm. Ich habe geweint, das ganze Publikum hat geweint.“ (S. 190).

Mendel steht also als Paradigma: In ihm wird nicht nur ein Individuum, sondern die Gesamtheit aller Juden, vielleicht sogar aller Menschen getröstet - denn wie es in Mendels Ringen „um das Du Gottes“ zugleich „um das Es der Welt“[30] geht, so umfasst Menuchims Lied die „Totalität von Welterfahrung und indisch-göttlicher Geborgenheit.“[31]: „<Die ganze Welt höre ich jetzt >, dachte Mendel.“ Die seelenvolle Komposition des Trösters bringt die Innerlichkeit aller Menschen zum Ausdruck, Menuchims Emanation wirkt individuell, kollektiv und universal. Diese Mehrdimensionalität spiegelt sich auch in der Affinität Menuchims zumGottesknecht wider, die im folgenden untersucht werden soll.

2. Menuchim - der Gottesknecht

Nach jüdischem Verständnis ist der Gottesknecht dreifach zu deuten:[32]

1. Als leidender Gerechter , wie er aus den Psalmen und der Weisheitsliteratur bekannt ist
2. Als pars pro toto für das gequälte jüdische Volk und
3. Als der verheißene Messias

2.1 Der leidende Gerechte als Gottesknecht

Hiob ist der Prototyp des leidenden Gerechte: Er lebt in scheinbar völliger Übereinstimmung mit dem Willen Gottes und erleidet dennoch einen Schicksalsschlag nach dem anderen . Auch Mendel Singer wird „der Gerechte“ genannt ( S.12) .Im Unterschied zu seinem biblischen Leidensgenossen ist er aber keinesfalls unschuldig . Es erscheint daher wenig plausibel, ihn mit dem Gottesknecht zu vergleichen.

Menuchim hingegen ist der leidende Gerechte par excellence, und die Parallelen zum Gottesknecht, der wohl „von früh an körperbehindert war“,[33] sind unübersehbar:

„Seine Stimme krächzte […]. Im dreizehnten Lebensjahr seines Lebens begann er, Grimassen zu schneiden und wie ein Tier zu stöhnen“

(S.11).

„Viele haben sich über ihn entsetzt,

so entstellt sah er aus „Er winselte" ( S.18) .

nicht mehr wie ein Mensch,

seine Gestalt war nicht mehr „Er setzte nicht einen Fuß vor den anderen

die eines Menschen " (Jes. 52,4) wie ein Mensch“ (S.20) .

„Er fraß alles […] Ein Stück Dreck ,

lagerte er im Winkel" ( S.22) .

„Menuchim gab ein helles Wiehern von sich

(S. 64).

„Er kroch […] aus seinem Winkel […],

hockte in der Schwelle […] wie ein

kranker Hund . Manchmal griff er nach

der Schürze seiner Mutter und

knurrte“ (S. 105).[34]

Sowohl Menuchim als auch der Gottesknecht scheinen hier ihrer menschlichen Würde beraubt zu werden. Unterschwellig indessen mahnt der Text: „Sieh nicht auf sein Aussehen und seine […]Gestalt, Gott sieht nämlich nicht auf das, was der Mensch sieht. Der Mensch sieht, was vor den Augen ist. Gott aber sieht das Herz" (1 Sam 16,7).[35]

Unter das Vorzeichen dieses Samuel-Zitats ist auch folgende Textstelle zu stellen:

„Sein großer Schädel hing schwer wie

ein Kürbis an seinem dünnen Hals.

„Er hatte keine edle Gestalt, Seine breite Stirn fächelte und furchte

so daß wir ihn anschauen sich kreuz und quer, wie ein zerknittertes

mochten“ (Jes 53 ,2). Pergament. Seine Beine waren gekrümmt

und ohne Leben wie zwei hölzerne Bögen. Seine dürren Arme zappelten und zuckten. Lächerliche Laute stammelte sein Mund“ (S. 11).[36]

Das abstoßende Äußere ist allerdings nicht die einzige Gemeinsamkeit. In Jes 49, 7 ist vom „tief verachteten Mann, dem Abscheu der Leute“ die Rede, und im vierten Lied vom Gottesknecht heißt es:

„Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden. Ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut“ (Jes 53,3).

Lieblosigkeit, ja Abscheu muß auch Menuchim erfahren, vor allem von Seiten der

Geschwister:

„Zum erstenmal galt es, das kranke Kind zu umarmen, und es war Schemarja, als hätte er nicht einen Bruder zu küssen, sondern ein Symbol, das keine Antwort gibt“ (S. 54, 55).

Mirjam begegnet Menuchim mit besonderer Grausamkeit:

„Einen häßlichen und hassenden Abscheu im Herzen, näherte sie sich ihrem lächerlichen Bruder. Die Zärtlichkeit, mit der sie sein […] Angesicht streichelte, hatte etwas Mörderisches. Sie sah sich vorsichtig um […], dann kniff sie ihren Bruder in den Schenkel“ (S. 23).

Später bezeichnet sie Menuchim kaltherzig als „Idioten“ (S. 99).

Mit gleicher Härte wird dem Ebed begegnet:

Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er

verachtet, wir schätzten ihn nicht“ (Jes. 53, 3).

Dieses Verhalten der „Wir“ gegenüber dem Gottesknecht entspricht dem der Feinde „im Ordnungsgefüge der Psalmen“.[37] Auch hier sieht sich der leidende Gerechte mit Animosität und Geringschätzung konfrontiert:

„Zum Spott bin ich geworden meinen Feinden, ein Hohn

den Nachbarn, ein Schrecken den Freunden, wer mich

auf der Straße sieht, flieht vor mir“ (Ps. 31, 12).

„Alle, die mich sehen, verlachen mich, verziehen die

Lippen, schütteln den Kopf“ (Ps 22, 8).[38]

Auch Menuchim wird zum Gespött der Leute, und seine Geschwister ertragen „den Hohn der Altersgenossen nur schwer“ (S. 22). Ihr Haß steigert sich immer mehr, und „eines Tages, im Sommer“ (S. 23) bricht er sich Bahn: Die Kinder fassen den Beschluß, Menuchim in einer Regentonne zu ertränken:

„Sie hielten ihn an den krummen Beinen und stießen seinen grauen breiten Kopf ein dutzendmal ins Wasser, in der freudigen und grausigen Erwartung, einen Toten zu halten. Aber Menuchim lebte. Er röchelte, spuckte das Wasser aus, die Würmer, das verschimmelte Brot, die Obstreste und lebte. Nichts geschah ihm“ (S. 23f.).[39]

Einige Psalmen lesen sich wie eine Dramatisierung dieses Mordversuchs:

„Sie taten sich gegen mich zusammen wie Fremde, die ich nicht kenne. Sie hören nicht auf, mich zu schmähen, sie verhöhnen und verspotten mich, knirschen gegen mich mit den Zähnen“ (Ps 35, 15).

„Ich höre das Zischeln der Menge - Grauen ringsum. Sie tun sich gegen mich zusammen, sie sinnen darauf, mir das Leben zu rauben. Ich aber, Herr, ich vertraue dir!“ (Ps. 31,14).

„Hilf mir, o Gott! Schon reicht mir das Wasser bis an die Kehle. Ich bin in tiefem Schlamm versunken und habe keinen Halt mehr“ (Ps. 61, 1).[40]

[...]


[1] Untermeyer, Louis: Uz in America. Job: the story of a simple man. In : The Saturday review of literature 8 (1931/16), S. 261. In: Joseph Roth 1894-1939. Eine Ausstellung der deutschen Bibliothek (1979), S. 445.

[2] Vgl. Steinmann, Esther: Von der Würde des Unscheinbaren (1984), S. 7.

[3] Das heißt wohl auch theologischen Kategorien.

[4] Reich-Ranicki, Marcel: Der Romancier Joseph Roth (1988), S. 48.

[5] Hüppauf, Bernd: Der Mythos des Skeptikers (1986), S. 320.

[6] Steiner, Carl: Frankreichbild und Katholizismus bei Joseph Roth (1988), S. 90.

[7] Vom Hofe, Gerhard: „Reigen aus Mühsal“ und „Schwere des Glücks“. Joseph Roths Hiob-Deutung (1994), S. 71.

[8] Steinmann, Esther: Von der Würde des Unscheinbaren (1984), S. 20.

[9] Ebd, S. 126.

[10] Ebd., S. 8.

[11] Ebd.

[12] Kaszynski, Stefan: Die Mythisierung der Wirklichkeit im Erzählwerk Joseph Roths (1991), S. 12.

[13] Ebd., S. 13.

[14] Ebd., S. 12.

[15] Vom Hofe, Gerhard: „Reigen aus Mühsal“ und „Schwere des Glücks“. Joseph Roths Hiob-Deutung (1994), S. 66.

[16] Langenhorst, Georg: Hiob, unser Zeitgenosse (1994), S. 256 ff.

[17] Roth, Joseph: Hiob. Roman eines einfachen Mannes. Köln: Kiepenheuer &Witsch, 1992. Nach dieser Ausgabe wird im fortlaufenden Text mit Seitenangaben in Klammern zitiert.

[18] Als Beispiele wären zu nennen: das Motiv der feindlichen Brüder (Gen. 25-37), das Motiv des Mordversuchs am jüngsten Bruder (Gen. 37 , 18-20) und des Wiedersehens zwischen Vater und Sohn (Gen. 48 / Lk 15, 11-32).

[19] Vgl. S.161-170.

[20] Hervorhebung v. Verf..

[21] Vgl. S.70.

[22] Hervorhebungen v. Verf..

[23] Vgl. S. 88: „Er (der Isprawnik) hielt das winzige Tier in seiner riesigen Faust, er öffnete sie vorsichtig, zupfte einen Flügel ab, dann den nächsten und schaute noch ein bißchen zu, wie das verkrüppelte Insekt auf dem Schreibtisch weiterkroch“.

[24] R. Salomonis Jardi: Commentarius Hebraicus in Prophetas maiores et mimores ut in Hiobum et Psalmos (MDCCXIII).

[25] Hervorhebungen v. Verf.. Ein ebenso grenzenloses Vertrauen bekundet Mendel gegenüber seinem Sohn: „Ich will nichts wissen! Wohin du fährst, ist es gut!“ (S. 216).

[26] Kehl, Othmar: Jahwes Entgegnung an Ijob (1978), S. 17.

[27] Susmann, Margarethe: Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes (1968), S. 200.

[28] Buber, Martin: Zur Verdeutschung des Buches Ijob. In: Ders.: Werke. Band 2, S. 1173.

[29] Das Motiv der Besänftigung durch Musik ist biblischen Ursprungs. König Saul litt unter Depressionen und Tobsuchtanfällen. Nur Davids Spiel auf der Leier konnte ihn beruhigen und trösten (vgl. 1. Samuel16,14 ff.)

[30] Kehl, Othmar: Jahwes Entgegnung an Ijob (1978), S. 16.

[31] Vom Hofe, Gerhard: „Reigen aus Mühsal“ und „Schwere des Glücks“. Joseph Roths Hiob-Deutung (1994), S. 83.

[32] Vgl. Haag, Herbert : Der Gottesknecht bei Deuterojesaja (1985), S.38.

[33] Seybold, Klaus: Krankheit und Heilung (1978), S.62.

[34] Hervorhebungen v. Verf. .

[35] Vgl. S.105: Hier ist von der Seele Menuchims die Rede, „die Gott verborgen hatte in dem undurchdringlichen Gewande der Blödheit.“

[36] Hervorhebung v. Verf.: Der Parallelismus membrorum sowie die anaphorisch verknüpfte parataktische Reihung erinnert an den biblischen Stil, an eine „musique biblique“ ( Vgl. Bronsen, David: Joseph Roth. Eine Biographie (1974), S.381) .Die gehäuften Alliterationen verleihen der Beschreibung eine fast lyrische Intensität. Auch das Aprosdoketon „fächelte“ und die sehr expressiven Vergleiche tragen hierzu bei .

[37] Steck, Odil Hannes: Gottesknecht und Zion: gesammelte Aufsätze zu Deuterojesaja (1992). S.40.

[38] Vgl. die christologische Deutung von Psalm 22: S. 32-33.

[39] Vgl. Gen 37, 18-20; Jes 38,6.

[40] Natürlich ist dieser Vers nicht wörtlich zu verstehen. Doch geht die Aussagekraft des Vergleichs auch dann nicht verloren, wenn „Versinken“, „Wasser“ und „Schlamm“ ausschließlich als Metaphern oder Archetypen verstanden werden. Vielmehr eröffnet sich so eine neue, tiefenpsychologische Dimension des Mordversuchs an Menuchim.

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Details

Titel
Versuch einer religiösen Deutung von Joseph Roths 'Hiob'-Roman: Menuchim - ein jüdisch-christlicher Messias?
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Germanistisches Seminar)
Note
1,0
Autor
Jahr
1995
Seiten
60
Katalognummer
V77585
ISBN (eBook)
9783638830751
ISBN (Buch)
9783638831086
Dateigröße
622 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Versuch, Deutung, Joseph, Roths, Hiob, Menuchim, Messias
Arbeit zitieren
Sandra Kluwe (Autor:in), 1995, Versuch einer religiösen Deutung von Joseph Roths 'Hiob'-Roman: Menuchim - ein jüdisch-christlicher Messias?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77585

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