Föderalismus im Libanon. Ein Weg zum Pluralismus?


Bachelorarbeit, 2006

36 Seiten, Note: summa cum laude


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Dysfunktionalisierung des libanesischen Politiksystems

3 Mechanismen zur Refunktionalisierung
3.1 Entkonfessionalisierung
3.2 Dezentralisierung

4 Synthese

5 Kritische Diskussion und Ausblick

6 Literaturverzeichnis
6.1 Arabische Quellen
6.2 Übrige Literatur

1 Einleitung

Obwohl die vorliegende Arbeit ihr Entstehen einem Seminar mit dem Schwerpunkt Liba- non verdankt, betrifft die ihr zu Grunde liegende Problematik bei weitem nicht nur den Libanon. Es handelt sich vielmehr um ein globales Phänomen: Die Verbindung und Ba- lance von staatlicher Einheit mit gesellschaftlicher Diversität beziehungsweise Pluralität1 zu schaffen und aufrecht zu erhalten. Diese Problematik ergibt sich aus der Anwendung oder Imposition des Konzeptes “Staat“ auf plurale Gesellschaften. Das Staatskonzept ent- wickelte sich in Europa zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert. Juristisch basiert es auf generellen, unpersönlichen Regeln, die als Recht definiert sind. Ökonomisch beglei- tete der Aufstieg des Staatskonzepts die Entwicklung des arbeitsteiligen Kapitalismus. Und strukturell wird „Staat“ im Sinne von Einheit, Zentralisation und funktionaler Dif- ferenzierung verstanden (Ayubi 1995: 10). Manifestiert sich diese staatliche Einheit in politischen Institutionen und Prozessen, welche Einheit über Diversität stellen und die reale Pluralität der Gesellschaft ignorieren beziehungsweise unterdrücken, kann es zum Konflikt kommen. Darin liegt laut Arefaine (2005: 3f.) ein Hauptproblem vieler postkolo- nialer Staaten: Es seien nicht alle vorhandenen Gruppen repräsentiert worden; stattdessen hätten von den Kolonialmächten bevorzugte Gruppen politische Dominanz ausgeübt und den ausgeschlossenen Gruppen die Selbstbestimmung verweigert. Dies hatte für die vom politischen Prozess ausgeschlossenen Gruppen auch ökonomische Konsequenzen, denn „the uneven distribution of political power among the groups resulted in unequal access to these available resources. [...] As far as these groups (die ausgeschlossenen, M.R.) are concerned, the state has failed to meet what is expected from it“ (Arefaine 2005: 4). Die schwerwiegenden Konsequenzen dieser politischen und sozioökonomischen Dysbalancen manifestierten sich, wie anhand der zahlreichen innerstaatlichen Konflikten während den letzten Jahrzehnten beobachtet werden kann, oftmals in Gewaltakten: Ausgeschlossene Gruppen opponierten gegen den in ihren Augen illegitimen Staat, um entweder inner- halb des existierenden Staates zu ihrer Teilhabe zu gelangen, oder ihren eigenen Staat zu gründen, um ihre Interessen wahren zu können (Arefaine 2005: 4). Die Tatsache, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen dasselbe Gebiet teilen, muss jedoch nicht notwendigerweise zu einem Konflikt führen (Arefaine 2005: 14). Im Falle der Schweiz, um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen, konnten viele Konfliktlinien, von Sprache über Konfessionen bis hin zu Stadt-Land- beziehungsweise Zentrum-Peripherie- Konflikten akkomodiert werden, wenn auch nicht immer ohne Auseinandersetzungen. Umgekehrt ist gesellschaftliche Homogenität jedoch, soweit eine solche existieren kann, auch kein Garant für friedliche Koexistenz - in beiden Fällen sind empirisch Ausnahmen zu beobachten (Arefaine 2005: 3). Im Gegensatz zur weit verbreiteten Annahme, dass gesellschaftliche Pluralität, drücke sich diese in ethnischen, sprachlichen, religiösen oder anderen Konfliktlinien aus, die Ursache von Unruhen sei (Lemco 1991: 91), liegt demnach der vorliegenden Arbeit vielmehr die folgende Hypothese zugrunde:

Der Umgang mit gesellschaftlicher Diversität ist ein entscheidender Faktor für die Stabilität eines politischen Systems, und innenpolitische Konflikte in Staaten mit pluraler Bevölkerung können aus der Absenz von politischen Mechanismen zur Akkomodation von gesellschaftlicher Pluralität resultieren (Arefaine 2005: 42).

Im Staatsgebiet des Libanon lebt ebenfalls eine sehr plurale Gesellschaft: 18 Religionsge- meinschaften leben zusammen auf einem Gebiet von rund 10’000 km2 (Perthes 1994: 7). Es existieren topographische Differenzen: Rurale Berggebiete finden sich unweit von Ha- fenstädten, und die klimatischen Bedingungen in den einzelnen Regionen variieren. Und auch der Libanon wurde zum Schauplatz von Bürgerkriegen. Wiederum liegen jedoch, so kann die Hypothese auf die Situation des Libanon übertragen werden, die Ursachen für die Konfliktsituation nicht in der Pluralität der libanesischen Gesellschaft selbst, sondern in der teilweisen Absenz von Akkomodationsmechanismen für diese Pluralität:

„Religion is also another source of expression of group identity and therefore, another cause of diversity. [...] In nearly the majority of the societies of the World, Muslims and Christians live within one political system. The same applies to other types of diversity; the existence of peoples of different religions cannot by itself be a cause for problems of accomodation. The problem arises, like in causes of ethnic diversity, when groups of people from one religion dominate the state and suppress other religious practices in favor of their own“ (Arefaine 2005: 45).

Diese Absenz von Akkomodationsmechanismen führt zu einer Dysfunktionalität des Poli- tiksystems.2 Dem libanesischen Politiksystem kann keine vollständige Absenz von Akko- modationsmechanismen angelastet werden, denn es existiert ein der Konsensdemokratie ähnliches System der Machtteilung, welchem die Konfessionsgruppen als Repräsentati- onsbasis zu Grunde liegen (Hanf 1990: 99). Dennoch wurde dieses System im Laufe der Zeit dysfunktional - die Akkomodation gesellschaftlicher Diversität gelang nicht mehr, und die schrecklichen Folgen sind bekannt. Auf Grund einer Analyse der bestehenden Konflikte und ihrer Ursachen können jedoch geeignete Mechanismen zur Akkomodation der gesellschaftlichen Pluralität identifiziert werden. Der Einsatz dieser geeigneten po- litischen Akkomodationsmechanismen kann im Folgenden eine Refunktionalisierung be- wirken und zur Stabilisierung des politischen Systems beitragen. Akkomodation verfolgt zu diesem Zweck die folgenden drei Ziele:

1. alle Gruppen und Bürger werden ins politische System aufgenommen, sie können also partizipieren,
2. alle Gruppen und Bürger werden angemessen repräsentiert und
3. steht ihnen der Zugang zu Ressourcen aller Art offen, alle Gruppen und Bürger können also an staatlichen Leistungen teilhaben, was auch den Schutz aller Bürger einschliesst.

Arefaine (2005: 71-80) nennt drei mögliche Wege der Akkomodation gesellschaftlicher Pluralität, wobei diese einander nicht ausschliessen müssen:

(a) Die Konsens- beziehungsweise Proporzdemokratie3, (b) administrative Dezentralisie- rung, also die Gewährung punktueller Autonomie an subnationale Ebenen, beispielsweise in lokalen oder kulturellen Angelegenheiten, und (c) Föderalismus. Die vorliegende Arbeit diskutiert alle drei Mechanismen, will jedoch vor allem die Gründe für die Dysfunktiona- lisierung des bestehenden konfessionellen Proporzsystems darlegen und sich danach mit Entkonfessionalisierung, Dezentralisierung und Föderalismus als Refunktionalisierungs- ansätzen auseinandersetzen - letzterem wird wegen seiner Akkomodationsfähigkeit, auf die gleich noch weiter eingegangen wird, ein zentraler Platz eingeräumt, wie schon der Titel der Arbeit verrät.

Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine Fallstudie und will, mit dem Anspruch der Handlungsrelevanz (Afshar 1990: 4), lösungsorientiert vorgehen. Auch wenn sich bei einer Analyse des Libanons die innen- nie scharf von der aussenpolitischen Situation abgren- zen lässt (vgl. Kapitel 2), so soll auf der Grundlage der obigen Hypothese doch eine Analyse des libanesischen Politiksystems versucht werden. Im zweiten Kapitel werden historische Schlüsselereignisse mit ihren Konsequenzen für die Dysfunktionalisierung des libanesischen Politiksystems dargestellt, und es werden vier Hauptursachen für den innen- politischen Konflikt im Libanon herauskristallisiert. Diese vier Ursachen bilden wiederum zwei Konfliktkomplexe, die bis dato bestehen: Ein Konfessionen- und ein Regionenkon- flikt. Im dritten Kapitel werden die beiden Konflikte gesondert betrachtet, und mit dem Ziel einer Refunktionalisierung sollen institutionelle Mechanismen auf ihre Tauglichkeit für den Einsatz im Falle des Libanon analysiert werden. Es werden Quellen wie das t.a↩if-Abkommen4 auf im Libanon diskutierte politische Akkomodationsmechanismen wie politische Säkularisierung und Dezentralisierung untersucht, und libanesische Stimmen kommen mit Vorschlägen zur Verbesserung der politischen und ökonomischen Missstände zu Wort. Dazu nimmt die Analyse institutioneller Aspekte des schweizerischen Födera- lismus einen zentralen Platz in dieser Arbeit ein. Wie oben angetönt, wird Föderalismus als sehr geeignet erachtet, um gesellschaftliche Pluralität mit staatlicher Einheit zu ver- einen und in stabiler Balance zu halten (Arefaine 2005: 90), je nach Art und Stärke der Spannungen zwischen staatlicher Einheit und gesellschaftlicher Diversität, mehr als „nur“ ein Konsenssystem oder Dezentralisierung, wobei es sich mit Merkmalen dieser Akkomodationsmechanismen auch überschneiden oder decken kann. Es soll untersucht werden, welche Vorteile ein föderalistisches System gegenüber den im Libanon bereits angewandten oder geplanten Akkomodationsmechanismen für eine Refunktionalisierung birgt. Dies geschieht ebenfalls anhand der zwei identifizierten Konfliktkomplexen. Im vierten Kapitel werden die bisher zu Tage gebrachten Ergebnisse noch einmal verdichtet aufgegriffen, um anschliessend auf ihnen aufbauend Hypothesen über die Anwendung eines föderalistischen Systems auf den Libanon und ihre Konsequenzen zu formulieren. Im abschliessenden Kapitel fünf folgen eine kritische Diskussion der Ergebnisse und ein Ausblick.

Die Analyse wird sich aus zwei Gründen hauptsächlich auf institutionelle Merkmale be- schränken: Erstens sind Institutionen das Gerüst des politischen Systems und die pri- mären Mechanismen der Interaktion zwischen Staat und Gesellschaft. Sie alleine können noch keine Akkomodation garantieren, aber sie bieten überhaupt die Grundlagen, die eine solche ermöglichen und damit zu politischer Stabilität verhelfen können:

„State institutions provide the pivotal links between those in positions of power and authority and the rest of society. They are the principal mechanisms through which the state communicates with society. It is through these institutions that political actors engage in the act of government, through which the art of politics is played out. Providing the structural buttresses of the political system, they are central to its political stability or vulnerability“ (Kamrava 1996: 37f.).

Und zweitens sind institutionelle Merkmale einfacher einer Funktionsanalyse unterzieh- bar als beispielsweise Politikprozesse, was im Rahmen einer Bachelorarbeit sinnvoll er- scheint. Das schweizerische Politiksystem wurde deshalb als Modell ausgewählt, da es die Verbindung von gesellschaftlicher Diversität und staatlicher Einheit trotz vieler Kon- fliktlinien schaffen konnte - wenn auch nicht gänzlich konfliktfrei. Aber es bewährte sich bei der Integration verschiedener Gesellschaften und bei der Bewältigung von sozialen Ungleichheiten durch die Kombination von Demokratie, Föderalismus und Proporz in einem System der Machtteilung (Linder 1994: 36). Natürlich kann die schweizerische Art der Konfliktlösung nicht einfach aus ihrem Umfeld heraus auf eine andere Situation über- tragen werden. Dem soll der Ansatz der Funktionsanalyse entgegen wirken, indem durch eine funktionale Analyse nach strukturellen Merkmale gesucht wird, die auf die Situation des Libanon passen und eine Konfliktlösung ermöglichen - möglichst ohne Wertkategorien übertragen zu wollen, sondern eher im folgenden Sinne:

„The lesson is certainly not: do it like the Swiss, and everything will be fine. Rather: study the history and the institutions of Switzerland, adopt what seems to work and avoid the many pitfalls“ Jürg Steiner5 in: Linder (1994: xii).

Zudem bietet sich das schweizerische Politiksystem wegen der reichhaltigen Literatur, die darüber verfasst worden ist, für einen einfachen Zugang an. Dennoch soll eine Partikularisierung oder Überhöhung des Schweizer Systems hier keineswegs stattfinden, und in einer Arbeit grösseren Umfangs müssten auch andere Formen föderalistischer Systeme und ihre Akkomodationsmechanismen berücksichtigt werden.

Die Transkription arabischer Textstellen wurde auf der Grundlage der Umschriftregeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft vorgenommen. Ausgenommen davon sind bereits in den deutschen Gebrauchswortschatz übergegangene Namen und Begriffe wie Schiiten oder Hisbollah, welche in Wörterbüchern zu finden sind; in diesem Fall kommt die Duden-Schreibweise zur Anwendung. Aus stilistischen Gründen wird bei einem No- men agentis oder bei menschlichen Kollektiva jeweils nur das maskuline oder feminine Genus angegeben, ohne damit aber das jeweils andere Genus diskriminieren zu wollen: Ein Ausdruck wie ’Bürger’ oder ’Urnerin’ bezeichnet also in dieser Arbeit immer Angehörige beiden Geschlechts.

2 Die Dysfunktionalisierung des libanesischen Politiksystems

Um ausreichend Raum für die folgende Analyse von Mechanismen zur Refunktionalisie- rung zu lassen, soll hier lediglich ein historischer Abriss des für die Dysfunktionalisierung des libanesischen Politiksystems ausschlaggebenden Ursachenkomplexes erfolgen. Dieser soll chronologisch gegliedert und in vier Hauptursachen für die gegenwärtige innerliba- nesische politische Dysfunktionalität aufgeschlüsselt werden. Als umfassende Überblicks- werke bieten sich zum Zeitraum von 1920 - 1943 Zisser (2000)1 an, Hanf (1990) zur Situa- tion vor und während des Bürgerkriegs und Perthes (1994) für das Ende des Bürgerkriegs, das .a↩if-Abkommen und den Beginn der 90er Jahre. Rosiny (1996) bietet zudem einen guten Überblick des Konflikts aus der Perspektive der libanesischen Schiiten.

Der Libanon entstand in seinen heutigen Grenzen im Jahre 1920 als französisches Man- datsgebiet aus mehreren osmanischen Gebieten: Aus dem mehrheitlich christlich besie- delten Mount Lebanon wurde unter Hinzufügung von Beirut, des nördlichen Distrikts Tripoli, der östlichen biqa↪-Ebene sowie des Südlibanon mit der Hafenstadt Sidon der "Grand Liban". Mit französischer Hilfe, so Perthes, wurde ein konfessionelles politisches System mit maronitisch-christlicher Dominanz etabliert (Perthes 1994: 12). Der Zensus von 1932 kann sicherlich als ein grundlegendes Schlüsselereignis für die Entwicklung des libanesischen Politiksystems aufgefasst werden, da sich darauf in der Folge die Verteilung der Parlamentssitze, höheren Posten staatlicher Institutionen, Verwaltung und der Armee stützen sollte und er die einzige offizielle Volkszählung im Libanon bleiben sollte (Rosiny 1996: 46f.). 1932 bildeten die christlichen Maroniten mit 28,8% die anteilsmässig stärkste Bevölkerungsgruppe. Sunniten machten 22,4%, Schiiten 19,6% aus (Rosiny 1996: 70). Der Zensus von 1932 sollte fortan die Machtteilung im libanesischen Politiksystem bestim- men. Konsolidiert wurde die konfessionelle Machtteilung mit der Unabhängigkeit 1943 und dem Nationalpakt: Die sunnitische Elite wurde als "Juniorpartner"(Perthes 1994: 12) an der Macht beteiligt, Schiiten und kleinere konfessionelle Gruppen wurden von den wichtigsten Machtpositionen ausgeschlossen und diskriminiert (ibid.). Der Nationalpakt, ein ungeschriebenes "gentleman’s agreement"(Hanf 1990: 99) besteht aus gegenseitigen Verzicht- und Garantieerklärungen der Gruppen2, einer Kompromissformulierung über die Identität des Landes und über eine Teilung der Macht zwischen den Religionsge- meinschaften. Die Verbindung von Verfassung, Wahlgesetz und Nationalpakt schufen - zumindest laut Hanf (1990: 100) - ein „eindeutiges Konkordanzsystem“: Seiner Meinung nach wird der Libanon nach 1943 „nie von einer einfachen Mehrheit, sondern immer von einer grossen Koalition regiert; alle grossen Gemeinschaften besitzen de facto ein Vetorecht; Exekutive und Admi- nistration werden nach Art. 95 der Verfassung nach dem Proporz besetzt; Art. 9 und 10 garantieren den Gemeinschaften weitgehende kulturelle Autonomie. Im Rahmen einer auch andere Regierungsformen erlaubenden Vefassung führt daher der Pakt zur Institutionalisierung einer konkordanzdemokratischen Verfassungswirklichkeit: Wichtige Entscheidungen können nicht mit einfacher Mehrheit, sondern nur auf- grund von Kompromiss und Konsens getroffen werden.“ (Hanf 1990: 100f.)

Dieser Beschreibung nach enthielt das libanesische Politiksystem tatsächlich die wich- tigsten Elemente einer Konkordanzdemokratie (Lijphart 1977: 25-44), zumindest de ju- re, denn in der Realität führte die starre Interpretation des Paktes, vor allem was den Konfessionsproporz anbelangt, zu einer Lähmung des politischen Systems: Im Spiel der politischen Interessen wurde der Proporz rigidisiert, und so wurden Staatsämter und Beamtenpositionen immer mehr zu „Erbhöfen“ (Hanf 1990: 101). Jede Versetzung oder Beförderung wurde damit zum konfessionellen Politikum, und die Bindung des Paktes an einen solch starren Proporz engte den Spielraum für die in Konkordanzsystemen erfor- derlichen täglichen Kompromisse erheblich ein (ibid.). Auch Zisser (2000: 63) sieht in der „precise communal balance“ die Ursache für Immobilität oder sogar Lähmung des libane- sischen Politiksystems. Den wichtigsten Nachteil des Konfessionsproporz beziehungsweise seiner Umsetzung sieht er jedoch generell in der mangelnden Flexibilität, sich an neue demographische Verhältnisse anzupassen:

„The basic fact of the pact was that it reflected the balance of power and the pro- portional numerical strength of the communities as of 1943 (beziehungsweise 1932, M.R.). These were bound to change: British and French influence would not remain what it was; the demographic balance could not remain static. The fact that no provisions had been made for the pact to accommodate such changes turned it in- to a time-bomb. [...] Both partners to the pact (Maroniten und Sunniten, M.R.), however, preferred to ignore this aspect"(Zisser 2000: 66).

Die mangelnde Flexibilität des Nationalpaktes wurde dem libanesischen Politiksystem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tatsächlich zum Verhängnis, denn wie Zisser erwähnt, entfernte sich die reale demographische Situation immer mehr von der Pro- porzformel: Der Bevölkerungsanteil der Schiiten stellte bereits 1975 mit 27% die stärkste Gruppe dar und verdoppelte sich nach Schätzungen von knapp 20% im Jahr 1932 auf 40% für 1983 - bei gleichbleibender politischer Repräsentation notabene (Rosiny 1996: 90). Die konfessionelle Benachteiligung einzelner Gemeinschaften ging teilweise mit einer sozioökonomischen einher: „Insbesondere der schiitische Bevölkerungsteil war, von einer kleinen Grossgrundbesitzerschicht abgesehen, weitestgehend unterprivilegiert“ (Perthes 1994: 12). Zur politischen Unterrepräsentation der Schiiten kam also als zweite Hauptur- sache für den Konflikt die Wirkung extremer sozioökonomischer Gegensätze zwischen den Gemeinschaften hinzu (Rosiny 1996: 13). Doch die ökonomische Benachteiligung verlief nicht nur entlang konfessioneller Linien. Periphere Regionen wie der Süden des Libanon oder die biqa↪-Ebene litten ebenfalls unter ungleicher ökonomischer Behandlung. So ent- fielen 1974 auf den Südlibanon, wo 20% der Gesamtbevölkerung lebten, nur gerade 0,7% des Staatsbudgets (Rosiny 1996: 90). Zudem blieb die Forderung nach staatlichem Schutz vor israelischen Übergriffen im Süden durch ausreichende Stationierung der Armee oder die Errichtung von Schutzbunkern ungehört, und die staatliche Planung ignorierte die Siedlungen von Migranten und Flüchtlingen im Süden Beiruts (Rosiny 1996: 91). Im Zuge des Bürgerkriegs zerfiel der libanesische Staat und konnte seinen Aufgaben noch weniger nachkommen. Dieser Verlust von Kontrolle, Autorität und Funktionalität des Staates bot oppositionellen Gruppen wie der Hisbollah die Gelegenheit, vakant gewordene Staatsauf- gaben wie Wasserversorgung, Betrieb von Krankenhäusern oder auch Müllentsorgung zu übernehmen, sogar bis über das Ende des Bürgerkriegs hinaus (Rosiny 1996: 134f.). Für die hauptsächlich im Südlibanon, der biqa↪-Ebene und im Süden Beiruts angesiedelten Schiiten kam so zu der politischen und ökonomischen noch die regionale Diskriminierung hinzu (Rosiny 1996: 92). Die Kombination dieser drei Faktoren entpuppte sich als Zeit- bombe und war schliesslich mit ein Grund für den langen Bürgerkrieg. Auf die tragischen Ereignisse während des Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 kann und soll hier jedoch nicht weiter eingegangen werden. Vielmehr zeigt die politische, sozioökonomische und regiona- le Benachteiligung der Schiiten - ohne andere diskriminierte Minoritäten zu vergessen - sehr deutlich vier Hauptursachen für den Dysfunktionalisierungsprozess auf:

(a) Konfessionalismus und politische Benachteiligung von Gemeinschaften

Ein konfessionelles politisches System, dominiert durch zwei Gemeinschaften, in diesem Fall die Maroniten und Sunniten, wurde unter französischem Einfluss eingesetzt und kon- solidiert. Institutionelle Akkomodationsmechanismen wie die proportionale Repräsenta- tion wurden zur Machterhaltung missbraucht und rigidisiert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veränderte sich die demographische Situation, sodass sich hinsichtlich der Proporzformel eine massive Unterrepräsentation einzelner Gemeinschaften, insbesondere der Schiiten, einstellte.

(b) Sozioökonomische Benachteiligung von Gemeinschaften

Eng mit der politischen Benachteiligung war auch im libanesischen Fall eine sozioöko- nomische Benachteiligung von Gemeinschaften verbunden. Christliche Bewerber wurden beispielsweise bei ihrer Einstellung in höhere Positionen der bis in die 1960er Jahre noch frankophonen Verwaltung bevorzugt, da sie als (die überwiegende Mehrheit der) Ab- solventen der französischsprachigen - und bis dato im Libanon einzigen - juristischen Fakultät der christlichen Université St. Joseph über bessere Voraussetzungen verfügten (Rosiny 1996: 51f.).

(c) Politische Benachteiligung von peripheren Regionen

Zur regionalen politischen Benachteiligung zählen die Nichterfüllung staatlicher Aufgaben wie Bereitstellung der Infrastruktur oder Schutz der Bevölkerung, ein Problem, dass bis heute ungelöst bleibt, wie im Zuge des letzten Krieges auf libanesischem Territorium zu beobachten war. Mit der Nichterfüllung von Staatsaufgaben ging, insbesondere während des Bürgerkriegs, ein Verlust staatlicher Autorität über periphere Gebiete einher.

(d) Sozioökonomische Benachteiligung von peripheren Regionen

Periphere Regionen wie der Südlibanon oder die Bekaa-Ebene wurden zudem auch sozioökonomisch benachteiligt durch einen bescheidenen Mitteltransfer vom Zentralstaat in periphere Regionen. Im Falle der Schiiten traf diese Benachteiligung auch auf eine Gemeinschaft zu, was zeigt, dass eine Trennung von Regionen und Gemeinschaften nie ganz scharf vorgenommen werden kann.

Die vier Konfliktursachen (a) bis (d) können unter dem Gesichtspunkt, wer beziehungs- weise was benachteiligt wird, zu zwei Teilkomplexen zusammengefasst werden: Einerseits ergibt sich so ein konfessioneller Konflikt durch die politische und sozioökonomische Be- nachteiligung einzelner Gemeinschaften, und andererseits ein Zentrum-Peripherie-Konflikt durch die politische, sozioökonomische und ökonomische Benachteiligung und Vernachläs- sigung peripherer Regionen in einem Zentralstaat.

[...]


1 In der vorliegenden Arbeit werden „Diversität“ und „Pluralität“ als Synonyme verwendet und aus rein stilistischen Gründen eingesetzt, um denselben Inhalt, nämlich gesellschaftliche Heterogenität ethni- scher, linguistischer, religiöser oder anderer Art, auszudrücken. Pluralismus wird hingegen nicht durch Synonyme ersetzt und im geläufigen Sinne als Attribut für vielgliedrige, nicht-monistische politische Ordnungen, welche politische Beteiligung und Repräsentation aller Bürger, offene und friedliche Kon- fliktaustragung sowie Konsensbildung zwischen divergierenden Interessen zum Ziel haben, verwendet (Schmidt 1995: 723).

2 Mit ’Politiksystem’ oder ’politischem System’ ist hier die Gesamtheit aller staatlichen Institutionen (polities), der Mechanismen innerhalb der Institutionen, der politischen Verfahren und Prozesse (poli- tics) gemeint. Im Folgenden wird der Begriff anstelle des wie oben angesprochen teilweise inadäquaten und zudem zu eng gefassten Begriff des Staates verwendet.

3 Als zentrale Mechanismen der Konsensdemokratie können die Proportionalität als politisches Reprä- sentationsprinzip, die Koalitions- statt Einparteienregierung und das gegenseitige Vetorecht genannt werden (Arefaine 2005: 73f.), vgl. Lijphart (1977). Im Gegensatz zur Konsensdemokratie steht die für plurale Gesellschaften als ungeeignet angesehene Majorzdemokratie (Arefaine 2005: 7), welche in ein „Diktat der Mehrheit“ (Linder 2005: 372) umschlagen kann und dem Anspruch der Akkomodation nicht gerecht wird.

4 „i..ifaq a.-.a↩if “, abrufbar unter www.lp.gov.lb/taef/default.htm

5 Prof. Jürg Steiner lehrt vergleichende Politikwissenschaft an der University of North Carolina, Chapel Hill, an der Universität Bern und am European University Institute in Florenz.

1 Zisser bietet mit seiner Einleitung ebenfalls einen informativen Kurzüberblick über die Geschichte des Gebietes des heutigen Libanons seit dem 16. Jahrhundert (Zisser 2000: 1-21).

2 Die Christen verzichten darauf, die Protektion westlicher Mächte zu suchen, die Muslime hingegen auf einen Anschluss an Syrien oder an eine arabische Union; der Libanon soll völlig unabhängig sein (Hanf 1990: 99).

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Föderalismus im Libanon. Ein Weg zum Pluralismus?
Hochschule
Universität Bern  (Islamwissenschaftliches Institut)
Note
summa cum laude
Autor
Jahr
2006
Seiten
36
Katalognummer
V77639
ISBN (eBook)
9783638780568
ISBN (Buch)
9783638780155
Dateigröße
812 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Föderalismus, Libanon, Pluralismus
Arbeit zitieren
B.A. Marius Rohrer (Autor:in), 2006, Föderalismus im Libanon. Ein Weg zum Pluralismus?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77639

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