Popkultur als Ersatzführer in Peter Handkes "Der kurze Brief zum langen Abschied"

Wie amerikanische Popkultur dem Erzähler zur erfolgreichen Vergangenheitsbewältigung verhilft


Seminararbeit, 2007

23 Seiten, Note: B+


Leseprobe


“Everybody has their own America, and then they have pieces of a fantasy America that they think is out there but they can’t see. When I was little, I never left Pennsylvania, and I used to have fantasies about things that I thought were happening in the Midwest, or down South, or in Texas, that I felt I was missing out on. But you can only live in one place at a time. And your own life while it’s happening to you never has an atmosphere until it’s a memory. So the fantasy corners of America seem so atmospheric because you’ve pieced them together from scenes in movies and music and lines from books. And you live in your dream America that you’ve custom-made from art and schmaltz and emotions just as much as you live in your real one.[1]

In Peter Handkes Der kurze Brief zum langen Abschied reist sein Hauptcharakter durch Amerika. Seine Reise beginnt in Providence, führt durch New York, Pittsburgh, St. Louis und Tucson nach Oregon und schließlich Hollywood in Kalifornien. Hollywood ist das unumstrittene Mekka der Popkultur.

Der Hauptcharakter macht diesbezüglich auf seiner Reise durch Amerika immer wieder Referenzen zu Sachen die er in Filmen schon gesehen oder in Büchern schon von gelesen hat. Dazu gehören Hotels, wie das Hotel Delmonico in Philadelphia oder das Hotel Algaquin in New York, dass er aus dem großen Gatsby kennt (17). Als er in Tucson landet, glaubt er nichts Neues sehen zu können, dass er nicht schon von Filmen kennt (163). Auch ein richtiger Kaktus interessiert ihn nicht, denn er hat schon die Abbildung eines solchen auf einer Tequillaflasche in Providence gesehen.

Der Hauptcharakter scheint also schon in Bildern zu denken. Schon vor seiner Ankunft hat er die Vorstellung zu wissen was Amerika eigentlich ist, denn er hat Amerika schon durch Popkultur kennen gelernt. Dies ist seine zweite Amerikareise. Zu Claire sagt er über seine erste Reise: „Als ich zum ersten Mal hier war, wollte ich nur Bilder sehen. Tankstellen, gelbe Taxis, Autokinos, Reklametafeln, Highways, den Greyhound-Autobus, ein Bus-Stop-Schild an der Landstrasse, die Santa-Fé-Eisenbahn, die Wüste (86)“. Kurz gesagt, er wollte alle diese Gegenstände wirklich sehen, die von Europäern als typisch amerikanisch angesehen werden und in den amerikanischen Filmen vorkommen. Auf seiner zweiten Reise will er nun die Menschen kennen lernen und nicht nur Popkultur. Mit der Erwähnung und Beschreibung des Holiday Inn Zeichens, John Ford Western und Amerika typischen Getränken wie Root Beer,...stellt Handke gleich eine Verbindung zwischen dem Leser und dem mythischen Amerika dar.

Heinz Osterle und Winfried Fluck sprechen beide vom amerikanischen Mythos. Für beide Autoren gibt es zwei Amerikas:

One is the territory that we call the United States, which has a distinctive economic and social structure; the other is an imaginary, deterritorialized space that is filled with a selection of objects of choice, evoking strong fascination or disgust. This America is an America of the mind, whose protean, chameleon-like shape constantly changes according to different collective and individual needs (Fluck 28).

Andy Warhol spricht ebenfalls davon wie jeder sich sein eigenes Amerika konstruiert. Amerika, schon seiner Größe wegen, bietet sich regelrecht für diese Konstruktionen an. Andy Warhols Eltern waren ebenfalls Einwanderer aus Osteuropa, Slowenien, und somit fühlte Andy sich auch als Außenseiter. Er entwickelte ein starkes Verlangen danach dazu zugehören und entwickelte eine Faszination für alles was amerikanisch war. Durch das Eintauchen in die amerikanische Kultur fühlte er sich mehr dazugehörig. Ich glaube, dass Handke dem Leser bekannte amerikanische Symbole, wie das Holiday Inn Schild, benutzt um damit beim Leser ein Zugehörigkeitsgefühl erzeugt, damit er sich leichter einliest und sich gedanklich ins mythische Amerika transportiert.

Dann gibt es ein zweites prägnantes Thema, dass ich behandeln möchte. Das ist die immer wieder kehrende Vergangenheit. In diesem Fall ist es Österreichs Vergangenheit. Direkt auf der ersten Seite des Textes kommt eine Schreckenserinnerung von Österreich im Erzähler hoch. Diese Kindheitserinnerung folgt nachdem der Hauptcharakter einen Brief, eine Schreckensmeldung in Gewisserweise, von seiner Frau Judith erhalten hat. Dies ruft eine unterdrückte Kindheitserinnerung vom zweiten Weltkrieg und amerikanischen Bombern hoch. Im Verstand und den Erinnerungen des Hauptcharakters sind der zweite Weltkrieg und Amerika miteinander verknüpft. Dies ist einer der Gründe warum Erinnerungen der Kindheit nun in Amerika wieder in Erscheinung treten.

In Österreich selbst kann der Hauptcharakter seine Vergangenheit und die seines Landes, die ihn unbewusst beeinflusst, nicht bewältigen, denn das Klima/die allgemeine Einstellung der Menschen ist noch nicht weit genug. Ein Beweis dafür liefert das Telefongespräch mit seiner Mutter. In diesem Gespräch sieht man, dass die Vorurteile der Nazizeit noch vorhanden sind. Ein Politiker wurde nicht wieder ins Amt gewählt, da man ihm unterstellte ein alter Nazi oder ein Jude zu sein. Juden sollen also immer noch nicht wieder in Ämter gewählt werden, aber an die Nazis will man auch nicht erinnert werden (179).

Das Klima von Gewalt liegt noch in der Luft, was bei ihm dazu führt, dass er seiner Frau gegenüber gewalttätig wird und sie schlägt und sogar auf offener Strasse würgt. Doch er gibt diese Misshandlungen nicht direkt zu. Zuerst spricht er nur davon, dass ihm die Hand aufgerutscht ist. Es hört sich wie ein Unfall an. Im Laufe des Buches steigern sich diese Geständnisse dann dazu, dass er zugibt Angst davor gehabt zu haben, dass er Judith irgendwann totschlägt und sie auf offener Strasse gewürgt zu haben.

Handkes Hauptcharakter schafft es allerdings nicht eigenständig über seine Gefühle und seine Kindheit zu reflektieren; er braucht immer einen Denkanstoss. Dieser Denkanstoss kommt in Form von Büchern wie „der große Gatsby“ oder „der grüne Heinrich“, in Filmen wie „Tarzan“, „Iron Horse“ und „Young Mr Lincoln“, in amerikanischen Sängern wie Otis Redding und Al Wilson, und in Sachen und Personen, wie der Soldat, denen er unterwegs begegnet. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass jeder dieser Personen oder Ikonen eine gewisse Tragik unterliegt, auf die ich im späteren Verlauf meines Papers eingehen möchte.

Es scheint also eine Verbindung zwischen Vergangenheit und gewärtiger Popkultur zu bestehen. Meine These ist, dass Popkultur nach dem verlorenen Krieg zu einer Ersatzführerfigur wurde und somit den Menschen eine alternative Gegenwart bot. Ich werde dabei auch auf Forschungen von Rentschler eingehen, die genauere Gründe für eine Verschiebung dieser Art bieten. Ich werde auch demonstrieren warum die Deutschen und Österreicher gerade wegen ihrer NS Erziehung besonders anfällig für diese neue Kultur waren. Doch ist Popkultur nicht nur präsent in Der kurze Brief zum langen Abschied, sondern der Hauptcharakter entwickelt sich durch das Auseinandersetzen mit der Popkultur weiter und schafft es durch die unbewusste Auseinandersetzung, d.h. das Ansehen von Filmen und lesen, sich im Endeffekt mit seiner Vergangenheit auseinander zusetzen. Popkultur ist demnach etwas Gutes, da es ihm durch den Prozess hilft. Doch in der letzten Szene mit John Ford, wie auch schon in der Begegnung mit dem Liebespaar, wird eine Kritik an Popkultur deutlich, denn John Ford kann zwischen Realität und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden und das Liebespaar hat in ihrem Konsumdurst jegliche Individualität verloren.

Popkultur kam nicht erst nach dem Krieg nach Deutschland, sondern schlich sich schon Anfang des Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum ein. Nach dem Krieg nahm die amerikanische Kultur dann allerdings eine neue Rolle an. Eric Rentschler drückt es in seinem Essay “How American Is It? The U.S. as Image and Imaginary in German film” folgendermassen aus: „American film- and its popular culture in general- filled a very real gap in the fledging democracy, serving as an ersatz homeland for youth growing up in the fifties, the future of young filmmakers.[2] Und diese zukünftigen Filmemacher lernten ihr Handwerk von diesen Filmen und halfen bei der Entwicklung einer amerikanisch beeinflussten deutschen Popkultur, was ich an einer späteren Stelle diskutieren werde.

Die „Ersatzführerfigur“, wie auch Renschtlers Begriff des Ersatzvaterlandes, sind natürlich stark vorbeladene Wörter und können nicht einfach ohne weiteren Kommentar in den Raum gestellt werden. Ich glaube, dass Rentschler vom Ersatzvaterland spricht, da den Deutschen nach dem verlorenen Krieg das Vaterland emotional geraubt wurde. Nach dem Krieg war die Scham so groß, dass man sich fühlte, als ob man das eigene Land nicht mehr lieben könnte. Dann bestand die Angst was werden könnte, wenn man noch mal zu patriotisch würde.

Wenn ein Deutscher oder Europäer das Wort Führer hört, denkt er natürlich sofort an Adolf Hitler, der sich diesen Terminus zu Eigen gemacht hat. Ich verstehe den Begriff folgendermaßen: Der Führer war jemand, der die Menschen aus der Armut der spätzwanziger Jahre heraus in eine ökonomisch bessere Lage führte. Er bot eine Identifikationsfigur und Vaterfigur für ein Land, das sich nach dem Verlust des Kaisers vaterlos fühlte. Diese Rolle wird nach dem zweiten Weltkrieg von amerikanischer Popkultur übernommen. Dann führte der Führer seine Anhänger ins Verderben um es milde auszudrücken. Zum einen ist es natürlich ein Begriff der einem direkt ins Auge sticht, zum anderen ist es eine treffende Bezeichnung, wie ich im nächsten Paragraph zeigen werde, da ohne den Nazi-Hintergrund die Faszination mit der Popkultur vielleicht nicht so ausgiebig wäre. Die Naziära bereitete die Menschen regelrecht auf die Popkulturwelle der fünfziger Jahre vor.

[...]


[1] Andy Warhol, America, 1985

[2] Rentschler 605.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Popkultur als Ersatzführer in Peter Handkes "Der kurze Brief zum langen Abschied"
Untertitel
Wie amerikanische Popkultur dem Erzähler zur erfolgreichen Vergangenheitsbewältigung verhilft
Hochschule
The University of Utah
Note
B+
Autor
Jahr
2007
Seiten
23
Katalognummer
V77843
ISBN (eBook)
9783638833363
ISBN (Buch)
9783638833356
Dateigröße
457 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Popkultur, Ersatzführer, Peter, Handkes, Brief, Abschied
Arbeit zitieren
Melanie Kirkham (Autor:in), 2007, Popkultur als Ersatzführer in Peter Handkes "Der kurze Brief zum langen Abschied", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77843

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