Pädagogische Förderung im Wahrnehmungs- und Bewegungsbereich findet überwiegend im Kindes- und Jugendalter statt. Aus psychologischer oder bewegungswissenschaftlicher Sicht wird auch heute noch im allgemeinen davon ausgegangen, dass es zeitlich begrenzte sensible Lebensphasen für bestimmte inhaltliche Lernprozesse gibt. Die Aufgabe der Pädagogik liegt hierbei darin, diese Phasen für Erziehungs-, Bildungs- und Förderprozesse im Hinblick eines zugrundeliegenden Menschenbildes, auf das hin erzogen werden soll, möglichst effektiv (hinsichtlich Funktions- und Leistungstüchtigkeit eines Menschen in unserer Gesellschaft) zu nutzen. Eine kritische Betrachtung solcher möglicher pädagogischer Leitbilder mündet in die Frage der anthropologischen Bestimmung des Menschen, von wo aus sich dann lebensalterdeterminierte Entwicklungs- und Lernprozesse weder verstehen noch legitimieren lassen. Unter dem Aspekt einer lebenslangen Entwicklung, der hier in dieser Arbeit expliziert werden soll, stellt sich die Frage, inwieweit auch Menschen im (jungen) Erwachsenenalter pädagogischer Unterstützung bedürfen, und ob pädagogische Förderung im Wahrnehmungs- und Bewegungsbereich unabhängig vom Lebensalter möglich und z.T. auch notwendig ist.
Der Bereich der Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung als spezielle Form pädagogischen Handelns, seine Zielsetzungen, methodischen Umsetzungen in der Praxis sowie ausgewählten Handlungsfelder basieren auf bestimmten handlungsleitenden Vorannahmen. Diese gründen zunächst auf einer bestimmten Sicht der Wirklichkeit, d.h. auf einer zugrundeliegenden Perspektive, aus der heraus wir uns selbst und unsere Umwelt wahrnehmen, erleben und erfahren, bestimmte Werte und damit verbundene Zielsetzungen entwickeln, und die innerhalb unseres pädagogischen Aufgabenfeldes handlungsleitend wirksam wird.
Die in der Heil- und Sonderpädagogik traditionelle individuumszentrierte und defizitorientierte Sicht, innerhalb derer sich Förderung als fremdbestimmte Behebung oder Reduktion von Mängeln hinsichtlich gesellschaftlicher Einpassung auf der Basis entsprechender Wertmaßstäbe verstehen lässt, soll in Kap. 2 im Hinblick auf einen Paradigmenwechsel kurz erörtert werden und darauf aufbauend in Kap. 3
eine systemisch-konstruktivistische Sichtweise für pädagogisches Handeln - und hier im speziellen für Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung - zugrundegelegt werden.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Paradigmenwechsel in der Heil- und Sonderpädagogik
- 3. Grundlagen eines systemisch-konstruktivistischen Ansatzes
- 3.1 Grundbegriffe
- 3.2 Systemtheoretische Ansätze
- 3.2.1 Theorie autopoietischer Systeme (Maturana/Varela)
- 3.2.2 Theorie sozialer Systeme (Luhmann)
- 3.2.3 Systemisch-ökologische Pädagogik
- 4. Förderung aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive
- 4.1 Anthropologische Voraussetzungen
- 4.2 Entwicklung und Lernen als lebenslange Prozesse
- 4.2.1 Entwicklungstheoretische Ansätze
- 4.2.2 Systemisches Verständnis von Lernen und Bildung
- 4.3 Förderung im jungen Erwachsenenalter als Unterstützung in besonderen Lebenslagen
- 5. Wahrnehmung und Bewegung als System
- 6. Junge Erwachsene mit spina bifida
- 6.1 Die Rolle des Systems Wahrnehmung und Bewegung bei von spina bifida betroffenen Erwachsenen
- 6.1.1 Exemplarische Fallgeschichte einer 25-jährigen Frau
- 7. Pädagogische Förderung im Wahrnehmungs- und Bewegungsbereich bei jungen Erwachsenen mit spina bifida
- 7.1 Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung unter Berücksichtigung spezieller Erfordernisse
- 7.1.1 Konzept der Über- und Unterfunktion eines Systems (SIMON)
- 7.1.2 Handlungsprämissen einer systemorientierten Förderung
- 7.1.3 Pädagogische Handlungsfelder
- 7.1 Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung unter Berücksichtigung spezieller Erfordernisse
- 8. Grenzen und Möglichkeiten einer systemisch-konstruktivistisch orientierten Förderung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung bei jungen Erwachsenen mit Spina Bifida aus systemisch-konstruktivistischer Sicht. Ziel ist es, die Notwendigkeit und Möglichkeiten pädagogischer Unterstützung im jungen Erwachsenenalter zu beleuchten und handlungsorientierte Ansätze zu entwickeln, die über ein traditionelles defizitorientiertes Verständnis hinausgehen.
- Paradigmenwechsel in der Heil- und Sonderpädagogik
- Systemisch-konstruktivistischer Ansatz zur Förderung
- Lebenslanges Lernen und Entwicklung
- Wahrnehmung und Bewegung als System
- Pädagogische Handlungsfelder bei Spina Bifida
Zusammenfassung der Kapitel
1. Einleitung: Die Einleitung stellt die zentrale Forschungsfrage nach der Notwendigkeit und Möglichkeit pädagogischer Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung im jungen Erwachsenenalter in den Mittelpunkt. Sie kritisiert traditionelle Ansätze, die Lernen und Entwicklung an zeitlich begrenzte Phasen koppeln und führt die systemisch-konstruktivistische Perspektive als Grundlage der Arbeit ein. Der Fokus liegt auf der Entwicklung einer lebenslangen Förderung, losgelöst von altersdeterminierten Entwicklungsmodellen.
2. Paradigmenwechsel in der Heil- und Sonderpädagogik: Dieses Kapitel beschreibt den Wandel von einem individuumszentrierten und defizitorientierten Verständnis von Pädagogik hin zu einem systemisch-konstruktivistischen Ansatz. Es werden die Grenzen des traditionellen Modells aufgezeigt, das Förderung primär als Kompensation von Mängeln versteht. Der Paradigmenwechsel beinhaltet die Umstellung vom Defizit- hin zum Ressourcenorientierten Ansatz.
3. Grundlagen eines systemisch-konstruktivistischen Ansatzes: Dieses Kapitel legt die theoretischen Grundlagen der Arbeit dar. Es erklärt grundlegende Begriffe des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes und diskutiert verschiedene systemtheoretische Ansätze wie die Theorie autopoietischer Systeme (Maturana/Varela), die Theorie sozialer Systeme (Luhmann) und die systemisch-ökologische Pädagogik. Diese dienen als theoretische Basis für den konstruktivistischen Ansatz der Bewegungs- und Wahrnehmungsförderung.
4. Förderung aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive: Dieses Kapitel entwickelt den Begriff der Förderung als lebenslangen Prozess. Es verknüpft Entwicklung und Lernen als kontinuierliche Prozesse und diskutiert die Implikationen für pädagogisches Handeln im jungen Erwachsenenalter. Es wird argumentiert, dass Förderung auch in diesem Lebensabschnitt notwendig und möglich ist, und zwar als unterstützende Begleitung in besonderen Lebenslagen.
5. Wahrnehmung und Bewegung als System: In diesem Kapitel wird der Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Bewegung als interagierende Systeme beschrieben. Es geht um die Konstruktion von Wirklichkeit durch subjektive und kollektive Kognitionsprozesse und zeigt, wie Wahrnehmung und Bewegung als Subsysteme zur Konstruktion der inneren und äußeren Realität beitragen. Die Interaktion der Systeme wird ausführlich erläutert.
6. Junge Erwachsene mit spina bifida: Dieses Kapitel fokussiert auf die Herausforderungen und Möglichkeiten der Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung bei jungen Erwachsenen mit Spina Bifida. Die Fallgeschichte einer jungen Frau veranschaulicht die Bedeutung der Förderung in dieser Lebenssituation und dient als exemplarischer Fall zur Veranschaulichung der theoretischen Annahmen. Es wird der Einfluss von Spina Bifida auf die Wahrnehmung und Bewegung dargestellt.
7. Pädagogische Förderung im Wahrnehmungs- und Bewegungsbereich bei jungen Erwachsenen mit spina bifida: Dieses Kapitel präsentiert praxisbezogene Handlungsorientierungen für die pädagogische Förderung. Es verwendet das Konzept der Über- und Unterfunktion (SIMON) als Grundlage und entwickelt Handlungsfelder für eine systemorientierte Förderung, die den Ressourcen der Betroffenen Rechnung trägt anstatt sich auf Defizite zu konzentrieren. Der Fokus liegt auf der praktischen Umsetzung der vorherigen theoretischen Grundlagen.
8. Grenzen und Möglichkeiten einer systemisch-konstruktivistisch orientierten Förderung: Dieses Kapitel reflektiert den Stellenwert einer systemisch-konstruktivistisch orientierten Förderung und diskutiert mögliche vernachlässigte pädagogische Aspekte sowie neue Perspektiven und Fragestellungen, die sich aus diesem Ansatz ergeben. Es bildet den Abschluss der Arbeit mit einer Reflexion über die Grenzen und Möglichkeiten des gewählten Ansatzes.
Schlüsselwörter
Spina bifida, Wahrnehmungsförderung, Bewegungsförderung, systemisch-konstruktivistischer Ansatz, junge Erwachsene, lebenslanges Lernen, Entwicklung, Pädagogik, Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Handlungsfeld, Ressourcenorientierung, Über- und Unterfunktion (SIMON), Systemtheorie, Autopoiesis, soziale Systeme.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zu: Systemisch-konstruktivistische Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung bei jungen Erwachsenen mit Spina Bifida
Was ist der Gegenstand dieser Arbeit?
Diese Arbeit untersucht die Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung bei jungen Erwachsenen mit Spina Bifida aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive. Ziel ist es, die Notwendigkeit und Möglichkeiten pädagogischer Unterstützung im jungen Erwachsenenalter zu beleuchten und handlungsorientierte Ansätze zu entwickeln, die über ein traditionelles defizitorientiertes Verständnis hinausgehen.
Welche theoretischen Grundlagen werden verwendet?
Die Arbeit basiert auf einem systemisch-konstruktivistischen Ansatz. Es werden verschiedene systemtheoretische Ansätze diskutiert, darunter die Theorie autopoietischer Systeme (Maturana/Varela), die Theorie sozialer Systeme (Luhmann) und die systemisch-ökologische Pädagogik. Diese dienen als theoretische Basis für den konstruktivistischen Ansatz der Bewegungs- und Wahrnehmungsförderung. Das Konzept der Über- und Unterfunktion (SIMON) spielt ebenfalls eine wichtige Rolle.
Welche Kapitel umfasst die Arbeit?
Die Arbeit gliedert sich in acht Kapitel: Einleitung, Paradigmenwechsel in der Heil- und Sonderpädagogik, Grundlagen eines systemisch-konstruktivistischen Ansatzes, Förderung aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive, Wahrnehmung und Bewegung als System, Junge Erwachsene mit Spina Bifida, Pädagogische Förderung im Wahrnehmungs- und Bewegungsbereich bei jungen Erwachsenen mit Spina Bifida und Grenzen und Möglichkeiten einer systemisch-konstruktivistisch orientierten Förderung.
Was ist der Paradigmenwechsel in der Heil- und Sonderpädagogik?
Die Arbeit beschreibt den Wandel von einem individuumszentrierten und defizitorientierten Verständnis von Pädagogik hin zu einem systemisch-konstruktivistischen Ansatz. Es werden die Grenzen des traditionellen Modells aufgezeigt, das Förderung primär als Kompensation von Mängeln versteht. Der Paradigmenwechsel beinhaltet die Umstellung vom Defizit- hin zum Ressourcenorientierten Ansatz.
Wie wird Förderung im systemisch-konstruktivistischen Ansatz verstanden?
Förderung wird als lebenslanger Prozess verstanden, der Entwicklung und Lernen als kontinuierliche Prozesse verknüpft. Es wird argumentiert, dass Förderung auch im jungen Erwachsenenalter notwendig und möglich ist, und zwar als unterstützende Begleitung in besonderen Lebenslagen.
Welche Rolle spielt Spina Bifida in dieser Arbeit?
Die Arbeit fokussiert auf die Herausforderungen und Möglichkeiten der Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung bei jungen Erwachsenen mit Spina Bifida. Eine exemplarische Fallgeschichte einer jungen Frau veranschaulicht die Bedeutung der Förderung in dieser Lebenssituation.
Welche praktischen Handlungsorientierungen werden angeboten?
Das Kapitel zur pädagogischen Förderung präsentiert praxisbezogene Handlungsorientierungen, basierend auf dem Konzept der Über- und Unterfunktion (SIMON). Es entwickelt Handlungsfelder für eine systemorientierte Förderung, die die Ressourcen der Betroffenen berücksichtigt und sich nicht nur auf Defizite konzentriert.
Welche Grenzen und Möglichkeiten werden diskutiert?
Das letzte Kapitel reflektiert den Stellenwert einer systemisch-konstruktivistisch orientierten Förderung und diskutiert mögliche vernachlässigte pädagogische Aspekte sowie neue Perspektiven und Fragestellungen, die sich aus diesem Ansatz ergeben. Es bietet eine Reflexion über die Grenzen und Möglichkeiten des gewählten Ansatzes.
Welche Schlüsselwörter sind relevant?
Relevante Schlüsselwörter sind: Spina bifida, Wahrnehmungsförderung, Bewegungsförderung, systemisch-konstruktivistischer Ansatz, junge Erwachsene, lebenslanges Lernen, Entwicklung, Pädagogik, Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Handlungsfeld, Ressourcenorientierung, Über- und Unterfunktion (SIMON), Systemtheorie, Autopoiesis, soziale Systeme.
- Quote paper
- Sabine Stieglitz (Author), 2005, Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung bei jungen Erwachsenen mit spina bifida aus systemisch-konstruktivistischer Sicht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78325