Claude Monet: Die Europabrücke am Bahnhof Saint-Lazare - eine analytische Betrachtung zeittypischer Phänomene


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2002

23 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Claude Monet: Die Europabrücke am Bahnhof Saint-Lazare
1. Das Motiv
Vordergrund:
Mittelgrund:
Hintergrund:
2. Inwieweit ist die dargestellte Situation charakteristisch für das Zeitgeschehen des 19. Jahrhunderts ?
3. Erzählte Zeit (Die Zeit der Handlung)
4. Die Darstellungsart
5. Die verdichtete Zeit
6. Resümee
Abgekürzt zitierte Literatur

Claude Monet: Die Europabrücke am Bahnhof Saint-Lazare

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Claude Monet: Die Europabrücke am Bahnhof Saint-Lazare, 1877, 64 mal 81 Zentimeter, Paris, Musée Marmottan

Dieses Bild ist Bestandteil einer mehrteiligen Serie, die um 1876/77 in Paris angefertigt wurde. Mit den Ansichten von Saint-Lazare hatte sich Monet erstmals der seriellen Darstellungsweise zugewandt. Die Bahnhofsserie von Saint-Lazare kann somit als Wegbereiterin für Monets spätere Bilderzyklen angesehen werden, in denen ab 1890 ein Motiv mehrfach variiert und von einem nahezu identischen Standort aus und bei verschiedenen Tageszeiten und Lichtverhältnissen wiedergegeben wird.

Von den insgesamt zwölf erhaltenen Bahnhofsbildern lassen sich je nach Standort Untergruppen bilden, die zum einen den Innenbereich des Bahnhofs zeigen und zum anderen den Außenbereich.

1. Das Motiv

Dieses Bild, das seinen Titel der Europabrücke verdankt, die sich über den Gleisanlagen in einem diagonalen Verlauf vom rechten oberen Bildrand in den Mittelgrund drängt, zeigt den Außenbereich des Bahnhofs Saint-Lazare.

Vordergrund:

Dicke Rauchschwaden steigen von der unteren Begrenzung des Bildes bis in das obere Bilddrittel auf; teils sind sie im Begriff sich aufzulösen, so dass sie sich wie ein Firnis über das Geschehen legen und die Topographie der Bahnhofsanlage durchscheinen lassen, teils sind sie undurchdringlich und verhüllen die hinter ihnen liegenden Gegebenheiten vollständig.

In der Lokomotive am linken unteren Bildrand erkennt man die Verursacherin dieser Rauchwolken. Die Lokomotive ist im Anschnitt gegeben, sichtbar ist nur ihr vorderer Teil mit dem dampfumhüllten Schornstein. Vor ihr stehen zwei Männer. Diese nur schemenhaft ausgeführten Figuren sind einander zugewandt und offenbar in ein Gespräch verwickelt. Von der Lokomotive ausgehend, verlaufen Gleise zum rechten Bildrand, wo sie fast vollständig von einer dicken Rauchwolke verdeckt werden. Die Gleise sind ebenfalls nur schemenhaft gegeben, mehr skizziert als sorgfältig ausgearbeitet, heben sie sich als schwarzgraue Linien von dem erdigen Farbton des Untergrundes ab.

Mittelgrund:

Der Mittelgrundbereich wird von der bildeinwärts nach links verlaufenden Brückenanlage dominiert. Diese Brücke, die in einem diagonalen Verlauf vom oberen rechten Bildrand auf die gegenüberliegende Häuserfront abzielt, gibt dem Bild etwas Bedrohliches. Sie wirkt wie eine Barriere, die den Betrachter, dessen Standort mitten im Geschehen zwischen den Schienen angesiedelt ist, einzwängt und beinahe zu erdrücken scheint: Links sieht er die Lokomotive, rechts über sich das Gitterwerk der Brückenanlage zur Rue de Rome, einer gigantischen Konstruktion aus Eisen und Stahl. Dazwischen steigen unaufhörlich Rauch- und Dampfwolken auf: Der Betrachter ist umgeben von den Signets des Fortschritts, der mächtiger und bedrohlicher erscheint als Naturgewalten.

In der Bildmitte gibt ein rotes Signalschild darüber Auskunft, dass es sich bei dem Motiv offensichtlich nicht um eine bevorstehende Abfahrt, sondern um das Ende einer Eisenbahnfahrt handelt.

Hintergrund:

Hinter der rauch- und dampfumhüllten Bahnhofsanlage erhebt sich vor einem wolkenverhangenen, gelbgrauen Himmel im linken Bilddrittel eine Häuserfront. Deren flüchtig ausgeführte, ebenfalls gelbgrau gestrichene Fassade bildet einen Kontrast zu dem Anthrazitgrau der Bahnhofshalle. In der Bildmitte setzt ein bildeinwärts nach links verlaufender Häuserblock den diagonalen Richtungsverlauf der Europabrücke fort.

Wenn Monet in Le pont de l’Europe mit der Darstellung der Lokomotive und der Brückenanlage vor dem Hintergrund eines großstädtischen Häuserkomplexes zwar die wesentlichen Merkmale der Metropole Paris in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegeben hat, nämlich Mobilität und Modernität, so scheint es dennoch, als seien Rauch und Dampf das zentrale Motiv dieses Bildes. Herbert schreibt dazu:

„Rauch und Dampf erfüllen die Szene, alles steht unter dynamischem Druck. Die aufsteigenden Dampfwolken gehen optisch in die farbgleiche Himmelszone über, was den Eindruck gleichgerichteter Energie steigert. Die vorn aufsteigenden Fetzen von Dampf und Qualm wirken fast bedrohlich; inmitten des malerischen Aufbruchs ist kein Platz für beschauliche oder anekdotische Schilderung. Wir befinden uns im dampfenden Innern der gewaltigen Stadt, umgeben von Lärm, Rauch, Gestank und Bewegung, in einer Unterwelt, die von der vorhergehenden Generation noch üblicherweise mit der Hölle assoziiert worden wäre.“[1]

Verstärkt wird diese bedrohliche Assoziation noch durch die dramatische Blickführung, mit der uns Monet zwischen tiefliegende Bahngleise versetzt, „so dass uns die Nähe zu dem Bahnhofsbetrieb fast beunruhigt und die Stadt droben um so entfernter erscheinen läßt.“[2]

Auch Küster scheint die Annahme, dass Rauch und Dampf die wesentlichen Aspekte der Bahnhofsserie darstellen, zu teilen. Allerdings sieht er sie weniger bedrohlich als Herbert, denn mit der Serie von Saint-Lazare entstanden nach seinem Dafürhalten „lichtgetränkte Ausblicke auf die Bahngleise, über denen die dunklen Kolosse der Lokomotiven kunstvolle Wolken in den Himmel breiten.“[3]

2. Inwieweit ist die dargestellte Situation charakteristisch für das Zeitgeschehen des 19. Jahrhunderts ?

Das Sinnieren über das 19. Jahrhundert impliziert zwangsläufig die Vorstellung von Fortschrittsdenken und Änderungsdynamik, denn dieses Jahrhundert war - ebenso wie die Renaissance - eine Epoche der Erneuerung: Wissenschaft, Technik, Kunst und Gesellschaft - alles wurde von Grund auf saniert oder erneuert.

Am nachhaltigsten wirkten in diesem Kontext die technischen Errungenschaften. Nicht, weil sie bedeutsamer gewesen wären als die anderer Disziplinen, sondern weil sie eine größere Bandbreite besaßen, eine Wirksamkeit, die das gesamte soziale Spektrum betraf und der sich kaum jemand entziehen konnte. So ist die industrielle Revolution[4], die seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Hand in Hand mit der Mechanisierung des Transportwesens ging, eine wesentliche Erscheinung dieser Epoche, die das Lebensgefühl und den Zeitgeist des 19. Jahrhunderts maßgeblich prägte. Die industrielle Nutzung der Dampfkraft fand erstmals in England statt, und auch die Genese der Eisenbahn ist auf englischen Erfindergeist zurückzuführen.

Die ersten Lokomotiven, die in England zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Eisenbahnzeitalter eingeleitet hatten, wurden von der Bevölkerung noch nicht als autonome Bewegungsapparaturen wahrgenommen. Statt dessen galten sie als auf Räder montierte Dampfmaschinen. Tatsächlich ist diese Bezeichnung nicht ganz unrichtig, denn vom technischen Standpunkt aus gesehen, ist die Lokomotive eine abgewandelte Version der Hochdruckdampfmaschine von Oliver Evans. Diese Maschine, die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entwickelt worden war, bildete den Abschluss und Höhepunkt in der Genese der Dampfmaschinen.[5]

[...]


[1] Herbert 1989,

[2] ebd.,

[3] Küster 1987,

[4] Die industrielle Revolution hatte in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Ein- führung von Maschinen in der englischen Textilindustrie begonnen und dehnte sich auf die Eisenbearbeitung und den Bergbau aus. Sie kulminierte in der Me- chanisierung des Transportwesens im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts.

[5] Dampfmaschinen gibt es seit dem 17.Jahrhundert. Die erste ökonomische Nutzung der Dampfkraft wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts durch Newcomens atmosphärische Dampfmaschine möglich. Diese Maschine wurde im Kohlerevier von Newcastle eingesetzt, um das Was- ser aus den Schächten zu pumpen. 1767 waren bereits 57 dieser Maschinen im Einsatz. 1780 wurden die Newcomen-Maschinen durch die Wattschen Nieder- druck-Dampfmaschinen ersetzt. Die Entwicklung dieser Maschinen stellte insofern einen enormen technischen Fortschritt dar, als dass Dampfmaschinen nun erst- mals zur gewerblichen Industrieproduktion außerhalb der Kohlereviere benutzt werden konnten. Die Wattsche Dampfmaschine hatte einen wesentlich geringeren Brennstoff- verbrauch als die Newcomen-Maschine bei gleichzeitig erheblich gesteigerter Leistung. Entscheidend für ihre industrielle Nutzung war jedoch ihre Fähigkeit, Rotationsbewegungen auszuführen. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde die Wattsche Niederdruck- dampfmaschine durch die von Oliver Evans entwickelte Hochdruckdampf- maschine abgelöst. Der Vorteil dieser Maschine lag in einer nochmaligen In- tensivierung der Arbeitsleistung, was auf die unmittelbare Wirkung des Dampf- druckes zurückzuführen war. Diese neue Hochdruckdampfmaschine war nicht nur leistungsstärker als ihre Vorgängerinnen; sie war auch kleiner und hatte einen erheblich geringeren Brennstoffverbrauch. ( Vgl. Schivelbusch 1995, S. 9f)

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Details

Titel
Claude Monet: Die Europabrücke am Bahnhof Saint-Lazare - eine analytische Betrachtung zeittypischer Phänomene
Autor
Jahr
2002
Seiten
23
Katalognummer
V7842
ISBN (eBook)
9783638149686
ISBN (Buch)
9783656519393
Dateigröße
593 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Monet, Zeitgeschehen und Zeit, Impressionistische Kunst
Arbeit zitieren
Dr. Sabrina Cercelovic (Autor:in), 2002, Claude Monet: Die Europabrücke am Bahnhof Saint-Lazare - eine analytische Betrachtung zeittypischer Phänomene, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7842

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