Roman Ingarden und seine Kritiker


Wissenschaftlicher Aufsatz, 1995

34 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1 Ingardens Einschätzung durch und Einfluss auf andere Kritiker

2 Gründe für die Unbekanntheit Ingardens bei den Germanisten

3.1 Der Schichtenbegriff und die Schichtung des Kunstwerks bei Ingarden und Hartmann
3.2 Verschiedene Auffassungen der tragenden Schicht
3.3 Ingardens 3. Schicht der “schematisierten Ansichten”
3.3.1 Schematisierte Ansichten in der Material-Schicht
3.3.2 Schematisierte Ansichten in der Schicht der Gegenstände
3.3.3 Schematisierte Ansichten in den Hintergrundsschichten

4 Die ontologischen Strukturgesetze des Sprachkunstwerks

5 Ingardens Anti-”Psychologismus”

6 Ingarden, die Rezeptionsästhetik und die Literatursoziologie

7.1 Ingardens Werte-Theorie:
7.2 Morawskis Kritik

8 Eine marxistische Kritik Ingardens

9 Ingardens Auseinandersetzung mit Käte Hamburger

10 Einordnung von Ingardens Bemühungen in sein eigenes System der Ästhetik

11 Zusammenfassende Kritik

Literatur:

a-b Werke von Ingarden

b-d Werke über Ingarden

e Sonstige zitierte Literatur

Diagramme:

1.Der Schichtenbegriff und die Schichtung des Kunstwerks bei Ingarden und Hartmann

2.Ingardens Hauptunterscheidungen (im ontologischen Status des “realen”, “idealen” und “intentionalen” Gegenstands)

3.“Kunstwerk” und “ästhetischer Gegenstand”

4.Der Wirklichkeitsbezug der Literatur bei Hamburger, Ingarden und Staiger

Zusammenfassung:

Roman Ingarden (1893-1970) gilt unter Ästhetikern als der bedeutendste Literaturtheoretiker des letzten Jahrhunderts,, ist jedoch bei Germanisten fast nur als Name bekannt. Wer sich mit seinem Schichtenmodell für Literatur auseinandersetzen will, muss dieses mit dem Nicolai Hartmanns (1882-1950) vergleichen. Dieses ist dem Ingardens an ontologischer Durchdachtheit überlegen, an Detail-Reichtum jedoch unterlegen.

Wie fast alle originellen Entwürfe ist auch Ingardens Literatur­modell in entscheidenden Punkten kritisiert worden (u.a. von Käte Hamburger, Detlef Leistner, Stefan Morawski, Hans Joachim Pieper und René Wellek, - von der marxistischen Literaturkritik ebenso wie von der sprachanalytischen Schule). Von den Angriffen kann man viel über Wesen und Wirkungsweise von Literatur lernen. Sie stehen in Zusammenhang mit Ingardens “Anti-Psychologismus”, seiner Unterscheidungsweise von Kunst gegenstand und ästhetischem Gegenstand, seiner Behandlung des Wertproblems von Kunst (besonders seiner relativ konservativen Auffassung von der Objektivität ästhetischer Werte, die zu seiner Theorie der ästhetischen Erfahrung in Widerspruch steht), seiner Beschreibung einer tragenden “Schicht der Wertlaute” und noch mehr einer “Schicht der schematisierten Ansichten” im Sprachkunstwerk, seinem Schichtenbegriff überhaupt sowie seiner gelegentlichen Ungenauigkeit in der Anwendung seiner Terminologie.

Suchworte:

Ästhetik; Ingarden, Roman; Hartmann, Nicolai; Schichtenästhetik; Schichtenpoetik; Schichtentheorie; Sprachkunstwerk; Ontologie

1 Ingardens Einschätzung durch und sein Einfluss auf andere Kritiker

Alle Kritiker, auch diejenigen, welche anschließend entscheidende Einschränkungen machen, preisen zuerst Wichtigkeit und Einzigartigkeit, Gedankenfülle und -tiefe seines Werks. Monroe Beardsley bezeichnet in seiner Geschichte der Ästhetik (1966) Ingardens Das literarische Kunstwerk (1931) als “die brillanteste Anwendung der phänomenologischen Methode in der Ästhetik”. H. Osborne nennt das gleiche Buch “vielleicht das wichtigste und einflussreichste Einzelwerk, welches in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts im Feld der Ästhetik produziert worden ist” (1982,83).René Wellek (1981,55) betont gleich am Anfang eines vorzüglich klaren Essays über Ingarden: “Er klärte Fragen wie die nach der Daseinsweise eines literarischen Kunstwerks, seiner vielschichtigen Struktur und nach seiner Rezeption durch uns klarer und treffender als irgendein anderer Ästhetiker, den ich kenne.” Peter J. McCormick (1990,275) nennt es “außerordentlich reich und profund”.

Immer wieder wird auch Ingardens Einfluss auf andere entscheidende Denker festgestellt, so auf Mikel Dufrennes “Phänomenologie ästhetischer Erfahrung” (1973), Wolfgang lsers “Der Leseakt” (1978), Stefan Morawskis “Analysen der Grundlagen der Ästhetik” (1974) und vor allen Wellek und Warrens “Theorie der Literatur” (1949, alle Übers. von mir). René Wellek erkannte dies selbst dankbar an: “Ich befinde mich in weitgehender Übereinstimmung mit seinen Ansichten und bezeuge, hinsichtlich vieler dieser Fragen von Ingarden mehr gelernt zu haben, als von irgendeinem andern” (1981,55). Der Bedeutung von Warren und Wellek für die englisch-sprechende Literaturwissenschaft entspricht für die deutsche Germanistik etwa Wolfgang Kaysers Das sprachliche Kunstwerk (1948); und auch dieses ist unverkennbar von Ingarden beeinflusst und verschweigt dies nicht (17).

2 Gründe für die Unbekanntheit Ingardens bei den Germanisten

Trotz all dieser kritischen Bemühungen kann man nicht behaupten, dass die Grundzüge der ingardenschen Theorien in Germanistenkreisen bekannt geworden wären. Wellek meint, das läge daran, dass zunächst einmal in Deutschland “Ingarden als Pole und Husserl als Jude ignoriert wurden” (1981,55). Dazu kommt sicher, dass der zweite Weltkrieg eine Ausbreitung von Ingardens Ideen verhinderte. Als sein literaturwissenschaftliches Hauptwerk schließlich 1973 ins Englische übersetzt vorlag, wurde die Literaturwissenschaft noch immer von der soziologischen Methode dominiert. Diese ist seinen Denken ganz fremd, lässt sich aber m.E. gut mit seinen Werk vereinen, wie ich zeigen werde.

Zuvor war der Import des französischen Existentialismus nachgeholt worden, z.B. mit Jean Paul Sartres Qu‘est-ce que la littérature ? (1965). In diesem rückte hauptsächlich die anthropologische Funktion der Literatur für den Menschen in der Gesellschaft ins Zentrum des Interesses. Die ontologische Analyse der Literatur vernachlässigte man für eine Weile. Das hauptsächlich soziologische Interesse an der Literatur in den Sechziger Jahren war durch die existentialistische Denkweise in gewisser Weise vorbereitet worden.

Erst die durch das gänzlich verspätete Interesse am Prager Struktura­lismus an Ende der Sechziger Jahre wieder in Mode gekommene Beschäftigung mit der ontologischen Beschaffenheit des literarischen Kunstwerks (etwa in den nun übersetzten Arbeiten von Yury M. Lotman, 1972 und 1973, Jan Mukarowsky, 1967, Janusz Slawinski, 1975, Juni Tynjanov, 1967, und Boris Uspenskij, 1975) brachten auch Ingarden wieder ins wissenschaftliche Gespräch. Denn dessen Gedanken haben, ebenso wie die Hartmanns, mit denen des Prager Kreises viel gemeinsam.

Eigentlich hatte sich der Strukturalismus auf Ingarden als Vorläufer berufen können, denn man kann sowohl in Ingardens Denken als auch in den des ihm verwandten Nicolai Hartmann viele Parallelen zu dem des Strukturalismus finden. Tragischerweise aber scheint er dessen Hauptvertretern unbekannt gewesen zu sein. (Über die Entsprechungen zwischen den ontologischen Schichtenmodellen für das Kunstwerk und den Grundannahmen des Strukturalismus fehlt noch eine eingehende Untersuchung. -) Ingarden vermied allerdings den Begriff “Struktur”, weil er ihm zu viele Bedeutungen hatte, und er wollte auch nicht zu den “Strukturalisten” gezählt werden.-

Schließlich darf man als Grund dafür, dass Ingarden mehr als respektvoll erwähnter Name bekannt ist, als durch sein Werk, die Tatsache nicht unbeachtet lassen, dass sein Stil nicht eben leicht zu lesen (und zu übersetzen!) ist. Das liegt z.T. daran, dass er in seiner Terminologie nicht immer konsequent ist. Morawski (1975,179) begründet dies positiv: “Er vermied Definitionen, weil er deren scheinbare Zuverlässigkeit fürchtete. Die absichtliche Geschmeidigkeit seiner Terminologie und die Vorläufigkeit der Konzepte, die er verwandte, entsprachen seiner unermüdlichen Anstrengung um Freilegung aller nur möglichen Aspekte: gegenseitiger Abhängigkeit, Verbindungen oder Trennungen innerhalb des Bereichs der untersuchten Muster und Strukturen [...] worauf es ankommt, innerhalb dieses praktischen Etablierens einer phänomenologischen Ästhetik, ist der Bereich von zu machenden Beobachtungen, nicht die logischen Begriffe, in glatten Axiomen und Definitionen formalisiert.” (meine Übers.)

In der englisch-sprachigen Ästhetik kommt nur der Amerikaner Monroe Beardsley (1915-1986), einer der Hauptvertreter der sogen. “(sprach)analytischen Richtung”, Ingarden an Bedeutung gleich. Dessen Ansichten über das Kunstwerk im Allgemeinen und Literatur im Besonderen aber unterscheiden sich von denen Ingardens grundsätzlich, was Peter McCormick (1990, 285ff.) klar herausgearbeitet hat.

3.1 Der Schichtenbegriff und die Schichtung des Kunstwerks bei Ingarden und Hartmann

Diagramm 1

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wer sich mit der “Schichtung” des Kunstwerks beschäftigt, muss zuerst zwei Fragen klären: 1. was hier unter Schichten verstanden werden soll - und 2. wo die Grenzen des Kunstwerks zur Außenwelt abgesteckt werden sollen. Ingarden war sich natürlich der Problematik solch räumlicher Schichten-­Metaphern voll bewusst. Ebenso berücksichtigte er den Umstand, dass ein Sprachkunstwerk nicht als Ganzes auf einmal erlebt wird, sondern in Zeitphasen, und trug dem besonders in seinem zweiten Buch (1968) Rechnung, was wir hier aber ausklammern können. Während aber Hartmann allgemein-ontologische Schichtkategorien und Gesetzlichkeiten, die er in seinen anderen Werken (1940) vorher beschrieben hatte, auf das Kunstwerk übertrug bzw. diese in jenen aufsucht, möchte Ingarden den umgekehrten Weg gehen und in streng phänomenologischer Analyse in jeder Kunstart individuelle Schichtungsverhältnisse feststellen. Er gelangt dabei zu ganz unterschiedlichen Resultaten für die verschiedenen untersuchten Künste und beobachtet z.B. beim literarischen Kunstwerk die reichste Schichtung, während er sie für die Musik geradezu abstreitet (1962,32f.); vergl. meinen Aufsatz von 1979). Hartmann wirft er vor: “Es ist [ ...] gefährlich, Strukturen, die für Werke einer Kunst charakteristisch sind, auf Werke anderer Künste zu übertragen, wie es [ ...] Hartmann getan hat. Er vermengt auch tatsächlich unter dem Namen ‚Schicht‘ zwei verschiedene Angelegenheiten: 1. die in manchen Kunstwerken auftretende ‚Schicht‘ in den von mir bestimmten Sinne, 2. die Funktion des Darstellens, die ein Element des Kunstwerks einem anderen Element gegenüber ausübt, für welches es zugleich das ontische Fundament bildet.” (1962,33f.) - Was Ingarden mit der “Funktion des Darstellens” meint, wird nicht ganz klar. Vielleicht meint er, was Hartmann als “ontologisches Fundieren” bezeichnen würde. Außerdem verwirrt, dass er nun auf einmal von “Elementen” spricht, die jedoch genau die Funktion der Hartmannschen “Schichten” ausüben. Denn der letztere stellt sich seine Schichten immer als ontologisch fundierende vor, - selbstverständlich außer der “höchsten”, falls wir bei der Schichtenme­tapher an eine geologische Schichtung denken, oder der “tiefsten” bezw.”innersten”, falls wir an eine Zwiebel denken, am besten also: außer der abstraktesten. Das wird aus den Zusammenhang seines ontologischen Modells ganz klar. Und Indem er immer die ontologisch “tragenden” Schichten, ohne die allerdings kein Kunstwerk existieren kann, mitbetrachtet (also das “Material” der Töne, Farben, Worte etc.), erweitert er den Rahmen seiner Betrachtung “nach unten zu”. Er dehnt ihn aber auch “nach oben” aus, indem er, weiter als Ingarden gehend, die allgemeinen Wirkungen des Kunstwerks berücksichtigt, selbst wenn diese nicht nur für eine Kunstart typisch sind. Denn die konkreteren Schichten werden immer auch von den abstrakteren in ihrer Formung determiniert. - In dieser klaren Herausarbeitung des doppelten Integrationszusammenhangs der Schichten ist m.E. Hartmanns System dem von Ingarden überlegen. Auch kann man mit Hartmanns Modell die Unterschiede zwischen den Kunstarten gerade aus ihrer verschiedenartigen Ausfüllung bzw. Benutzung der (potentiell zur Verfügung stehenden) Schichten erklären. Ingarden hat jedoch mehr Einzelbeobachtungen zur Literatur geliefert.

3.2 Verschiedene Auffassungen der tragenden Schicht

In einem wichtigen Punkt missversteht Ingarden allerdings Hartmann so gründlich, dass man in diesem Punkt fast an seiner intellektuellen Redlichkeit zweifeln möchte: Er scheint allen Ernstes zu glauben, dass Hartmann Papier und Tinte als unterste Schicht des Wortkunstwerks ansieht (1968,20). Darum kommt er zu der ironisch sein-sollenden Feststellung, dass es nach Hartmanns Theorie dann so viele Faustdichtungen geben müsse, wie bisher Exemplare dieses Werkes gedruckt worden sind. - In Wirklichkeit stellen für Hartmann, wie dieser oft genug klar gesagt hat, die Worte die unterste Schicht dar. Und diese sind - im Unterschied zum Material anderer Kunstarten - bereits selbst Bedeutungsträger. - Ingarden dagegen setzt m.E. seine unterste Schicht der Dichtung falsch an, indem er darunter den Wortklang versteht. Denn gerade dieser ist ja in jeder Lesung eines Wortkunstwerks anders. Und in unserer Zeit des gedruckten Wortes spielt er ohnehin zumeist eine nebensächliche, mehr zufällige Rolle.

Wenn man Ingardens Auffassung auf andere Künste überträgt, so müsste er konsequenterweise auch den Klang des Musikkunstwerks als dessen unterste Schicht bezeichnen, was natürlich ebenfalls irrig wäre. Er vermeidet das, indem er diesem überhaupt nur eine Schicht zubilligt. Seltsamerweise ist mir kein Kritiker bekannt, der sich an Ingardens erster Schicht gestoßen hätte, vielleicht weil Ingarden der Formulierung “Wortlaute” noch eine andere hinzufügt: “Lautgebilde höherer Stufe”. Damit meint er wahrscheinlich dasselbe wie Hartmann mit seiner ersten Schicht (des Wortes).

3.3 Ingardens 3. Schicht der “schematisierten Ansichten”

Nun wird aber bei Ingarden im literarischen Kunstwerk (ebenso wie im Bild) zwischen die Schicht der “Bedeutungseinheiten, Satzsinne, Satzzusammenhänge (2) und die der “dargestellten Gegenständlichkeiten und ihrer Schicksale” (4) eine weitere (3) der “schematisierten Ansichten mit Unbestimmtheitsstellen” eingeschoben, die es bei Hartmann nicht gibt - und mit gutem Grund.

[...]

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Details

Titel
Roman Ingarden und seine Kritiker
Hochschule
Kyoto Sangyo University  (German Department)
Veranstaltung
Kongressvortrag: Jahreskongress des jap. Germanistenvereins, Universität Hokkaido
Autor
Jahr
1995
Seiten
34
Katalognummer
V7849
ISBN (eBook)
9783638149723
ISBN (Buch)
9783638798921
Dateigröße
881 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ästhetik; Ingarden, Roman; Hartmann, Nicolai; Schichtenästhetik; Schichtenpoetik; Schichtentheorie; Sprachkunstwerk; Ontologie
Arbeit zitieren
Dr. Wolfgang Ruttkowski (Autor:in), 1995, Roman Ingarden und seine Kritiker, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7849

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