Mitten in die deutsche Wiederbewaffnungsdebatte platzte im März 1952 Stalins Angebot an die westlichen Siegermächte für ein vereinigtes Deutschland. Die Bedingungen: Verzicht auf die deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße sowie politische und militärische Neutralität des vereinigten Deutschlands. Dieser sogenannten Stalin-Note folgten bis 1955 weitere Deutschland-Initiativen von sowjetischer Seite.
Adenauer lehnte alle diese Angebote unverzüglich und kategorisch ab. Mit den drei Westmächten war er sich einig, dass die Vorstöße aus Moskau im wesentlichen auf die Verhinderung der Integration der Bundesrepublik ins westliche Lager zielten. Für Adenauer war die Stalin-Note nicht mehr als ein „Scheinmanöver“, um die deutsche Öffentlichkeit über die wahren Absichten der Sowjetregierung hinwegzutäuschen.
Diese Bewertung war in der zeitgenössischen Diskussion ebenso heftig umstritten wie im folgenden unter Historikern. Die wissenschaftliche Kontroverse über die Möglichkeiten für eine Vereinigung Deutschlands auf der Basis der damaligen sowjetischen Verhandlungsangebote ist auch nach 1990 nicht abgerissen. Der Zugang zu den bis dahin verschlossenen östlichen Archiven brachte zwar eine Fülle an neuem Material, reproduzierte aber in den daraus gezogenen Schlüssen die konträre historische Beurteilung der sowjetischen Initiativen aus den 1980er Jahren.
Besonderes Augenmerk wird in dieser Arbeit auf die Ziele und Motive sowjetischer Deutschlandpolitik zwischen 1952 und 1955 gelegt. Unter Bezug auf neueres Quellenmaterial und Sekundärliteratur, die ihre Erkenntnisse hauptsächlich aus der Analyse von Aktenmaterial aus den Archiven des sowjetischen Außenministeriums und der SED gewinnt (v.a. Arbeiten von Gerhard Wettig und Wilfried Loth), wird deutlich, dass es in der sowjetischen Deutschlandpolitik dieser Jahre verschiedene Phasen und Tendenzen gab.
Dennoch haben die sowjetischen Angebote im Sinne Adenauers zu keinem Zeitpunkt Optionen für eine Überwindung der deutschen Teilung eröffnet. Da ein neutrales Gesamtdeutschland auch den militärischen und politischen Interessen der Westmächte widersprach, hat es auf Basis der sowjetischen Deutschland-Initiativen in den Jahren 1952 bis 1955 für eine deutsche Wiedervereinigung keine realistischen Möglichkeiten gegeben.
Inhalt
1 Einleitung
2 Zwei deutsche Staaten - Die Integration in die Machtblöcke
2.1 Die Bundesrepublik - Souveränität durch Integration
2.2 Die DDR - Unter Moskauer Führung
3 Die Notenoffensive Stalins
3.1 Stalins Absichten - Deutungsversuche und Belege
3.2 „Sicherheit für und vor Deutschland“ - Die Reaktion Adenauers und der Westmächte
3.3 „You must organize your own state“ - Die Konsolidierung des Sozialismus in der DDR
4 Sowjetische Deutschlandpolitik nach Stalins Tod
4.1 Während des Interregnums - Der „Plan Berijas“ und der „Neue Kurs“
4.2 Im Zeichen des Zwei-Staaten-Kurses und der Pariser Verträge
5 Resümee
6 Zeittafel
7 Abkürzungen
8 Quellen und Literatur
Zitate auf Seite 2 in: Gottfried Niedhart, Schweigen als Pflicht. Warum Konrad Adenauer die Stalin-Note vom 10. März 1952 nicht ausloten ließ, in : Die Zeit Nr. 11 vom 6. März 1992 und in: Henning Köhler, Adenauer. Eine politische Biographie, Berlin/Frankfurt a. M. 1994, S. 681.
1 Einleitung
Mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag[1] und dem inzwischen fast eine Dekade zurückliegenden Beitritt der DDR zum Geltungsgebiet des Grundgesetzes gemäß Artikel 23 ist - wenn auch Jahrzehnte später als im ersten Nachkriegsjahrzehnt von Konrad Adenauer und vielen Deutschen erwartet und unter Verzicht auf die ehemals deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße - die plakative Trias der Ziele Adenauerscher Politik für Deutschland politische Wirklichkeit geworden: „Freiheit, Frieden, Einheit“.[2]
Dabei sind auch die wesentlichen Bedingungen, die Adenauer und die Westmächte im Jahre 1952 als Antwort auf das sowjetische Verhandlungsangebot zur Wiedervereinigung Deutschlands gestellt hatten[3], zu später Erfüllung gelangt: Die Wiedervereinigung ist „in Frieden und Freiheit“[4] erfolgt, Gesamtdeutschland ist über die Mitgliedschaft in NATO und Europäischer Union fest ins westliche Bündnissystem integriert, und es verfügt über volle innen- und außenpolitische Souveränität, die nur durch die Beteiligung an supranationalen Organisationen beschränkt ist.
Dennoch ist die Diskussion um die Möglichkeiten, die bis zum Jahre 1955 für eine Vereinigung Deutschlands auf der Basis der sowjetischen Verhandlungsangebote bestanden haben mögen und die sich unmittelbar nach der ersten Note der Sowjetregierung vom 10. März 1952 entspann, bis heute nicht abgerissen.[5]
Standen sich im Spannungsfeld der wissenschaftlichen Kontroverse der 80er Jahre vor allem Steiniger auf der einen, die „Rhönsdorfer Gralshüter“ Graml und Schwarz[6] auf der anderen Seite gegenüber - der eine die so genannte Stalin-Note als eine „vertane Chance“ wertend, die anderen von der „Legende von der verpaßten Gelegenheit“ sprechend[7] - so ist zwar heute der Zugang zu östlichen Archiven durch das Ende des Kalten Krieges ermöglicht, die Unterschiede in der Beurteilung der sowjetischen Initiativen sind jedoch nicht nivelliert worden.
In dieser Arbeit soll die Frage nach den Optionen, die die sowjetischen Initiativen zwischen 1952 und 1955 für Deutschland eröffnet haben mögen, erneut gestellt werden. Ergänzend zum Seminarthema sollen dabei die sowjetischen Motivationen für eine Herstellung der Einheit Deutschlands und die Ziele sowjetischer Deutschlandpolitik im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. Diese sollen unter Heranziehen von Quellenmaterial und unter Auswertung vor allem der neueren Sekundärliteratur, die ihre Erkenntnisse hauptsächlich aus der Analyse von Aktenmaterial aus den Archiven des sowjetischen Außenministeriums und der SED gewinnt, diskutiert werden. Zur Darstellung der Reaktionen auf die sowjetischen Verhandlungsangebote und des historischen Hintergrunds wird aber auch auf vor 1990 erschienene wissenschaftliche Literatur zurückgegriffen.
2 Zwei deutsche Staaten - Die Integration in die Machtblöcke
Als im Ergebnis des Scheiterns einer gemeinsamen Kontrolle der vier Siegermächte auf deutschem Territorium 1949 zwei deutsche Staaten gegründet wurden, verstanden sich beide als Provisorien, die nur eine Übergangslösung auf dem Weg zu einem wie auch immer gearteten einheitlichen Deutschland darstellen sollten.[8] Die Wiedervereinigung wurde sowohl von der Bundesrepublik als auch von der DDR zum obersten Ziel ihrer Politik erklärt.[9]
So unterschiedlich sich die die beiden deutschen Teilstaaten auch entwickelten, beide befanden sich in den ersten Jahren nach ihrer Gründung in großer ökonomischer und politischer Abhängigkeit von ihren Besatzungsmächten, ihre Souveränität war nach innen wie nach außen stark eingeschränkt, und der Handlungsspielraum ihrer Regierungen war begrenzt. Vor allem die Außen- und Deutschlandpolitik wurde im wesentlichen von den Besatzungsmächten bestimmt.
2.1 Die Bundesrepublik - Souveränität durch Integration
Das Besatzungsstatut, das am 21. September 1949 für die Bundesrepublik in Kraft trat, sah für die erste Bundesregierung unter Kanzler Adenauer keinerlei Befugnisse in Bezug auf außen- und deutschlandpolitische Fragen vor. Eines der drei primären Ziele Adenauers war daher neben der äußeren Sicherheit und der Integration der Bundesrepublik in das westliche Staatenbündnis auch, die volle Gleichberechtigung und Souveränität für den westlichen Teilstaat zu erlangen.[10]
Dass es trotzdem kaum zu gravierenden Konflikten zwischen Adenauer und den Besatzungsmächten kam, lag daran, dass die Prioritäten des Bundeskanzlers im wesentlichen mit der Politik der westlichen Siegermächte, besonders den Interessen der USA, übereinstimmten. Zudem erkannte Adenauer die Notwendigkeit eines den Besatzungsmächten unbedingt loyalen Verhaltens, das deren Misstrauen gegenüber deutscher Außenpolitik im Angesicht der historischen Erfahrungen mit der „Schaukelpolitik“ zwischen Ost und West nach dem Ersten Weltkrieg Rechnung trug.[11]
Adenauer verstand es in den folgenden Jahren, die Westintegration und die Erweiterung des Handlungsspielraums der Bundesregierung eng miteinander zu verknüpfen. Sie verliefen über das Zugeständnis erster außenpolitischer Freiräume und die deutliche Verringerung der Demontage durch das Petersberger Abkommen, den Beitritt zu OEEC und zur Internationalen Ruhrbehörde, über die Gründung der Montanunion und den Beitritt zum 1949 gegründeten Europarat.[12]
Starken Aufwind für die Souveränitätsbestrebungen Adenauers brachte der Einmarsch nordkoreanischer Truppen in Südkorea im Juni 1950. Der Ausbruch des Korea-Krieges und die Angst, dass sich Ähnliches auch in Europa ereignen könne, räumten der Bundesrepublik als äußerstem Vorposten an der Grenze zum kommunistischen Ostblock eine erhöhte Wichtigkeit im sicherheitspolitischen Kalkül der Westmächte ein. Vor diesem Hintergrund begann die innen- als auch außenpolitisch kontroverse Diskussion um Wiederbewaffnung und Integration der Bundesrepublik in das westliche Militärbündnis. Dies nutze Adenauer aus, um im Gegenzug zu einem deutschen Wehrbeitrag mehr Souveränitätsrechte von den Alliierten zu fordern.[13]
Die Verhandlungen über den Vorschlag des französischen Ministerpräsidenten René Pleven zur Schaffung einer europäischen Armee liefen zu Beginn des Jahres 1951 an und wurden begleitet von der ersten Revision des Besatzungsstatuts im März 1951, das dem Wiederaufbau des Auswärtigen Amtes den Weg öffnete. Am Ende des Jahres hatte alle drei Westmächte den Kriegszustand offiziell aufgehoben. Parallel wurde über einen Generalvertrag zwischen den Westmächten und der Bundesrepublik verhandelt, der die Souveränität des westdeutschen Staates weitgehend herstellen sollte.[14]
Adenauers Politik blieb nicht unkritisiert. Die vorgesehene Wiederbewaffnung rief eine breite und insgesamt sehr heterogene Opposition hervor, die sich um Gewerkschaften und Kirchen konzentrierte. Gegen Adenauers Primat der Westintegration vor Wiedervereinigung wandte sich vor allem die SPD, die gegen EVG- und Deutschlandvertrag, wie auch schon gegen das Petersberger Abkommen, heftig polemisierte. Die Wiedervereinigung erlangte für sie seit Herbst 1951 gegenüber der Westbindung zunehmend an Priorität.[15]
2.2 Die DDR - Unter Moskauer Führung
Im Gegensatz zur deutlich erkennbaren politischen, wirtschaftlichen und der beginnenden militärischen Integration der Bundesrepublik, verlief der Integrationsprozess der SBZ/DDR in das System der von der UdSSR angeführten osteuropäischen Volksdemokratien zunächst über eine innere Transformation von Staatsaufbau, Verwaltung und Wirtschaft entsprechend dem sowjetischen Muster.[16]
Bereits 1945/46 war mit der Boden- und Industriereform in der sowjetischen Besatzungszone der Grundstein für den Aufbau einer sozialistischen Zentralplanwirtschaft gelegt worden.[17]
Die SED, die durch die von der SMAD mittels massiven Drucks forcierte Fusion von KPD und SPD 1946 entstanden war, hatte schon im Vorfeld der Staatsgründung begonnen, sich zunehmend zu einer Partei nach dem Vorbild der KPdSU zu entwickeln. Auf der Ersten Parteikonferenz 1949 reklamierte sie für sich die führende Rolle im Staat als „Vorhut der Arbeiterklasse“.[18] Seit 1948 wurden alle wichtigen Posten im Staatsapparat mit zuverlässigen SED-Mitgliedern besetzt, die personalpolitische Kontrolle der Spitzenpositionen in Staat und Wirtschaft übte das Politbüro als höchstes kollektives Führungsorgan der SED aus. So wurde eine enge Verflechtung von Partei und Staat vorangetrieben.[19] Gleichzeitig wurden Partei und Staatsapparat von unliebsamen Sozialdemokraten und anderen Nichtkonformen „gesäubert“.[20]
Die ersten Schritte zu einer politischen Integration waren die kollektiven Stellungnahmen gegen die Politik der Westmächte und die Remilitarisierung der Bundesrepublik, die zusammen mit den anderen Ostblockstaaten auf der Warschauer Außenministerkonferenz 1948 bzw. auf der Konferenz von Prag 1950 verabschiedet wurden. Die wirtschaftliche Einbindung erfolgte 1950 mit dem Beitritt zum Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW).[21]
In der DDR galt kein dem Besatzungsstatut vergleichbares Reglement. Doch führte de facto die SKK, die 1949 aus der SMAD hervorgegangen war, trotz der Übergabe der Verwaltungsfunktionen an die provisorische Regierung der DDR die sowjetische Besatzungspolitik fort. Dabei spielten besonders informelle Wege eine große Rolle. So wurden sämtliche Schritte der DDR oft sogar bis ins Detail von der Moskauer Führung gesteuert. Die staatlichen Verwaltungen waren dazu verpflichtet, der SKK jegliche erwünschte Auskunft zu erteilen. „Ein dichtes Netz sowjetischer Berater übte faktisch die Funktion einer sowjetischen ‘Überregierung’ aus.“ Zur ohnehin bestehenden politischen und ökonomischen Abhängigkeit kam noch hinzu, dass sich „die SED der Moskauer Zentrale auf Gedeih und Verderb verbunden“ fühlte und kein mit Adenauer vergleichbares Selbstbewusstsein gegenüber der Besatzungsmacht entwickelte.[22]
Das SED-Regime „konnte weder in der Deutschlandpolitik noch im Innern seines Herrschaftsgebietes Schritte von irgendwelcher Bedeutung tun, die nicht zuvor von sowjetischer Seite gebilligt, wenn nicht gar angeordnet gewesen wären.“[23] Auch der Rahmen der deutschlandpolitischen Initiativen der DDR in den Jahren 1950/1951, die mit einem Brief Grotewohls an Adenauer im Herbst 1950 eingeleitet wurden, wurde von Moskau abgesteckt.[24]
Obwohl die Einheit offiziell das oberstes Ziel der Politik war, hatte - ebenso wie die bürgerlichen Eliten in Westdeutschland - auch die neue kommunistische Führungsschicht im Osten begonnen, die Idee einer Teilung Deutschlands zu tolerieren.[25] Insbesondere Walter Ulbricht - der als Generalsekretär der SED zusammen mit Staatspräsident Wilhelm Pieck und Ministerpräsident Otto Grotewohl an der Spitze des neu gegründeten Staates stand - wusste, dass die ihm zustehende Machtfülle in dem Maße wachsen würde, je länger sich der Weg zu einem einheitlichen Staat in dem von Moskau vorgegebenen Rahmen dehnte.[26]
3 Die Notenoffensive Stalins
3.1 Stalins Absichten - Deutungsversuche und Belege
In die sich dem Abschluss neigenden Verhandlungen um den EVG-Vertrag und die damit verknüpfte Wiederbewaffnungsdebatte in der Bundesrepublik platzte die sogenannte Stalin-Note. Am 10. März 1952 wurde den Botschaftern der drei Westmächte in Moskau eine Note der Regierung der UdSSR übergeben, der ein Entwurf für einen Friedensvertrag mit Deutschland beilag. Darin war die Wiederherstellung eines einheitlichen Deutschlands vorgesehen, das sich als ein „unabhängiger, demokratischer, friedliebender Staat“ entwickeln sollte. Alle Besatzungstruppen sollten spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des Vertrages abgezogen werden, und den Deutschen wurde der Aufbau eigener nationaler Streitkräfte zu Verteidigungszwecken zugestanden. Die „Friedenswirtschaft“ sollte keinerlei Beschränkungen unterliegen, Grund- und Menschenrechte sollten garantiert sein, und demokratische Parteien und Organisationen sich frei betätigen können.
Als Bedingungen wurde der Verzicht auf die deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße gefordert, sowie die Verpflichtung Deutschlands, „keinerlei Koalitionen oder Militärbündnisse einzugehen, die sich gegen irgendeinen Staat richten, der mit seinen Streitkräften am Krieg gegen Deutschland teilgenommen hat“.[27] Das kam der Forderung nach Neutralität eines vereinten Deutschlands gleich.
Bemerkenswert ist außerdem die in Aussicht gestellte rechtliche und politische Rehabilitierung aller Angehörigen der Wehrmacht sowie aller ehemaligen Nazis, soweit sie keine Verbrechen begangen hatten, für die sie rechtskräftig verurteilt worden waren,[28] da dieses Entgegenkommen in auffälligem Gegensatz zur scharfen ostdeutschen Polemik gegen die breite „Renazifizierung“ in der Bundesrepublik stand.[29]
Dass diese Moskauer Initiative nicht Ausdruck eines plötzlichen Umlenken Stalins in seinen deutschlandpolitischen Ambitionen war, ist an ihrer Entstehungsgeschichte abzulesen, die in der Kontinuität der seit Herbst 1950 - kurz nach Bekannt werden des Pleven-Plans für eine europäische Armee - wiederholt von ostdeutscher Seite an Bundesregierung und Bundestag gerichteten Vorschläge zur Zusammenkunft eines „Gesamtdeutschen Konstituierendes Rates“ bzw. einer „gesamtdeutschen Beratung“ lag, die über die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung verhandeln sollten.[30]
Bereits im Februar 1951 wurde mit der internen Ausarbeitung eines Friedensvertragsentwurfs im sowjetischen Außenministerium begonnen, den man den Vertretern der Westmächte beim Rat der vier Außenminister vorlegen wollte. Zugleich wurde bis zum Herbst ein „Aktionsprogramm“ entwickelt, das vorsah, dass die DDR-Regierung Bonn den Vorschlag zur Zusammenkunft von Regierungsvertretern beider Länder unterbreiten sollte, die sich dann gemeinsam mit der Bitte um den schnellen Abschluss eines Friedensvertrages an die vier Siegermächte wenden sollten. Nach der zu erwartender Ablehnung durch die Bundesregierung sollte sich die DDR allein mit diesem Anliegen an die Alliierten wenden. Die Regierung der UdSSR würde darauf sofort positiv eingehen und einige Zeit später entsprechende Noten an die Regierungen der Westmächte richten, denen die Grundzüge eines Vertragsentwurfs beigefügt wären.[31]
Nachdem die deutsch-deutsche Verständigung über den Modus freier gesamtdeutscher Wahlen an der Frage der UN-Kontrolle gescheitert war, auf der Bonn insistierte und die man in Ostberlin zurückwies, und nachdem der auf dem Wahlgesetz der Weimarer Republik basierende Wahlgesetzentwurf der Volkskammer vom 9. Januar 1952[32] von der Bundesregierung abgelehnt worden war, nahm das Geschehen entsprechend dem skizzierten Plan seinen Lauf.
Die Motivation Stalins und die Absichten hinter dieser sowjetischen Initiative, die formal zwar an die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs gerichtet war, aber insbesondere mit dem Angebot einer eigenen Armee und dem Entgegenkommen gegenüber ehemaligen Nazis an das Nationalgefühl der Westdeutschen und deren Einheitswillen appellierte, sorgt noch immer für Diskussionen unter Historikern. Im Vordergrund steht dabei die Frage, ob Stalin mit dieser Note nur beabsichtigte, den Prozess der Westintegration der Bundesrepublik zu verhindern bzw. zu stören, oder ob er für den Preis eines neutralen Deutschlands wirklich bereit gewesen wäre, die DDR aufzugeben und ein wiedervereinigtes und nach westlichen Begriffen demokratisches Deutschland zuzulassen.
Nach Einsicht in die Akten des Außenministeriums der russischen Föderation, die den Zeitraum von der Entstehung der ersten Entwürfe bis Mitte 1952 umfassen, kommt Wettig zu der Auffassung, dass sich hinter der sowjetischen Initiative nicht die „Bereitschaft zur Verständigung oder zum Ausgleich mit den Westmächten und/oder der gewählten Regierung und mit den anderen demokratischen Kräften in der Bundesrepublik“ verbarg. Vielmehr führten Stalin und seine „Helfershelfer“ in der DDR einen „Krieg mit anderen als militärischen Mitteln“ um die Macht in Deutschland. Die wesentliche Absicht der Note sei die „Mobilisierung der Deutschen gegen die westdeutsche Regierung und die Westmächte “ gewesen. Stalins großes Ziel sei insofern schon die Vereinigung Deutschland gewesen, aber eben unter Ausdehnung des „ostdeutschen Herrschafts- und Gesellschaftssystems auf ganz Deutschland“.[33] Mit dem Hinweis darauf, dass Stalin spätestens seit 1947 alles daran gesetzt hat, „ein Deutschland nach dem Muster der SBZ/DDR“ durchzusetzen, ergibt sich so für Wettig eine Kontinuität in der Deutschlandpolitik des sowjetischen Diktators.[34]
Dieses Fazit zieht Wettig, der zuvor wie Graml die Alibi-These vertreten hatte,[35] nach dem Vergleich des Textes der ersten, sehr viel ausführlicheren Fassung vom September 1951 mit dem Text der übergebenen Note. Besonders aufschlussreich erweisen sich dabei diejenigen Passagen, die in der Endfassung weggelassen wurden: das Verbot aller Organisationen und die Verhinderungen jeglicher Aktivitäten, „die auf die Beraubung des Volkes eines demokratischen Rechts, auf die Wiederherstellung des deutschen Militarismus und Faschismus und auf die Kultivierung revanchistischer Ideen gerichtet“ sei. Im Text der späteren Note bezog sich das Verbot dann nur noch auf „Organisationen, die der Demokratie und der Sache der Erhaltung des Friedens feindlich“ gesinnt wären. Völlig verschwunden ist aus dem Text dagegen das Vorhaben, die in Ostdeutschland in Angriff genommenen „demokratischen Umwandlungen in der Industrie, in der Landwirtschaft und in anderen Bereichen der Wirtschaft“ fortzuführen und auf Westdeutschland zu übertragen. Gemeint waren damit die Enteignungen, die Bodenreform, die Gründung Volkseigener Betriebe etc. Auch sollten alle ökonomischen Bindungen an den Westen, wie die Montanunion, verlassen werden.[36] Um jedoch einen negativen Eindruck auf die der UdSSR gegenüber misstrauische westdeutsche Bevölkerung zu vermeiden, wurden zu deutliche Absichtsbekundungen eliminiert und Formulierungen durch eine weniger festgelegte Sprache ersetzt, die mehr Raum für Interpretationen im Sinne des westlichen Demokratieverständnisses ließ.[37] Das propagandistische Kalkül ergibt sich auch daraus, dass eine schnelle Veröffentlichung und Verbreitung des Textes der Note von Anfang an vorgesehen war.[38]
Insgesamt erscheinen die Befunde Wettigs stichhaltig. Doch sie sehen sich nach wie vor einer Reihe von zum Teil gegenteiligen Indizien, Zeitzeugenaussagen und weniger eindeutig interpretierbaren Aktenstücken gegenüber.
[...]
[1] Gemeint ist der Vertrag zwischen Frankreich, Großbritannien, den USA und der UdSSR sowie der BRD und der DDR über die abschließende Regelung inbezug auf Deutschland vom 12.10.1990.
[2] Oft von Adenauer benutzte Wendung, zum Beispiel in: Konrad Adenauer, Erinnerungen, 4 Bde., Stuttgart 1965-1968, hier: Erinnerungen 1955-1959, 283.
[3] Vgl. die Antwortnote der Westmächte vom 25.3.1952, in: Rolf Steininger, Eine Chance zur Wiedervereinigung? Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Darstellung und Dokumentation auf der Grundlage bisher unveröffentlichter britischer und amerikanischer Akten, Bonn 1985, 162f.; vgl. auch das Protokoll der Sitzung der Alliierten Hohen Kommission mit Adenauer am 17.3.1952, in: Klaus Maier (Hrsg.), Westintegration, Sicherheit und die deutsche Frage: Quellen zur Außenpolitik in der Ära Adenauer 1949-1963, Darmstadt 1994, 101f.
[4] Häufig gebrauchte Formel Adenauers, zum Beispiel im Brief an Erich Ollenhauer vom 25.1.1955, in: Maier, Quellen, 179 und in: Adenauer, Erinnerungen 1945-1953, 532.
[5] Vgl. das Erstaunen darüber und die Darstellung der zeitgenössischen Diskussion in der BRD bei: Manfred Kittel, Genesis einer Legende. Die Diskussion um die Stalin-Noten in der Bundesrepublik 1952-1958, in: VfZ 41 (1993), 355-389.
[6] Henning Köhler, Adenauer. Eine politische Biographie, Berlin/Frankfurt a. M. 1994, 682.
[7] Vgl. Steininger, Stalin-Note, sowie Hermann Graml, Die Legende von der verpaßten Gelegenheit. Zur sowjetischen Notenkampagne des Jahres 1952, in: VfZ 29 (1981), 307-341 und Hans-Peter Schwarz (Hrsg), Die Legende von der verpaßten Gelegenheit. Die Stalin-Note vom 10. März 1952, Stuttgart/Zürich 1982.
[8] Michael Lemke, Die DDR und die deutsche Frage, in: Wilfried Loth (Hrsg.), Die deutsche Frage in der Nachkriegszeit, Berlin 1994, 136-139.
[9] Vgl. die Präambel des Grundgesetzes der BRD vom 23.5.1949, in: Peter Longerich (Hrsg.), „Was ist des deutschen Vaterland?“ Dokumente zur Frage der deutschen Einheit 1800-1990, München 1990, 177 sowie Art. 1 der Verfassung der DDR vom 7.10.1949 und die Rede Piecks vom 11.10. 1949, ebd., 180f.
[10] Hans-Peter Schwarz, Das außenpolitische Konzept Konrad Adenauers, in: Klaus Gotto u.a., Konrad Adenauer. Seine Deutschland- und Außenpolitik 1945-1963, München 1975, 97-155, hier 143; Gregor Schöllgen, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Ausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1999, 20.
[11] Anselm Doering-Manteuffel, Die Bundesrepublik in der Ära Adenauer, Darmstadt 1983, 51f.; Schöllgen, Außenpolitik, 20.
[12] Ebd., 23-25.
[13] Doering-Manteuffel, Ära Adenauer, 54-56.
[14] Schöllgen, Außenpolitik, 25-29; Doering-Manteuffel, Ära Adenauer, 53-55. Vorgesehen war die Beteiligung Frankreichs, Italiens, Deutschlands und der Benelux-Staaten an einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Zunächst jedoch begannen Verhandlungen um einen möglichen NATO-Beitritt der Bundesrepublik, Schöllgen, Außenpolitik, 28.
[15] Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1982, 229-232.
[16] Kleßmann, Staatsgründung, 214.
[17] Deutsches Historisches Museum im Internet:
http://www.dhm.de/lemo/html/Nachkriegsjahre/WiederaufbauUndWirtschaft/sozialistische
ZentralPlanwirtschaft.html, 3.7.1999.
[18] Entschließung der Ersten Parteikonferenz der SED vom 28.1.1949, in: Kleßmann, Staatsgründung, 498-501.
[19] Ebd., 264.
[20] Norbert Podewin, Walter Ulbricht. Eine neue Biographie, Berlin 1995, 201.
[21] Kleßmann, Staatsgründung, 215.
[22] Lemke, DDR, 139, 141 und Anm. 18, 142.
[23] Gerhard Wettig, Stalin und die deutsche Frage. Die Note vom 10. März 1952, in: Osteuropa 47 (1997), 1259-1271, hier 1261.
[24] Brief Grotewohls an Adenauer vom 30.11.1950, in: Maier, Quellen, 80f.
[25] Lemke, DDR, 141.
[26] Podewin, Ulbricht, 202f.
[27] Vgl. Note der Sowjetregierung an die Westmächte vom 10.3.1952, in: Maier, Quellen, 93-97.
[28] Punkt 6 der „Politischen Leitsätze“ im Vertragsentwurf der Note (wie Anm. 27).
[29] Vgl. zum Beispiel Jürgen Kuczynski, So war es wirklich. Ein Rückblick auf zwanzig Jahre Bundesrepublik, Berlin (Ost) 1969, bes. die Kapitel „Des Teufels General wieder am Werk“, 93ff., und „Das Come-back der Nazigeneralität“, 131ff.
[30] Wettig, Stalin, 1261-1263. Vgl. Brief des Grotewohls an Adenauer vom 30.11.1950, in: Maier, Quellen, 80f. Nach ablehnender Haltung Adenauers stimmte Grotewohl in einem Brief vom 15.9.1951 freien Wahlen in ganz Deutschland zu, Schöllgen, Außenpolitik, 31f.
[31] Gerhard Wettig, Die Deutschland-Note vom 10. März 1952 auf der Basis diplomatischer Akten des russischen Außenministeriums, in: DA 26 (1993), 787-805, hier 796-798.
[32] Schöllgen, Außenpolitik, 32.
[33] Wettig, Deutschland-Note, 803-805.
[34] Wettig, Stalin, 1259 und 1271.
[35] Die Alibi-These wertet die sowjetische Aktion als Versuch, die UdSSR als Kämpferin für die deutsche Einheit darzustellen, den Westen dadurch zu diskrediteren und gleichzeitg freie Hand für die Sowjetisierungsmaßnahmen in der DDR zu bekommen, vgl. Graml (wie Anm. 7) und Gerhard Wettig, Der publizistische Appell als Kampfmittel. Die sowjetische Deutschland-Kampagne vom Frühjahr 1952, in: ders., Politik im Rampenlicht. Aktionsweisen moderner Außenpolitik, Frankfurt a. M. 1967, 136-184.
[36] Vgl. die erste Fassung des Friedensvertragsentwurfs vom 8.9.1951, übersetzt zit. bei Wettig, Deutschland-Note, 793-795 .
[37] Ebd., 795. Zum vom westlichen Verständnis abweichenden Gebrauch von Begriffen wie „demokratisch“, „unabhängig“ u.a. in der sowjetischen Terminologie siehe Lemke, DDR, 152, und Steininger, Stalin-Note, 27.
[38] Wettig, Deutschland-Note, 793.
- Arbeit zitieren
- Victoria Krummel (Autor:in), 1999, Die sowjetischen Deutschland-Initiativen in den Jahren 1952 bis 1955 , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79043
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