Die Antike als Basis gegenwärtiger Neuorientierung - Zur Bildungsphilosophie Werner Jaegers


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

25 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Deskriptive Zeitdiagnostik: Die Orientierungslosigkeit der Moderne

2. Normative Kritik: Der Humanismus als Anker der Geschichte und Kompass der Gegenwart
2.1 Der Humanismus als geschichtskonstituierendes Kultur- und Bildungsprinzip
2.2 Der Dritte Humanismus als gegenwartsbezogener ethisch-politischer Humanismus
2.3 Das humanistische Bildungsideal der παιδεία
2.3.1 Jaegers Bildungs- und Wissenschaftsbegriff
2.3.2 Bildungsaristokratie versus Massenbildung
2.3.3 Die alten Sprachen als humanistisches Bildungsmittel
2.4 Kritik des Jaegerschen Ansatzes

3. Humanistische Bildung im 21. Jahrhundert – Zur Aktualität der Programmatik Werner Jaegers

4. Schlussbetrachtung

5. Bibliographie

0. Einleitung

Humanistische Bildung ist nicht dazu da, unsere Probleme so lösen, sondern sie sichtbar und verständlich zu machen. Humanistische Bildung ist kein abzufragendes Kulturgut, sondern ein Weg, sich im Leben zu orientieren.

Richard von Weizsäcker

Die verheerenden Ergebnisse bei der PISA-Studie und eine immer größer werdende Zahl von Schülern mit Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwierigkeiten lassen Forderungen nach neuen Bildungskonzepten laut werden. Während sich didaktische und methodische Innovationen vor allem bei den Naturwissenschaften und den modernen Fremdsprachen finden, bleiben Fächer wie Griechisch, Latein oder Philosophie außen vor. Doch genau auf diese Fächer rekurriert die humanistische Bildung, die nicht auf reine Fachwissensvermittlung à la Pisa zielt, sondern auf eine ganzheitliche Persönlichkeitsbildung und die Entfaltung der geistigen Fähigkeiten der Schüler.

Ein bedeutender philosophischer Vertreter der humanistischen Bildung ist Werner Jaeger. Die Arbeit beschäftigt sich daher mit der Frage, welche Konzeption des Humanismus bzw. humanistischer Bildung Jaeger als Antwort auf seine Zeitkritik entwirft und inwiefern diese heute noch Gültigkeit besitzt. Vor dem Hintergrund der in Kapitel 1 referierten Kulturkritik zur Zeit der Weimarer Republik soll in Kapitel 2 Jaegers normativer Ansatz des Humanismus als geschichtskonstituierendes Bildungs- und Kulturprinzip und des ethisch-politischen Dritten Humanismus dargestellt werden. Zum Verständnis seiner Bildungsphilosophie ist die Erläuterung seines Bildungs- und Wissenschaftsbegriffes, des Konzepts der platonischen Bildungsaristokratie sowie der Bedeutung der alten Sprachen notwendig. Grundlage der Ausführungen sind überwiegend die Aufsätze aus den Humanistischen Reden und Vorträgen (HRV) sowie Passagen aus der Paideia. Nach einer kurzen kritischen Auseinandersetzung geht es in Kapitel 3 schließlich um die Aktualität der Programmatik Jaegers. Anhand der Positionen zahlreicher Autoren des Forum Classicum, einer Zeitschrift für den Griechisch- und Lateinunterricht, sollen die gegenwärtige Bedeutung und die Ziele humanistischer bzw. altsprachlicher Bildung erörtert werden.

1. Deskriptive Zeitdiagnostik: Die Orientierungslosigkeit der Moderne

Schon während des Ersten Weltkrieges beschreibt Werner Jaeger in einem Brief an seinen Freund und Lehrer, den Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, mit emotionaler Eindringlichkeit den paralysierenden Sinnverlust und die historische Entwurzelung des modernen Menschen:

Von Woche zu Woche reißt dieser Krieg tiefer die Fundamente auf, darauf das Leben bisher gebaut war, und je prinzipieller und quälender ich persönlich als junger Mensch die Probleme durchleben und kämpfen muss, je weniger ich irgendwo Festes um mich und in mir gewahr werde, desto mehr verfalle ich dem Schweigen. (24. Juli 1917)[1]

Die zum größten Teil in den 1920er Jahren verfassten und in den HRV gesammelten Aufsätze beinhalten eine genauere Analyse der von Jaeger konstatierten ausgeprägten geistigen, kulturellen und politischen Krise im Deutschland der Weimarer Republik. Jaeger kritisiert die kapitalistische Industriegesellschaft und die sie prägenden Massenphänomene wie die Massenkultur und -bildung, die mit einem Kultur- und Bildungsverfall gleichgesetzt wird, Massenideologien, die Massenproduktion, die Technisierung und die entfremdete Arbeitwelt:

Der Prozentsatz der Bevölkerung, der an dem geistigen Besitzstand unserer Nation wirklich inneren Anteil hat, nimmt im Zeichen der fabrikmäßigen Massenproduktion der Popularwissenschaft und der Einführung von Kino, Rundfunk und Taschenmikroskop auf der Schule von Jahr zu Jahr ab. […] dem Sinn und Ursprung der Kultur tief entfremdet, Beweis: die Massenflucht der Jugend, die Krisis des Arbeitswillens, die Überhandnahme des Materialismus und Spiritismus, […] starren wir, ermattet von Weltkrieg und Kulturkrisis, nach der Modetheorie vom Untergang des Abendlandes.[2]

Jaeger beschäftigt sich eingehend mit den Verfallstendenzen innerhalb der Bildungsinstitutionen der Schule und Universität. Schon um 1900 verliert das humanistische Gymnasium durch die Gleichstellung mit der Realschule seinen Monopolanspruch im höheren Schulwesen. Seine Bestandskrise wird evident, als nach dem Ersten Weltkrieg der altsprachliche Unterricht durch eine „Kulturkunde“ ersetzt werden soll, die von der Wesensverwandtschaft des antiken und deutschen Kulturguts ausgeht.[3] Trotz mehrerer Initiativen zur Rettung und Reformierung der klassischen Philologie Anfang der 1920er Jahre, an denen neben Jaeger auch Pädagogen wie Eduard Spranger mitwirken, wird 1925 im Rahmen der Preußischen Schulreform das Stundendeputat des Griechischen und Lateinischen erheblich gekürzt.[4]

Das Gymnasium stehe immer mehr für eine pragmatische und opportunistische Erziehung[5] und sei zu einer „spezialistischen Vorbereitungsanstalt zum Studium der historisch-philologischen Fächer“ verkommen, die ihre eigentliche Aufgabe der „Menschenbildung“ vernachlässige.[6] Auch die zunehmende Ausdifferenzierung der universitären Forschung berge „die Gefahr, dass der künstliche Zustand eines bis zur Zusammenhanglosigkeit getriebenen Spezialistentums in den Einzelwissenschaften vorübergehend Rückfälle in geistigen Primitivismus zeitigt […].“[7] Jaeger bemängelt die bloße Vermittlung von Geschichtsdaten und zusammenhanglosen Theorien, denen eine Zentralperspektive fehle:

In philologischen, historischen, theologischen und philosophischen Vorlesungen und Studien empfängt der Student viel historische Belehrung über tausend Dinge und Persönlichkeiten, er hört auch vereinzelte, die von den verschiedensten Gesichtspunkten her gefällt werden. Ein Totalbild erhält er nirgendwo.[8]

Dass diese Zentralperspektive nicht nur in einer fachspezifischen, sondern auch in einer ethischen Dimension zu deuten ist, zeigt sich, wenn Jaeger den Werteverlust beklagt und daher eine moralische Bildung innerhalb der einzelnen Wissenschaften fordert.[9] In diesem Zusammenhang desavouiert Jaeger die „vorwiegend historisch orientierte, sachlich- enzyklopädische’ Altertumswissenschaft des 19. Jahrhunderts […], der im Bestreben nach einer reinen Schau der realen Vorgänge der Vergangenheit die Antike ein bloßes, wenn auch bevorzugtes Stück Geschichte’ wurde, bei dem man ungern nach der Wirkung fragte’.“[10] Nicht zuletzt deshalb sei die klassische Philologie genauso wie die Philosophie in eine disziplinäre Randlage geraten.[11]

Besorgniserregend sei zudem die finanzielle Misere der Universitäten, die durch Lehrmittelknappheit, Raum- und Kohlennot sowie durch das „Elend der Proletarisierung der Professoren und Studenten“ gekennzeichnet sei.[12] Angesichts der referierten Gesellschafts- und Wissenschaftskritik sucht Jaeger nach einem normativen Bezugspunkt, um den in allen Bereichen des öffentlichen Lebens manifesten Verfallstendenzen entgegenzuwirken. Er findet diesen im antiken Humanismus wieder:

Wo ist der Ansatzpunkt des Humanismus in dieser veränderten Welt? […] Wie kommt das Leben unserer Zeit selbst der Antike entgegen?[13]

2. Normative Kritik: Der Humanismus als Anker der Geschichte und Kompass der Gegenwart

2.1 Der Humanismus als geschichtskonstituierendes Kultur- und Bildungsprinzip

Jaeger geht von einer lebendigen humanistischen Kontinuitätslinie aus, die sich wie ein roter Faden durch die abendländische Kulturgeschichte vom Hellenismus bis zur heutigen Zeit zieht und im Verlauf immer wieder bestimmte Höhepunkte der Antikerezeption, sogenannte Renaissancen, erfährt:

Im gewöhnlichen Sprachgebrauch nennt man Humanismus die Renaissance; von unserem Blickpunkt aus bedeutet es vielmehr die kontinuierliche bildungsgeschichtliche Traditionsbewegung, die in gewissen Abständen besondere Gipfel aufweist. Dies sind die Renaissancen, von denen wir heute im Plural zu sprechen pflegen. Es gibt so viele Arten von Humanismus, wie es Renaissancen gibt […] Humanismus ist mit anderen Worten keine vorübergehende Kulturerscheinung, sondern ein dauerndes Aufbauprinzip der abendländischen Kultur.[14]

Er wendet sich damit sowohl gegen die deterministischen Fortschrittsvorstellungen der marxistischen Geschichtsphilosophie als auch gegen eine nationalistisch zentrierte Historie oder gegen Oswald Spengler, der eine Tradierung antiker Kulturgüter in der neueren europäischen Geschichte negiert.[15]

Unter dem Aspekt des Humanismus als auf die Antike rekurrierendes Kultur- und Bildungsprinzip lassen sich folgende Stadien des Humanismus bzw. Renaissancen in der bisherigen Geschichte differenzieren: den römischen humanitas -Gedanken, den kirchlich-lateinischen Humanismus im Mittelalter, den Renaissance-Humanismus, den auf Deutschland beschränkten Neu-Humanismus oder Zweiten Humanismus sowie den ebenfalls deutschen Dritten Humanismus.[16]

[...]


[1] The Correspondence of Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff with Werner Jaeger, in: Calder, William M III. (Hrsg.): Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Selected Correspondence, 1869-1931, Antiqua 23, Neapel/Bonn 1983, S.178.

[2] Jaeger, Werner: Antike und Humanismus, HRV, S.110; vgl. auch Jaeger, Werner: Die geistige Gegenwart der Antike, HRV, S.178; Kritiker wie der Altertumswissenschaftler Manfred Landfester werfen Jaegers Zeitdiagnostik vor, sie beinhalte „stereotype Horrorgemälde“ und „Reizwörter antimodernistischer Einstellung“, die später von den Nationalsozialisten rezipiert wurden. [Landfester, Manfred: Die Naumburger Tagung ‚Das Problem des Klassischen und die Antike’ (1930). Der Klassikbegriff Werner Jaegers: seine Voraussetzung und seine Wirkung. in: Flashar, Hellmuth (Hrsg.): Die Altertumswissenschaft im Deutschland der zwanziger Jahre. Neue Fragen und Impulse, Stuttgart 1995, S.37]

[3] Vgl. Landfester, Manfred: Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der humanistischen Bildung in Deutschland, Darmstadt 1988, S.202ff.

[4] Vgl. Preuße, Ute: Humanismus und Gesellschaft. Zur Geschichte des altsprachlichen Unterrichts in Deutschland von 1890-1933, Frankfurt a.M. 1988, S.117ff.

[5] Vgl. Jaeger, Werner: Antike und Humanismus, HRV, S.122.

[6] Jaeger, Werner: Humanismus und Jugendbildung, HRV, S.69.

[7] Jaeger, Werner: Stellung und Aufgaben der Universität der Gegenwart, HRV, S.89.

[8] Jaeger, Werner: Begabung und Studium, HRV, S.279f.

[9] Ebenda, S.280.

[10] Panagl, Oswald: Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, in: Jens, Walter: Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 8, München 1990, S.544.

[11] Jaeger, Werner: Stellung und Aufgaben der Universität der Gegenwart, HRV, S.84.

[12] Ebenda, S.73.

[13] Jaeger, Werner: Die geistige Gegenwart der Antike, HRV, S.178.

[14] Jaeger, Werner: Antike und Humanismus, HRV, S.119.

[15] Vgl. dazu Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 1 Wien 1918 + Bd. 2 München 1922.

[16] Vgl. zu den einzelnen Stadien des Humanismus Riecks, R.: Humanismus, Humanität, in: Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.3, Basel 1974, S.1217-1220; Art. „Humanismus“, in: Brockhaus Philosophie. Ideen, Denker und Begriffe, Leipzig/Mannheim 2004, S.136-138.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Die Antike als Basis gegenwärtiger Neuorientierung - Zur Bildungsphilosophie Werner Jaegers
Hochschule
Universität Rostock  (Institut für Philosophie)
Veranstaltung
Bildung als philosophisches Problem
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
25
Katalognummer
V79399
ISBN (eBook)
9783638867870
Dateigröße
519 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Antike, Basis, Neuorientierung, Bildungsphilosophie, Werner, Jaegers, Bildung, Problem
Arbeit zitieren
Sophia Gerber (Autor:in), 2007, Die Antike als Basis gegenwärtiger Neuorientierung - Zur Bildungsphilosophie Werner Jaegers, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79399

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