Zu: Paul Gerhardts "O Haupt voll Blut und Wunden"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Historischer Kontext
2.1. Allgemeinhistorischer Kontext
2.1.1. Individualisierung in der Frühen Neuzeit
2.1.2. Leiblichkeit, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit
2.1.3. Sterben und Tod in der Frühen Neuzeit
2.2. Religions- und theologie-historischer Kontext
2.2.1. Mystik und lutherische Orthodoxie
2.2.2. Soteriologie der lutherischen Orthodoxie
2.2.3. Gesang und lutherische Frömmigkeit

3. Zur Person Paul Gerhardts (1607 - 1676)
3.1. Vita
3.2. Werk und Wirkung
3.3. Lebenssituation Gerhardts zum Entstehungszeitpunkt des Lieder „O Haupt voll Blut und Wunden“

4. O Haupt voll Blut und Wunden
4.1. Text
4.2. Textbezogene Interpretation
4.3. Wirkungsgeschichte

5. Fazit: O Haupt voll Blut und Wunden als Zeugnis seiner Zeit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im Rahmen des Seminarthemas „Kirchenlieder als historische Quelle“ beschäftigten sich im Sommersemester 2006 Studenten am Kieler Institut für Kirchengeschichte und Kirchliche Archäologie unter Anleitung von Prof. Dr. Dr. h.c. Lehmann mit verschiedenen Kirchenliedern, deren historischer Gehalt durch Referieren und Diskutieren erörtert worden ist.

Vorrangiges Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den von Paul Gerhardt verfassten Hymnus O Haupt voll Blut und Wunden in seiner Funktion als Ausdruck einer bestimmten (kirchen-)historischen Epoche – der Frühen Neuzeit – zu untersuchen und markante Aspekte derselben an seinem Beispiel exemplarisch kenntlich zu machen; daneben wird kurz auf seine Wirkungsgeschichte eingegangen werden.

Überblicksartig leiten Artikel bezüglich bestimmter Aspekte der Zeitgeschichte durch die Arbeit. Diese Artikel können die durch sie angerissenen Themen selbstverständlich niemals erschöpfend behandeln, sondern vermitteln lediglich einen ersten Eindruck.

Die Arbeit schließt mit einem kurzen Fazit auf Grundlage der zuvor gewonnenen Erkenntnisse.

2. Historischer Kontext

2.1. Allgemeinhistorischer Kontext

2.1.1. Individualisierung in der Frühen Neuzeit

Im Zusammenhang mit der Reformation[1] und der als „Dreissigjähriger Krieg“ (1618-1648) bezeichneten Serie militärischer Kampagnen setzt in allen Bereichen von Theologie, Kirche und Gesellschaft ein „fundamentaler Mentalitätswandel“ hin zu mehr Individualismus ein. Das protestantische Religionsrecht unterscheidet erstmals zwischen öffentlicher und privater Religionsausübung und das bis dahin die religiösen Medien dominierende Personalpronomen „wir“ weicht dem individuellen „ich“.[2] Diese Entwicklung fusst auf der reformatorischen Annahme davon, dass jeder Gläubige in einem unmittelbaren Gottesverhältnis steht, nur Gott und dem eigenen Gewissen gegenüber verantwortlich ist und keiner religiösen Mittlerschaft durch Amtskirche, Priester oder Sakramente mehr zur Aneignung des Heils bedarf. Autonom verantwortet der Einzelne seinen Glauben und erweitert seinen religiösen Horizont.[3] Dabei ermöglicht es insbesonder auch die Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts ihrem Konsumenten, die eigenen regionalen und konfessionellen Beschränkungen lesend zu überwinden.[4]

2.1.2. Leiblichkeit, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit

Im Zuge der in der Frühen Neuzeit aufkommenden „säkularisierten Philosophie, wie sie beispielhaft René Descartes (1596-1650) [schafft],“ und der neuen Anatomie gerät der menschliche Körper, verstanden als Teil der ihn umgebenden Natur, erstmals seit langem wieder in den Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses. Die frühneuzeitlichen Anthropologen betrachten ihn als „selbsttätige Maschine“.[5]

Hieraus resultiert ein Mentalitätswandel in Bezug auf das Verhältnis von Vernunft und Leidenschaft (Trieb): hatte man unter dem Eindruck der antiken und christlichen Tradition die Vernunft lange als Herrscher über die Leidenschaft angesehen, so gewinnt jene nun erstmals an „positivem, vor allem eigenständigen Wert“.[6] Nicht länger wird die Leidenschaft wie bei dem bis dahin den philosophisch-theologischen Diskurs bestimmenden Thomas von Aquin (1225 – 1275) als Reaktion des Körpers auf eine seelische Regung betrachtet, sondern, so etwa Descartes, umgekehrt als durch Aussenreize ausgelöste Bewegung des Körpers, die sich auf die Seele überträgt. Letztere verliert die Verantwortlichkeit für ihre Leidenschaften.[7]

2.1.3. Sterben und Tod in der Frühen Neuzeit

Bei der Frühen Neuzeit handelt es sich um eine Epoche, „in der das Sterben und der Tod, auch der schmerzhafte und langsame, allgegenwärtig [sind] und sich nicht hinter Mauern, sondern öffentlich voll[ziehen]“.[8] „Gewöhnliche, unspektakuläre Krankheiten gegen die es keine Medizin [gibt], die hohe Kindersterblichkeit, die stete Angst vor dem Abgleiten in Armut und Bedürftigkeit, speziell beim Tod eines Elternteils, sowie das frühzeitige Altern [machen] eine Konfrontation mit dem Tod unumgänglich“[9] und das „Nachdenken über den Tod [wird insbesondere für den barocken Menschen] zu einem Problem, dem der einzelne sich in den verschiedenen Abschnitten seines Erdendaseins nähert“.[10] Künstler stilisieren ihn als „Sensemann, [...] Knochengerüst, [...] Parze, die den Lebensfaden abschneidet, de[n] ungebetenen [, d.h. auch unerwarteten und plötzlich auftretenden] Gast auf der Schaubühne des Lebens“[11], und die literarische Todesmeditation – meditatio mortis – im Sinne einer quasi sinnlichen Selbstwahrnehmung des Sterblichen – insbesondere auch im religiösen Horizont – steht in voller Blüte[12].

Zwei einander verstärkende Krisen verleihen dabei der Problematik der menschlichen Sterblichkeit besondere Dringlichkeit: die um 1570 einsetzende so genannte „kleine Eiszeit“ und der Dreissigjährige Krieg (1618-1648). Die kleine Eiszeit, ein Klimaumschwung hin zum Kälteren, führt zu geringeren Erntemängen, evoziert Hunger und verursacht schließlich eine allgemeine Wirtschaftskrise, unter der insbesondere die weniger vermögenden Bevölkerungsschichten leiden.[13] Der Dreissigjährigen Krieges verschärft die wirtschaftlichen Versorgungsenpässen und die aus ihnen resultierenden Plagen „Hunger, Krankheiten [und] Seuchen“, und tötet so mittelbar vor allem „Alte, Kranke und Kinder“. Er – in Verbindung mit der kleinen Eiszeit – kostet so zwischen 20 und 45 Prozent der vor Konfliktbeginn in Deutschland lebenden Bevölkerung, d.h. insgesamt zwischen 15 und 21 Millionen Menschen, das Leben.[14]

2.2. Religions- und theologie-historischer Kontext

2.2.1. Mystik und lutherische Orthodoxie

Die lutherische Orthodoxie greift in Kirchenlied, Erbauungsliteratur und Anleitung zum geistigen Leben auf zumeist ältere mystische Quellen zurück und bedient sich in Betrachtungen etc. mystischer Motive wie Wunden und Blut Christi, ohne dabei jedoch eine eigene spezifisch mystische Lebensform oder Theologie zu entwickeln. Besonders im Kontext des von der lutherischen Orthodoxie gedachten ordo salutis ist dabei der Gedanke der unio mystica, der „Vereinigung de[s] Glaubenden mit Gott bzw. Jesus Christus“[15], wesentlich.[16] Ihr Zustandekommen basiert gemäß evangelischer Schuldogmatik des 17. Jahrhunderts „auf Gottes Heilshandeln in Jesus Christus und nicht auf [einem] vom Menschen ausgehenden Versuch der Erhebung zu Gott“.[17]

Am Beispiel des lutherisch-orthodoxen Theologen Johann Arndt (1555-1621), der „einflußreichsten Gestalt der lutherischen Christenheit seit den Tagen der Reformation“[18], wie Johannes Wallmann urteilt, kann man exemplarisch das Verhältnis der lutherischen Orthodoxie zur Mystik nachvollziehen. Arndts Anliegen ist es, Ethik, wahre Lehre und christliches Leben zusammenzuhalten und zur Heiligung in Christo zu führen.[19] In diesem Sinne formuliert er – anders z.B. als Jacob Böhme – keinen eigenen Ansatz, sondern revitalisiert ausgehend von seinem evangelischen Rechtfertigungsglauben, den er als christliches Fundament voraussetzt[20], die traditionelle und im Verlauf der Reformation in Vergessenheit geratene mittelalterliche Mystik. Zu den von Arndt häufig rezipierten Autoren gehören neben Tauler und Meister Eckhart u.a. auch Thomas von Kempen (Imitatio Christi), Johann von Staupitz und besonders der „für die mittelalterlich-romanische Mystik [...] wichtigste Theologe[]“, der hl. Bernhard von Clairvaux.[21]

[...]


[1] Van Dülmen, Richard, Die Entdeckung des Individuums. 1500 – 1800 (Europäische Geschichte), Frankfurt a.M. 1997, 19.

[2] Kaufmann, Thomas, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur (Beiträge zur historischen Theologie 104), Tübingen 1998, 82f.

[3] Van Dülmen, Entdeckung, 19.

[4] Lehmann, Hartmut, Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot (Christentum und Gesellschaft 9), Stuttgart 1980, 122.

[5] Van Dülmen, Entdeckung, 63f.

[6] Ebd.

[7] Talon-Hugon, Carole, Art.: Vom Thomismus zur neuen Auffassung der Affekte im 17. Jahrhundert, in: Krebs, Jean-Daniel (Hg.), Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit (Jahrbuch für Internationale Germanistik 42), Bern/ Berlin/ Frankfurt a.M./ New York/ Paris/ Wien 1996, [65]-69.

[8] Van Dülmen, Richard, Art.:3. Das Schauspiel des Todes. Hinrichtungsrituale in der Frühen Neuzeit, in: Ehalt, Hubert Ch. / Konrad, Helmut (Hgg.), Gesellschaft der Frühen Neuzeit: Kulturelles Handeln und sozialer Prozeß. Beiträge zur historischen Kulturforschung (Kulturstudien. Bibliothek der Kulturgeschichte 28), Wien / Köln / Weimar / Böhlau 1993, [104].

[9] Holtz, Sabine, Theologie und Alltag. Lehre und Leben in den Predigten der Tübinger Theologen 1550-1750 (Spätmittelalter und Reformation. N.R. 3), Tübingen 1993, 290.

[10] Wentzlaff-Eggebert, F.W., Art.: Das Problem des Todes in der deutschen Dichtung des Barock, in: Jansen, Hans Helmut (Hg.), Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst (Sonderausgabe aus Zeitschrift für Gerontologie 11), Darmstadt 1978, 182.

[11] Schipperges, H., Art.: Das Phänomen Tod, in: Jansen, Hans Helmut (Hg.), Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst (Sonderausgabe aus Zeitschrift für Gerontologie 11), Darmstadt 1978, 16.

[12] Wodianka, Stephanie, Betrachtungen des Todes. Formen und Funktionen der >meditatio mortis< in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts (Frühe Neuzeit 90), Tübingen 2004, 163.

[13] Schmidt, Georg, Der Dreissigjährige Krieg, München 62003, 12f.

[14] Ebd., 88-90.

[15] Nüssel, Friederike, Art.: Unio mystica. II. Dogmatisch, RGG4 8 (2005), 746f.

[16] Köpf, Ulrich, Art.: Mystik. 3. b. Mittelalter bis Neuzeit, in: RGG4 5 (2002), 1670.

[17] Nüssel, Unio mystica, 747.

[18] Wallmann, Johannes, Art.: Johann Arndt und die protestantische Frömmigkeit. Zur Rezeption der mittelalterlichen Mystik im Luthertum, in: Breuer, Dieter (Hg.), Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland (Chloe. Beihefte zum Daphnis 2), Amsterdam 1984, [50].

[19] Braw, Christian, Bücher im Staube. Die Theologie Johann Arndts in ihrem Verhältnis zur Mystik (SMRT 39), Leiden 1986, 43f.

[20] Ebd., 46f.

[21] Wallmann, Frömmigkeit, [50]-69.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Zu: Paul Gerhardts "O Haupt voll Blut und Wunden"
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Institut für Kirchengeschichte und Kirchliche Archäologie)
Veranstaltung
Kirchenlieder als historische Quelle
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
19
Katalognummer
V79505
ISBN (eBook)
9783638868013
ISBN (Buch)
9783638868396
Dateigröße
455 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Paul, Gerhardts, Haupt, Blut, Wunden, Kirchenlieder, Quelle
Arbeit zitieren
Jan Langfeldt (Autor:in), 2006, Zu: Paul Gerhardts "O Haupt voll Blut und Wunden", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79505

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