Androgynie in "Wilhelm Meisters Lehrjahren" - Eine sozialhistorische Analyse ausgewählter Charaktere


Seminararbeit, 2007

17 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Problemstellung und sozialhistorischer Hintergrund der Analyse

2 Das biologische Geschlecht in distinktiver und normierender Funktion

3 Amazonen und Hermaphroditen: legitime und illegitime Geschlechterverwirrung
3.1 Therese – die wahre Amazone
3.2 Natalie – Vom Frauenzimmer über die schöne Amazone zur schönen Seele
3.3 Mignon – Hermaphrodit und Engel

4 Abschließende Betrachtung

5 Literaturverzeichnis

1 Problemstellung und sozialhistorischer Hintergrund der Analyse

Androgyne[1] Figuren üben seit Jahrtausenden eine Faszination auf den Menschen aus. Der Hermaphrodit und die Amazone sind zwei intersexuelle Figuren, deren Bewunderung sich der Mensch lange unterwarf. Dieser Bann endet allerdings zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert. Aus Wunderwesen werden Monster und Problemfälle.[2]

Mit den Lehrjahren veröffentlichte Goethe ein Werk, welches den zeitgenössischen Wandel vom Ein-Geschlecht-Modell zum Zwei-Geschlechter-Modell nach Thomas Laqueur und die damit verbundene Problematik der Geschlechterzuordnung präzise skizziert. Wo zunächst die Existenz eines einzigen Geschlechts angenommen wird, wovon Männer und Frauen abstammen, betrachtet das letztere Modell zwei von einander unabhängige – sich aber ergänzende – biologische Geschlechter. Entscheidend ist, dass die Geschlechterdifferenz auf einen naturalisierten biologischen Unterschied basiert, und dass das biologische Geschlecht die Funktion und Rolle der Menschen in der Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts bestimmt. Männlichkeit und Weiblichkeit korrespondieren nicht mehr mit einer sozialen Rolle oder Funktion, sondern mit einer biologisch fundierten Identität.[3] „Die Anatomie wird zum Schicksal und eröffnet ein Feld, auf dem das Verhältnis von Neigungen, sozialem, juristischem und anatomischem Geschlecht nicht länger gleichgültig bleibt.“[4] Das bedeutet, dass die Anatomie[5] des Menschen in den Mittelpunkt von Entscheidungsfragen und Klassifikationen gerät und die Entscheidung, welches das „wahre Geschlecht“ eines Menschen ist, verschiedenen Entscheidungsträgern zugeschrieben werden kann, wie zum Beispiel der Medizin.

Unter diesem sozialhistorischen Hintergrund sollen im Folgenden die androgynen Figuren Therese, Natalie und Mignon betrachtet werden. Wodurch unterscheiden sich Amazonen von Hermaphroditen? Welche Definitionen wirft der Roman auf? Warum ist Therese die „wahre“ Amazone und Natalie die „schöne“ Amazone? Sind sie überhaupt Amazonen? Und wenn Mignon auch androgyne Attribute aufweist, was unterscheidet sie von den anderen Figuren? Warum ist sie ein Hermaphrodit und keine Amazone?

Geschlechterverwirrung ist eine wesentliche Auswirkung von intersexuellem Verhalten und Auftreten, die von der Gesellschaft auch unterschiedlich aufgefasst werden. Dadurch stellt sich die Frage, warum durch die Maskerade der Figuren die einen eine Legitimierung erfahren, die anderen aber mit Sanktionen rechnen müssen? Welche Rolle spielt (Ver)kleidung für Amazonen und Hermaphroditen?

2 Das biologische Geschlecht in distinktiver und normierender Funktion

Amazonen – mythologisch betrachtet – können als Wesen aufgefasst werden, die sich einer patriarchal organisierten Welt gewaltsam entziehen und widersetzen und sich in einer matriarchalen Welt reorganisieren.[6] Ter Horst beschreibt, dass „Goethe’s late eighteenth-century reinterpretation of the Amazon myth also reflects a moment of transition [...]“, der Wandlung vom Ein-Geschlecht-Modell zum Zwei-Geschlechter-Modell, „grounded this time in „nature“ or biology.“[7] Betrachtet man die Definitionen dieser zwei Modelle, wie sie in der Einleitung dieser Arbeit kurz erläutert worden sind, kann man daraus schließen, dass die Amazonengestalt bei Goethe nicht auf einen biologischen Unterschied verweist, sondern auf die Geschlechtsidentität und eine gesellschaftlich distinktive Wahrnehmung. Darunter fiele auch die Rolle und Funktion der Frau in der Gesellschaft, die in den folgenden Kapiteln über Therese und Natalie noch behandelt werden sollen.

Hermaphroditen – mythologisch betrachtet – können als zwitterhafte Wesen betrachtet werden, welche männliche und weibliche äußere Geschlechtsmerkmale aufweisen. Der Schwerpunkt ihrer Beschreibung liegt auf den äußeren biologischen Merkmalen.[8] Die Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender) spielt also auch bei Amazonen und Hermaphroditen eine Rolle und stellt die Frage, welche dominierend bzw. bestimmend ist. Obwohl Judith Butlers philosophischer Erklärungsansatz, dass das biologische Geschlecht kulturell bestimmt ist[9], eine weit verbreitete Annahme der Genderforschung widerspiegelt, spielt sie bei der sozialhistorischen Beobachtung einzelner Passagen der Lehrjahre in dieser Arbeit eine geringe Rolle. Denn gerade die Annahme, dass das biologische Geschlecht als Unterscheidungsfaktor von Mann und Frau auch für eine Differenzierung und Definierung der Geschlechtsidentitäten zuständig ist, ermöglicht in den Lehrjahren eine essentielle Unterscheidung zwischen Therese und Natalie als Amazonen einerseits und Mignon als Hermaphrodit andererseits.

3 Amazonen und Hermaphroditen: legitime und illegitime Geschlechterverwirrung

Im Folgenden soll drei Charakteren besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden: Therese, deren emanzipierte Mannsweiblichkeit sie zur wahren Amazone in einer von Männern dominierten Umgebung macht; Natalie, der schönen Amazone, die auf Grund ihres ersten Erscheinens fälschlicher Weise zur Amazone erklärt wird; und Mignon, deren biologisches Geschlecht und deren Geschlechtsidentität sich gegen jede Norm richtet und sie als Hermaphrodit zum Außenseiter macht. Drei Figuren werden vorgestellt, die auf unterschiedliche Weise Geschlechterverwirrung verursachen. Es scheint sogar, dass ein (ungeschriebenes) Gesetz diese zu legitimieren oder zu sanktionieren versucht: die Wahrheit um das biologische Geschlecht.

3.1 Therese – die wahre Amazone

Als Wilhelm von Jarno mit der Entführung Lydias beauftragt wird, verspricht dieser seinem Freund eine Belohnung für seine Mühen. Die Aufwandsentschädigung ist:

ein Frauenzimmer, wie es ihrer wenige gibt; sie beschämt hundert Männer, und ich möchte sie eine wahre Amazone nennen, wenn andere nur als artige Hermaphroditen in dieser zweideutigen Kleidung herumgehen.[10]

Wilhelm vermutet und hofft hinter dieser Person seine Amazone wieder zu finden, die ihm zuvor das Leben gerettet hat, und willigt in den Plan ein. Obwohl die Erwartung seine Amazone wieder zu sehen enttäuscht wird, trifft Wilhelm auf eine wahre Amazone, die von Kindheit an sich eindeutigen Geschlechterrollen und -attributen zu entziehen und mit diesen umzugehen weiß.

Therese verwaltet Hab und Gut selbst. In ihrem kleinen Haus verrichtet sie alles alleine – ihre Köchin ist weggelaufen, der Knecht hat seine Hand verletzt. Nun ist sie Köchin und Knecht zugleich – zwei geschlechtsspezifischen Funktionen, die sie in sich vereint, was zur Profilierung der wahren Amazone von Beginn an beiträgt. Eine wesentlich männlichere Domäne repräsentiert die Verwaltung der Güter, die Therese ebenso geschickt meistert:

Sie müssen nicht denken, [...] dass ich so reich bin, um einen Verwalter zu brauchen; die wenigen Äcker meines Freigütchens kann ich wohl selbst bestellen.[11]

Obendrein hilft sie ihrem Nachbarn und seinem Verwalter sich in der Gegend einzurichten. Petra Willims Vorschlag Therese als „Fachfrau für agrarökologische Planung“ zu bezeichnen findet hier vollen Zuspruch.[12] Therese spiegelt das traditionelle Frauenbild nicht eindeutig wieder und vertritt das wohl typischste männliche Attribut jener Zeit: Selbstständigkeit.[13]

Die Begründung ihres fremden, Norm abweichenden Verhaltens, das ihr vollkommen bewusst ist, liefert Therese ebenfalls selbstbewusst:

wenn Sie erst erfahren werden, was mich dazu belebt hat [solch wirtschaftliches Geschick vorzuweisen], so werden Sie sich über das sonderbar scheinende Talent nicht mehr wundern.[14]

[...]


[1] Die Verwendung des Begriffs „Androgynie“ wird in Anlehnung an Aurnhammers Definition verwendet: A. „soll hier jede Relation zweier komplementärer Elemente heißen, die eins waren, eins sind oder eins sein möchten, sofern die Komplementäritet geschlechtlich erkennbar ist.“ (Androgynie, S. 2). Hermaphroditen und Amazonen sollen somit als androgyne Figuren aufgefasst werden.

[2] Vgl. Das wahre Geschlecht in: Foucault: Hermaphrodismus, S. 7ff.; Schäffner und Vogl in: ebd., S. 219f.; Aurnhammer: Androgynie, S. 30ff.

[3] Laqueur: Auf den Leib geschrieben, S. 80 und S. 172; ter Horst: Transformation of Gender, S. 3f.

[4] Schäffner und Vogl in Foucault: Hermaphrodismus, S. 221.

[5] Anatomie meint in diesem Zusammenhang das biologische Geschlecht.

[6] Hederich: Mythologisches Lexikon, S. 203-207.; ter Horst: Transformation of Gender, S. 70-72.

[7] ter Horst: Transformation of Gender, S.72.

[8] Vgl. Hederich: Mythologisches Lexikon. S. 1258-1260.

[9] Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 24; ter Horst: Transformation of Gender, S. 4-5.

[10] Goethe: Lehrjahre, S. 361.

[11] Ebd.: S. 365.

[12] Willim: Frauengestalten, S. 207.

[13] Bezüglich weiblicher Emanzipation und ökonomischer Selbstständigkeit in den Lehrjahren vgl. Willim: Frauengestalten, S. 203-245.

[14] Goethe: Lehrjahre, S. 366. Eigene Ergänzung und Vorhebung.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Androgynie in "Wilhelm Meisters Lehrjahren" - Eine sozialhistorische Analyse ausgewählter Charaktere
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für deutsche Sprache und Literatur)
Veranstaltung
Einführungsseminar 2. Teil: Goethe
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
17
Katalognummer
V79519
ISBN (eBook)
9783638868167
ISBN (Buch)
9783638868280
Dateigröße
435 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar der Dozentin: Eine stilistisch ausgezeichnete, stringent argumentierende Arbeit auf hohem theoretischen Niveau. Sekunderliteratur wird angemessen berücksichtigt, der Roman selbst wird dabei nie aus den Augen verloren.
Schlagworte
Androgynie, Wilhelm, Meisters, Goethe, Gender, Mignon, Lehrjahre, Therese, Hermaphrodit, Hermaphrodismus
Arbeit zitieren
Carol Szabolcs (Autor:in), 2007, Androgynie in "Wilhelm Meisters Lehrjahren" - Eine sozialhistorische Analyse ausgewählter Charaktere, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79519

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