Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Armut – eine Begriffsbestimmung
2. Verschuldung
2.1 Ursachen der Verschuldung
2.2 Aktueller Schuldenstand
2.3 Strukturanpassungsprogramme (SAP)
3. Schuldenerlass
3.1 Begründungsansätze für eine Schuldenreduzierung
3.2 Schuldenerlass für die HIPC-Länder
3.3 Internationales Insolvenzrecht – Ein Lösungsansatz?
4. Eine wirtschaftsethische Betrachtung
4.1. Zukunftsethik
4.2. Verantwortungsbewusstsein
4.3. Ethik der absoluten Verantwortung
4.4. Utilitarismus
4.5. Diskursethik
4.6. Gerechtigkeitsethik
5. Schlussfolgerung
6. Anhang
7. Literatur
Eine wirtschaftsethische Betrachtung der
internationalen Schuldenkrise
„Denn die einen sind im Dunkeln, und die andern sind im Licht.
Und man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“
(Bertolt Brecht)
1. Armut – eine Begriffsbestimmung
Bevor wir eine wirtschaftsethische Betrachtung der internationalen Schuldenkrise vornehmen möchten, ist eine genaue Definition von „Armut“ – dem vorherrschenden Zustand in den Schuldnerländern – unerlässlich. Denn bevor auf mögliche Ansätze zur „Bekämpfung“ der Armut eingegangen wird, stellt sich die Frage, was überhaupt „bekämpft“ werden soll (vgl. SÜDWIND e.V., 2001, S. 6).
In der Fachliteratur wurde häufig das Einkommen der Menschen verschiedener Staaten als Maßstab für Armut genommen. Die Weltbank nannte Menschen arm, die mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen mussten. Das ist der Betrag, der zur Deckung des Mindestbedarfs an Ernährung ausreichen soll. Doch Menschen in den reichen Industrieländern können mit einem Einkommen arm sein, das sie in armen Staaten zu wohlhabenden Menschen machen würde. Daher wurden in weiteren Schritten nationale bzw. regionale Schwellenwerte festgelegt, die zwischen zwei Dollar für Lateinamerika und der Karibik über vier Dollar für Länder in Osteuropa und der GUS bis hin zu 14,40 Dollar für die Industrieländer schwanken (vgl. UNDP[1], 1997, S. 39).
Neben dem Einkommen ist allerdings eine Vielzahl von weiteren Aspekten zu berücksichtigen. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme, UNDP) unterscheidet zwischen Einkommensarmut und menschlicher Armut. Dies erlaubt eine bessere Annäherung an das Phänomen der Armut in der Welt: „Armut manifestiert sich in den Entbehrungen, die das Leben der Menschen bestimmen. Armut bedeutet häufig nicht nur das Fehlen notwendiger Voraussetzungen für materielles Wohlbefinden, sondern auch die Vorenthaltung von Chancen auf eine erträgliches Leben. [...] Entscheidend sind die Möglichkeiten, ein langes und gesundes Leben zu führen, Bildung zu erwerben und einen angemessenen Lebensstandard zu genießen. Sie werden ergänzt durch politische Freiheiten, garantierte Menschenrechte und verschiedene Elemente der Selbstachtung“ (UNDP 1997, S. 17ff).
Armartya Sen, der 1998 den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt, hat eine Grundlage geschaffen, um Armut messbar zu machen. In seinem Buch „On Economic Inequality“ (1997) fordert er, dass man statt Geld die „capability[2] " vergleichen sollte. Marris (2001, S. 28) versteht darunter – etwas frei ausgelegt – den Begriff „Lebensqualität“, d.h., dass die „capability“ einer Person daran gemessen werden kann, ob und in welchem Umfang sie in der Lage ist, das Leben zu führen, das sie führen möchte. Dieser Begriff reicht von elementaren Bedürfnissen (Ernährung u.a.) bis hin zur Selbstverwirklichung des Einzelnen und seiner Teilnahme am sozialen Leben in der Gemeinde. Durch diese Begriffsbestimmung gelangt Sen zu einer umfassenderen Beschreibung von Armut: die „capability deprivation“, also die Verhinderung der Entwicklung individueller Fähigkeiten. Nach Marris (2001, S. 29) beinhaltet dieses Konzept zwei Aspekte: einmal den physischen, sozialen und psychologischen Prozess, der Wünsche oder Ambitionen weckt, zum anderen das persönliche und soziale Umfeld, das ihn daran hindert, diese zu verwirklichen.
Angesichts des Reichtums in den Industrieländern und des beachtlichen Wohlstandes der oberen Einkommensschichten in den Entwicklungsländern (EL) ist das Ausmaß der absoluten Armut ein globaler Skandal, denn Armut kann durch gezielte politische Maßnahmen wirkungsvoll verringert werden (Messner, 2002, S. 37). Ähnlich sieht es Myrdal (1980, S, 28, zitiert in Enderle, 1992, S, 134), der Armut nicht als ein „zu vernachlässigendes Nebenprodukt des Wirtschaftswachstums ansieht, sondern als den Testfall und Prüfstein für eine humane und gerechte Wirtschaft – einer Wirtschaft, die nicht als maßloser, sich verselbstständigender Expansionsprozess von Kapital, sondern als Versorgungswirtschaft zur Deckung menschlicher Bedürfnisse verstanden wird, in der die produktiven und distributiven Aspekte des Wirtschaftens sehr eng ineinander verwoben sind und in dem alle in den Wirtschaftsprozess Involvierten nicht als bloße Objekte figurieren, sondern sich als Subjekte beteiligen können.“
Wie soll nun die Armut in der Welt bewertet werden? Nach Sautter (1991b, S. 119) ist die sozial-darwinistische Betrachtungsweise, in der Armut als eine zu akzeptierende Folge des individuellen und gesellschaftlichen Wettkampfes um Ressourcen verstanden werden kann, abzulehnen. Bemühungen um eine Armutsbekämpfung wären dann gegenstandslos, außerdem entfiele auch jede wirtschaftsethische Bewertung des Problems. Wir teilen diese Ansicht Sautters und sehen die bestehende Armut vielmehr als eine ökonomische Herausforderung zu ihrer Überwindung, d.h. als ein wirtschaftsethisches Problem.
Wirtschaftsethik ist immer bezogen auf wirtschaftliches Handeln (vgl. Herms, 1991). Vom wirtschaftlichen Handeln wird gefordert, dass es rational sein soll. Rational kann es nur sein, wenn seine Zwecke begründet sind und wenn das Handeln geeignet ist, diese Zwecke zu erreichen.
„Unabhängig davon, welche weltanschauliche Prämisse jeweils dem Handeln zu Grunde gelegt wird, muß also unfreiwillige Armut als ein Zustand verstanden werden, der im Widerspruch zum Letztziel menschlichen Lebens steht und deshalb zu einem Handeln herausfordert, das diesen Zustand überwindet. Mit anderen Worten: Armutsbekämpfung ist moralisch geboten“ (Sautter, 1991b, S. 122).
2. Verschuldung
Im Folgenden möchten wir einige Daten und Zusammenhänge zur Entstehung und zum Ausmaß des Schuldenproblems anführen. Ethische Erwägungen sind wenig hilfreich, wenn sie nicht auf Faktenkenntnis aufbauen.
2.1 Ursachen der Verschuldung
In der Vielzahl vorhandener Literatur zu dieser Thematik finden sich mehrere Ursachen für die dramatische Zunahme der Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer (zusammenfassend nach Reichel, 1994, S. 111ff). Als externe Gründe, welche die Ursache der Misere bei den Industrieländern suchen, gelten
- der Verfall der Rohstoffpreise und die Preissteigerung für Importgüter,
- die Geschäftspolitik der Banken in den Industrieländern, die eine leichtfertige Kreditvergabe bewirkte, da Petrodollars und die Gewinne der internationalen Konzerne angelegt werden mussten,
- die internationalen Zinssteigerungen in der Folge der Ronald Reagan’schen Wirtschaftspolitik (1981-1989) in den USA,
- die Tatsache, dass die Entwicklungsländer mehr importieren als exportieren können,
- Gewinnrücktransfers der multinationalen Unternehmen.
Man fragt sich allerdings sofort, warum die Schuldenkrise die Entwicklungsländer in so unterschiedlichem Ausmaß getroffen hat. Es müssen also auch interne Gründe, die den betroffenen Entwicklungsländern zugeschrieben werden können, vorliegen. Dazu gehören
- kreditfinanzierte, aber wenig produktive Infrastrukturinvestitionen,
- Kreditverwendung zur Finanzierung von Prestigeobjekten,
- Korruption und persönliche Bereichung der Führungseliten in der sogenannten Dritten Welt,
- Verwendung der Kredite zum Aufbau des militärischen Repressionsapparates,
- Kapitalflucht[3].
2.2 Aktueller Schuldenstand
Die jüngsten Veränderungen bei der Schuldensituation spiegeln in erster Linie die Reaktionen auf die Finanzkrise von 1997/1998 wider (OECD[4], 2001, S.75). Die Gesamtschulden der Entwicklungs- und Transformationsländer beliefen sich zum Jahresende 2000 auf 2527, 5 Mrd. US $, eine Summe, die freilich ihren Schrecken verliert, wenn man sie ins Verhältnis zum BIP[5] dieser Länder (37,4%), oder den Schuldendienst[6] ins Verhältnis zu den Exporten (17,0%) setzt. Beide Messgrößen haben sich in den letzten Jahren deutlich (in Bezug auf nahezu alle Entwicklungsregionen) verbessert, die Verschuldung ist nur noch mäßig gestiegen, 2000 sogar erstmals nominal zurückgegangen. Knapp 3/5 der Gesamtschulden entfallen auf private Gläubiger, 1/4 auf bilaterale, 1/6 auf multilaterale Geber (Betz und Brüne, 2001, S. 14).
2.3 Strukturanpassungsprogramme (SAP)
In den neunziger Jahren haben sich zahlreiche zuvor finanziell gesunde Länder tief verschuldet. Zugleich haben sich die meisten der Staaten, die bereits in den achtziger Jahren riesige Schulden gemacht hatten, nicht wieder erholt. Im Laufe dieser zwei Jahrzehnte sind viele innovative Maßnahmen zur Verbesserung der Situation durchgeführt worden. Daran beteiligt waren vor allem der Internationale Währungsfonds[7] (IWF) und die Weltbank[8] mit ihren Programmen und Krediten zur Strukturanpassung. Die Strukturanpassungsprogramme (SAP) wurden zum neuen Grundprinzip von IWF und Weltbank, weil sie als vielversprechendes Mittel galten, zugleich langfristiges Wachstum und Verantwortungsbewusstein auf Seiten der Regierungen der EL sicherzustellen (Sassen, 2001, zitiert in Info pol. 274, S. 38).
Die Gewährung der Kredite wurde von den internationalen Banken an wirtschaftspolitische Auflagen gebunden, die drei zentrale Zielsetzungen beinhalten (Fengler, 1999, S. 30):
1. Makroökonomische Stabilisierung
2. Marktkonforme Preisstrukturen
3. Institutionelle Reformen (Effizienzsteigerung des staatlichen Sektors)
Die Vorgaben des IWF waren immer gleich und orientierten sich an dem sogenannten „Washingtoner Konsens“ zwischen IWF, der Weltbank und der US-Zentralbank (siehe Anhang). Hier waren die wirtschaftspolitischen Leitlinien der Zukunft definiert worden. Diese entsprechen dem, was in der Wirtschaftstheorie als neoliberaler oder neoklassischer Ansatz bekannt ist: Weniger Staat, mehr Markt. Wie schon der Gründer der klassischen Theorie Adam Smith (1723-1790) predigte, sollte von nun an die unsichtbare Hand des Marktes auch die Überwindung von Unterentwicklung in den Ländern der sogenannten Peripherie der kapitalistischen Weltwirtschaft erreichen (vgl Smith, 1983).
Dabei setzte man auf den sogenannten „trickle down“ (Durchsickerungs-) Effekt. Diese Theorie nimmt in Kauf, dass Wachstum zunächst nur für das reichste obere Fünftel der Gesellschaft eine Verbesserung der Situation mit sich bringt. Es wird davon ausgegangen, dass diese Verbesserungen langfristig „durchsickern“ und so auch die Situation der Armen verbessert wird. Diese Theorie gilt heute (vgl. SÜDWIND e.V., 2001, S. 8) zwar weitgehend als überholt, doch wird bei genauer Analyse deutlich, dass die ihr zugrundeliegende Logik auch in den neuen Ansätzen der Armutsbekämpfungsstrategie integriert ist.
Die SAP wurden in allen Krisensituationen eingesetzt, ohne dass dabei die in den Krisenländern vorherrschenden nationalen und regionalen Besonderheiten berücksichtigt worden sind. Die Praxis hat jedoch gezeigt, dass solche Maßnahmen in den meisten Fällen an der Realität vorbeigehen und zu einer Verschärfung von sozialen Ungleichheiten führen. Damit ist die entscheidende Ursache von wachsender Verschuldung nicht beseitigt, sondern sogar ausgeweitet worden. Die Statistiken von UNDP belegen, dass die Reichen durch die SAP immer reicher wurden. Doch es „sickerte“ nichts zu den Armen durch. Es wurde immer offensichtlicher, dass die armen Länder nicht durch ein Wirtschaftswachstum aus der Krise herauswachsen würden. Es gelang weder, die Armut in den betroffenen Staaten zu senken, noch waren diese nach den Reformen in der Lage, ihre Schulden zu bezahlen. Daher kommt die Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen zu einem eindeutigen Urteil: „Der erste Schritt zur Überwindung ist die Verringerung von Ungleichheiten“ (UNDP, 1997, S. 133). Dass die Liberalisierungs-, Privatisierungs- und Fiskalpolitik der SAP gerade die arme Bevölkerung stark belastet, wird noch einmal explizit vom Weltentwicklungsbericht 2000 der Weltbank bestätigt (Unmüßig & Walther in Schuldenreport 2000, S. 32 ).
3. Schuldenerlass
Die Staatshaushalte der EL waren einerseits durch den zu leistenden Schuldendienst und andererseits durch die strikten wirtschaftspolitischen Auflagen der IWF-Strukturanpassungsprogramme unter Druck geraten. „Verwendungskonkurrenz der knappen Mittel“ nennt das der Bundesverband Deutscher Banken (1999). Anfang der 90er Jahre jedenfalls setzten die hochverschuldeten Länder einen Großteil ihres Schuldendienstes – zunächst an die bilateralen Gläubiger - aus. Zur Überraschung vieler Beobachter machten die Weltbank und der IWF 1996 einen neuen Vorschlag. Da es nur durch die von ihnen vorgeschriebenen SAP nicht möglich war, die Situation der armen Länder zu verbessern, sollten diesen nun Schulden erlassen werden (SÜDWIND e.V., 2001, S. 13). In diesem Zusammenhang fordert Eisenblätter (1999) in seiner Rede auf den Eschborner Fachtagen die Abkopplung der Entschuldung von Auflagen durch Weltbank und IWF. Zur Entschuldung der EL wird nicht zuletzt seitens der Kirche argumentiert, dass, so berechtigt die Gläubigerforderungen auch seien, die hohen Zins- und Tilgungszahlungen auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen würden. Die Option für die Armen erfordere eine weltweite Solidarität – sozusagen als ethisches Gegenstück zur Globalisierung (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Institut der deutschen Wirtschaft Köln, 1999, S.1).
[...]
[1] United Nations Development Programme – Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen.
[2] Nach Sen ist dies die Befähigung, etwas zu erreichen bzw. die Möglichkeit zur Entfaltung individueller Fähigkeiten.
[3] Kapitalflucht liegt vor, wenn Devisenhändler ihr Vermögen ganz oder teilweise ins Ausland transferieren , und zwar in Staaten mit gesunder Wirtschaft und stabiler Rechtsordnung.
[4] Organisation for Economic Cooperation and Development – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
[5] Bruttoinlandsprodukt
[6] Jährliche Zahlungen an Tilgung und Zinsen der aufgenommenen Kredite.
[7] Der IWF wurde 1944 gegründet, um Staaten bei akuten Zahlungsschwierigkeiten kurzfristig aus der Not zu helfen. Inzwischen haben fast alle Staaten Anteile am IWF. Bei allen wichtigen Entscheidungen ist jedoch zu beachten, dass sich die Stimmrechte am Anteil der jeweiligen Staaten orientieren. Den mit Abstand größten Einfluss haben die USA (17,35 %), gefolgt von Japan (6,23 %), Deutschland (6,08 %) sowie Großbritannien und Frankreich (je 5,02 %). Die 120 Entwicklungsländer – ohne Osteuropa und China – verfügen zusammen gerade mal über rund 25 % der Stimmrechte (Stand 9.9.1999). Entsprechend gering ist ihr Einfluss auf die Entscheidungen.
[8] Die „Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung“, kurz Weltbank genannt, wurde zusammen mit dem IWF 1944 gegründet. Die Weltbank ist mittlerweile für viele EL der mit Abstand größte Kreditgeber.