Wege aus dem Drogendilemma

Repression in Deutschland - Akzeptanz in der Schweiz


Diplomarbeit, 1998

112 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Drogengebrauch in den vergangenen Jahrzehnten
1.1. Historischer Hintergrund des Opiatgebrauchs im deutschen Raum
1.2. Die sechziger Jahre - Renaissance des illegalen Drogengebrauchs
1.2.1. Einschub: Tote Musiker - lebendige Kulte - falsche Mythen
1.3. Die Jahre 1970 - 1974: Die „Harte Szene“ entwickelt sich

2. Hilfsysteme in der abstinenzorientierten Drogenhilfe
2.1. Die Rolle der Therapeuten
2.2. Substitution - Opiatverschreibung und die Rolle der Mediziner
2.2.1. Einschub: Schmerztherapie mit Opioiden.

3. Gründe, warum sich Menschen trotz alledem für den Gebrauch harter Drogen entscheiden.
3.1. Der materielle Reiz des Lebens als Dealer
3.2. Fixer/Dealersein als Lebensstil
3.2.1. Soziale Komponenten des Fixerdaseins

4. Kritik an der traditionellen Sichtweise von Opiatsucht und ihrer Bekämpfung
4.1. Gründe für zunehmende Kritik
Zusammenfassung

5. Unterschiedliche Sucht- und Abhängigkeitsdefinitionen
5.1. Sucht als Bestandteil der Gesellschaft
5.1.1. Substanz- oder stoffgebundene Süchte
5.1.2. Prozess- oder stoffungebundene Süchte
5.1.3. Gefördert, geduldet, abgelehnt. Vom unterschiedlichen Umgang mit ähnlichen und gleichen Suchtphänomenen

6. Traditionelles Suchtverständnis - Erweitertes Sucht -verständnis. Eine Gegenüberstellung aus „Zürcher Sicht“
6.1. Die traditionelle Problemdefinition (Sucht als Krankheit)
6.2. Die erweiterte Problemdefinition ( Der Mensch in einer Krise)

7. Das Zürcher Modell. Vorbild für Deutschland?
7.1. Veränderte Politik - veränderte Meinungen
7.2. Die Initiative „Jugend ohne Drogen“
7.2.1. Initianten und Ziel der Initiative
7.2.2. Ergebnisse der Volksabstimmung am 28.09.1997
7.2.3. Analyse im Spiegel der Zürcher Presse

8. Die vierte Säule der Drogenpolitik in der Schweiz: Die Überlebenshilfe
8.1. Kurzer historischer Abriß über die Drogenproblematik in Zürich
8..2. Der Urknall für Fixerstuben: Das Autonome Jugendzentrum am Anfang der achtziger Jahre
8.1.3. Der Needle-Park: Platzspitz ab 1986
8.1.4. Der Letten ab 1992
8.2. Was ist unter der Überlebenshilfe im Einzelnen zu verstehen?
8.2.1. Ziele; Zielgruppen.
8.2.2. Einrichtungen

9. Die Kontakt- und Anlaufstellen (K.& A.) und Gassenzimmer
9.1. Das Angebot einer Kontakt- und Anlaufstelle
9.1.1. Cafeteria
9.1.2. Hygienische und sanitäre Einrichtungen
9.1.3. Einfache medizinische Grundversorgung
9.1.4. Beschäftigung
9.1.5. Beratung, Vermittlung, Sachhilfe, Betreuung
9.2. Die Gassenzimmer
9.2.1. Konzeption
9.2.2. Der Aspekt der ärztlichen Betreuung in Gassenzimmern
9.2.3. Einige statistische Zahlen über den Betrieb
9.3. Sozialarbeit in einer K.& A.

10. Das Projekt Lifeline/Crossline. Die Heroinabgabe in Zürich.
10.1. Auszüge aus den Erfahrungen der Pilotphase 01.12.1993 - 31.12.1996
10.1.1. Niederschwelligkeit
10.1.2. Arbeitshypothesen
10.1.3. Zielgruppen
10.1.4. Abgabemodalitäten
10.1.5. Betreuungskonzept
10.1.6. Substanzen
10.2. Die Auswirkungen auf die Teilnehmer
10.2.1. Gesundheitlicher Bereich
10.2.2. Psychischer Bereich
10.2.3. Psychosoziale Situation und Betreuung
10.3. Heroinvergabe - Abstinenz - Entzug

Schlussbetrachtung

Literaturliste

Zu dieser Diplomarbeit

Diese Diplomarbeit tangiert relativ viele Bereiche, die zwar alle in irgendeiner Form mit Drogen zu tun haben, aber vielleicht nicht in unmittelbarem Zusammenhang stehen. So geht es im Inhalt nicht nur um eine gegenwärtige Situationsanalyse in der BRD und eine weitere Forderung nach „Akzeptierender Drogenarbeit/politik“.

Für mich selbst war es notwendig, meinen Wissensstand zu Methadonvergabe und Therapie in Deutschland etwas aufzufrischen, aber auch die Frage nach dem Erfolg und Nutzen von solchen Hilfsangeboten in einer abstinenzorientierten Drogenarbeit/politik zu stellen. Geschichtliche Hintergründe spielen dabei auch eine Rolle, mehr als ursprünglich geplant. Speziell hierzu gibt es aber weitaus detaillierter abgefaßte Diplomarbeiten und Literatur als diese Diplomarbeit.

Die von mir sehr geschätzten Musiker Jimi Hendrix und Jim Morrison finden genauso ihre Erwähnung, wie die Möglichkeit der Schmerztherapie mit Opioiden. Diese beiden Themen wurden im Laufe der Entstehung dieser Arbeit plötzlich wichtig und finden als sogenannteEinschübeihren Platz.

Da sich das Kapitel „Das Zürcher Modell. Vorbild für Deutschland?“ überwiegend auf die Erfahrungsberichte des Projektes „Lifeline“ stützt, war es auch nötig, einen Einschub über das politische System der Schweiz zu machen, besonders wegen der Volksinitiative „Jugend ohne Drogen“ die am 28.09.1997 von der Mehrheit des Schweizer Stimmvolkes abgelehnt wurde.

Besonders der „Schweizer Teil“ der Diplomarbeit wurde während seiner Entstehung immer wichtiger und beanspruchte am Schluß ziemlich genau die Hälfte der gesamten Arbeit. Das war ursprünglich anders geplant...

Trotzdem fällt auf, daß immer wieder Dinge verbreitet werden über das Schweizer Modell, die nicht oder nicht ganz richtig sind. Deshalb das Ganze etwas ausführlicher und hoffentlich informativ.

Der leichteren Lesbarkeit (und „Tippbarkeit“...) wurde in dieser Diplomarbeit auf „In“-Endungen usw. verzichtet. Es versteht sich von selbst, daß in allen Zusammenhängen von beiden Geschlechtern die Rede ist.

Besonderen Dank an

Tatjanafür´s Korrigieren,

Peterfür´s Diskutieren,

AnkeundJoachimfür die Literatur,

MeinemVaterfür das Anti-Viren-Programm, das diese Arbeit von einem Computer-Virus befreite,

Heidifür die Unterstützung beim Thema „Volksabstimmung“ und „VPM“,

Sonja, FabianundIrenefür die „Schweizer“ Literatur,

und alle, die an dieser Diplomarbeit schon vor Fertigstellung Interesse gezeigt haben.

Mannheim, im Frühjahr 1998

1. Drogengebrauch in den vergangenen Jahrzehnten

1.1. Historischer Hintergrund des Opiatgebrauchs im deutschen Raum

Die Anwendung von Opium beispielsweise als Heil-, Genuß-, und Rauschmittel ist bereits aus dem vorchristlichen Altertum belegt. So zeigen etwa Funde aus der Schweiz, Südfrankreich und Italien, daß der Anbau von Mohn schon um 4000 v. Chr. bekannt war. Medizinhistorisch betrachtet zählen Opiate - ebenso wie Hanfprodukte - zu den ältesten pharmakologisch genutzten Substanzen. In Deutschland gewannen opiumhaltige Tinkturen erst zu Beginn des Mittelalters an medizinischer Bedeutung; spätestens ab dem 16. Jahrhundert kamen sie jedoch auch hier als wichtigste Analgetika und Sedativa zum Einsatz. Die Erfindung zweckmäßiger Injektionsspritzen durch den Franzosen Pravaz und den Briten Ferguson sowie die Entwicklung der subkutanen Injektionstechnik im Jahre 1853 führten dazu, daß vor allem das bereits um 1804 von dem Paderborner Apotheker F. W. Sertürner isolierte und bereits um 1820 von der Firma Merck & Co. kommerziell hergestellte OpiumalkaloidMorphiumeine größere medizinische Verbreitung fand, da es mittels Injektion direkt in den Blutkreislauf gelangen und so schneller seine Wirkung entfalten konnte. Darüber hinaus wurde der Umstand, daß sich Morphium - im Gegensatz zu Opium - nicht oral, sondern nur intravenös oder subkutan verabreichen ließ, zunächst als Vorteil angesehen, da so eine kontrollierte Applikation gewährleistet schien. Doch bereits während des preußisch-österreichischen Krieges von 1866 und kurz darauf im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 kam es erstmals zu einer massenhaften und unkontrollierten Anwendung des Morphiums als Universalschmerzmittel, mit der Konsequenz, daß zahllose Soldaten morphiumabhängig wurden und zeitlebens von dieser Droge nicht mehr loskamen. Die damals von den Militärärzten beobachtete und als Soldatenkrankheit bezeichnete Entzugssymptomatik beim Absetzen der Morphiuminjektionen wurde jedoch nicht als Merkmal einer Abhängigkeitserkrankung erkannt. So wurde nach Kriegsende das Morphium derart beliebt, daß man den Kreis der Indikationen kritiklos erweiterte und die Morphiumeinspritzung zu einer förmlichen Modeerscheinung wurde. Um 1870 wurde die Krankheit „Morphinsucht“ zwar erkannt und zunehmend in der Literatur beschrieben, jedoch das Verabreichungsverhalten der meisten Ärzte änderte sich - u.a. wohl auch aus Profitgründen - nicht. 1878 glaubte der US- amerikanische Arzt W.H. Bentley ein Mittel zur Behandlung der Morphinsucht gefunden zu haben: das 18 Jahre zuvor von dem Göttinger Forscher A: Niemann isolierte Hauptalkaloid der Cocapflanze,Kokain. Ein Teil der Morphinisten, die so behandelt wurden, verfielen nun, statt von ihrer Krankheit befreit zu werden, außer dem Morphium auch noch dem Kokain. Das Krankheitsbild des „Morphino-Cocainismus“ wurde jedoch recht schnell erkannt und das Kokain wurde nicht mehr als Heilmittel gegen den Morphinismus eingesetzt. Opiate und Kokain blieben bis 1896 rezeptfrei in Apotheken erhältlich. Erst ab diesem Zeitpunkt mußten sie gekennzeichnet sein und durften bei wiederholten Käufen nur gegen Rezept abgegeben werden

1897 gelang dem Bayer- Chemiker Hoffmann die Re-Synthese des erstmals von dem Briten C.R. Wright im Jahre 1874 synthetisierten, aber nicht zur Vermarktung gebrachten Dyacetylmorphins. Nach kurzer klinischer Erprobungsphase kam die alsHeroinbekannte Substanz als Atmungssedativum und Hustenmittel auf den Arzneimittelmarkt. Es sorgte - zusammen mit dem ebenfalls von der Firma Bayer seit 1896 produzierten Aspirin - rasch für Rekordumsätze in aller Welt. Als Injektionspräparat erlangte Heroin jedoch unter deutschen Drogengebrauchern bis zu Beginn der 70-er Jahre unseres Jahrhunderts keine nennenswerte Bedeutung.

Bis zur Jahrhundertwende hatten Opiate als Genuß- oder Rauschmittel in Deutschland kaum Verbreitung gefunden. Fälle von Opium- oder Morphiumgenuß waren so vereinzelt und auf einen so exklusiven Teil der Bevölkerung beschränkt, daß sie kaum medizinisches oder hygienisches Interesse boten. Auch der Kreis von Kokainkonsumenten blieb zahlenmäßig unbedeutend und war im wesentlichen auf Künstler und Intellektuelle begrenzt, die sich bis dato durch eine eher unpolitische Haltung auszeichneten. (Engemann/Gerlach, 1994 nach: Julien, S.9, 10)

Um das Jahr 1900 herum existierten in Wien, Berlin und München avantgardistische Zirkel, in denen Kokain und Morphium als Reizmittel genommen wurden und von denen aus sich der hedonistische Gebrauch nach dem 1. Weltkrieg auch über die literarisch-künstlerischen Zusammenhänge hinaus in unkonventionellen Lebensstilkreisen verbreitete. Verknüpft mit der Psychoanalyse, mit revoltierenden Künstlern ( Gottfried Benn, Stefan George, Else Lasker-Schuler, Georg Trakl, Hans Fallada) und den Nachtseiten der modernen Großstädte wurden Morphinismus und Kokainismus zu Sinnbildern einer provozierend oppositionellen Haltung gegenüber der herrschenden Kultur.(Scheerer, Vogt, 1989, S.286f.)

Die Hauptgruppe der Abhängigen bildeten jedoch süchtig gewordene Patienten und Angehörige der Heilberufe, die einen relativ leichten Zugang zu den entsprechenden Stoffen wie dem als Hustenmittel entwickelten und vertriebenen Heroin hatten. Fürsiestellte sich der Gebrauch dieser Drogen nicht als Mittel der Abgrenzung zum sozio-kulturellen Kontext dar,sondern als ein nach Möglichkeit zu verschleierndes Leiden

(ebd.,286 f.)

Da jedoch die Suchtstoffe für die Morphinisten zugänglich waren und vor allem der Gebrauch überhaupt nicht gesetzlich sanktioniert, bestand auch keine Notwendigkeit, sich in einer „Szene“ zusammenzufinden, wie das in den siebziger Jahren in Deutschland der Fall werden sollte.

Auf Seiten des Gesetzgebers bestand vorerst kein Handlungsbedarf. Der überwiegend durch ärztliche Behandlung erzeugte Morphiumhunger wurde nicht als feindseliger Akt auf die normative Verfassung der Gesellschaft, sondern als bemitleidenswerte Krankheit definiert. Diese Drogenabhängigen wurden im Gegensatz zu den Alkoholikern nicht als gesellschaftliche Problemfälle definiert, da sie sich vornehmlich aus einem sozial-integrierten, gesellschaftliche Normen und Werte akzeptierenden Personenkreis rekrutierten und Konformität bewahrten.

(Engemann/Gerlach 1994, nach: Julien, S.11)

Erst mit dem verlorenen Weltkrieg wurde im Jahre 1919 mit dem Artikel 295 des Versailler Vertrages das Deutsche Reich in die sich mehr und mehr zu einem international entwickelnden System der Drogenverfolgung eingebunden. Der Erlaß entsprechender Gesetze wurde diktiert und findet seinen Niederschlag im „Gesetz zur Ausführung des Internationalen Opiumabkommens vom 23. Jan. 1912 vom 30. Dez. 1920“: Es regelte den Bezug von Opium und Kokain und bedrohte Zuwiderhandlungen mit Gefängnis oder Geldstrafen. Allerdings änderte dies wenig an der allgemein vorherrschenden Meinung, daß der Mißbrauch von Narkotika immer noch medizinischen Charakter hatte.

Noch im Jahr 1923 sah Gustav Aschaffenburg, der damals wohl bedeutenste Kriminologe Deutschlands, keinen Anlaß für strafrechtliche Maßnahmen: “Der Opiummißbrauch ist in Deutschland und in ganz Europa ohne jede Bedeutung; wohl ist bekannt geworden, daß in vereinzelten Großstädten Opiumhöhlen eingerichtet worden sind, und daß es ihnen an Zuspruch nicht fehlt. Doch wird man aus solchen einzelnen Fällen keine weitreichenden Schlußfolgerungen ziehen dürfen. Morphium wird hauptsächlich von den Gebildeten mißbraucht, vor allem von den Berufsarten, denen es leicht zugänglich ist. Ein Volksgift im eigentlichen Sinne wird es wohl nie werden.

(Scheerer, Vogt, 1989,S.285).

Deutschland hatte es auch nicht eilig mit der Ratifizierung des 1925 geschlossenen Genfer Opiatabkommens - erst im Juni 1929 fand es seine Umsetzung: Die Verwendung der Narkotika wurde auf medizinische und wissenschaftliche Zwecke eingeschränkt, Bezugschein- und Erlaubnisvorschriften wurden verschärft. Allerdings war selbst jetzt noch der gängige Weg der Beschaffung offen: Ausdrücklich ausgenommen war der Kauf und Besitz von Kokain und Opium auf ärztliches Rezept. Allerdings zeigte sich ein Wandel im Bewußtsein der Ärzte: Auf ihrem 47. Deutschen Ärztetag in Danzig lehnten sie die Verschreibung von Opiaten an Abhängige ab. Der damals gültige Konsens war, daß es sich bei der Abhängigkeit von Opiaten um ein psychiatrisches Problem handle und deshalb auch Psychiater und nachfolgend Soziotherapeuten für die Abhängigen zuständig seien. Das Krankheitsbild, das man als Trunksucht bezeichnete, hatte Modellcharakter, was sich auch in der Terminologie niederschlug:

Nachdem sich Laehr in einer ersten Beschreibung des Mißbrauchs von Morphiuminjektionen an den „alcoholismus chronicus“ erinnert sah, sprach der Berliner Arzt Eduard Levinstein (1831-1882) im Jahre 1873 von der „Morphiumsucht“ . In den achtziger Jahren folgt der Begriff der Cocainsucht (Freud), dann folgen die Heroin- , Veronal- , Chloralhydralsucht usw., als deren Oberbegriff sich schließlich der Terminus „Giftsucht“ anbietet.

(Scheerer, Vogt 1989, S.13)

Im Rahmen der verschärften sozialen Konflikte am Ende des vergangenen Jahrhunderts kam es zum sogenannten „Elendsalkoholismus“ besonders in den unterprivilegierten Schichten. Dieses Verhalten, kombiniert mit dem Terminus „Sucht“ war geeignet, als Argument für die Minderwertigkeit des Proletariats verwendet zu werden. So kam es zu einer Anlegung strenger moralischer Maßstäbe in der Beurteilung von Substanzabhängigkeiten und - im Bürgertum - zu der Überzeugung,daß nur sozial Unfähige und psychisch Minderwertige der Sucht verfallen könnten.

(Scheerer, Vogt, 1989, S.13)

Mit dem Aufkommen sozialdarwinistischen Gedankengutes und der Rassenbiologie gewannen solche Vorstellungen noch weiter an Boden. Sie finden ihre schärfste Ausprägung in den Gesetzen zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933, die die Zwangssterilisation von Alkoholikern und Opiatabhängigen vorsahen. Diese Bevölkerungsgruppe geriet somit in die Nähe sogenannten „lebensunwerten“ Lebens, und es gibt auch Schätzungen, die die Zahl während des Dritten Reiches ermorderter Alkoholiker und „Rauschgiftsüchtiger“ bei 50000 ansiedeln

(Scheerer, Vogt; 1989, S.13)

Die Nationalsozialisten bedienten sich in ihrer Propaganda hemmungslos bereits bestehender Stereotypen die auch nach 1945 nicht verschwanden.

In revidierten Fassungen aus den Jahren 1933 und 1934 blieb das Opiumgesetz bis 1971 in Kraft.

1.2. Die sechziger Jahre - Renaissance des illegalen Drogengebrauchs

Vor den Anfängen der Bewegungen am Ende der Sechziger war an der Drogenfront soweit Ruhe eingekehrt, daß man den nichtmedizinischen Gebrauch von Opiaten für ein Relikt der Vergangenheit hielt. So war im Jahre 1963 die Anzahl der wegen Opiatgebrauchs verurteilten Personen unter 100 gesunken.

Selbst im Jahre 1968 war über Heroin so gut wie nichts bekannt, niemand schien zu wissen, wie es überhaupt aussah, selbst die Polizei nicht, die im ganzen Jahr gerade einmal 1 Gramm davon sicherstellte.

(Scheerer, Vogt;1989, S.287)

Am Ende der sechziger Jahre wurde der Gebrauch von Drogen im Rahmen studentischer Unruhen und politischer Bewegungen wieder aktuell. So empfand z.B. dieKommune1um Reiner Langhans und Uschi Obermeier „Haschischrauchen als revolutionär, Bier hingegen als konterrevolutionär“ (Spiegel Nr. 27, 1997, S.100). Rockmusiker begannen mit Drogen zu experimentieren, z.B. nahmen dieBeatles1967 ihr epochales WerkSgt. PeppersLonely Hearts Club Bandunter dem Einfluß von LSD und Haschisch auf.

Die Hippie-Bewegung war fasziniert vom östlichen Prinzip, die persönlichen und materiellen Bedürfnisse auf ein Minimum zu reduzieren, um sich damit von Konsum- und Produktionszwängen zu befreien. Sie übernahm jene Hilfsmittel, die zum Erreichen der Meditations-, Verinnerlichungs- und Entsagungszustände zu gehören schienen - Drogen. Aus dem Ineinandergreifen der Kritik an bestehenden Gesellschaftsverhältnissen und der Aufnahme asiatischer und orientalischer Selbstverwirklichung sowie des Drogenkonsums entwickelten sich die Hippieparolen zu einer Ideologie der Drogensubkultur. Die Droge wurde zum Symbol einer Anti-Gesellschaft.( Engemann/Gerlach, nach Julien: 1996, S.13)

Neben langen Haaren, sexueller Revolution, dem Hören von entsprechender Rockmusik, nahm der Gebrauch von Drogen wieder die Stellung ein, die jede Droge vor ihrer Etablierung und späterer gesellschaftlicher Akzeptanz einmal hatte:

Drogen sind symbolische Kampfmittel, sie dienen dazu, die eigene Identität und Machtstellung zu stärken und die der Gegner abzuwerten, und zwar weniger, um den Gegner auszuschalten, sondern eher dazu, sich von ihm nach oben hin abzusetzen.

(Quensel in: Stöver u.a., 1991, S. 65)

Nun erwuchs aus dieser Form der Jugendkultur eine soziale Infrastruktur aus locker verknüpften Teilszenen mit bestimmten sozio-kulturellen Attributen (...) und politisch-weltanschaulichen Gemeinsamkeiten (antiautoritär, gegen den Vietnamkrieg). In dieser Szene spielte Heroin kaum eine bedeutende Rolle. Experimente mit injizierbaren Substanzen, wie z.B. die „Berliner Tinke“, bestehend aus Morphium als Base, mit Essigsäure und anderem gemeinsam aufgekocht, blieb auf Randgruppen beschränkt. Die sogenannte weiche Szene bildete sich jedoch aus Jugendlichen der mittleren sozialen Schichten. (Scheerer, Vogt, 1989, S.287)

Die in der Folge der 68-er Bewegung gebildeten subkulturellen Netzwerke und Szenen bildeten jedoch ein Fundament für die in den Anfängen der Siebziger explosionsartig ansteigende Zahl von Heroinkonsumenten.

1.2.1. Einschub: Tote Musiker - lebendige Kulte - falsche Mythen

„Ich werde das tun, wonach ich mich fühle. Aber im Moment kann ich nichts fühlen.“

(Jimi Hendrix in einem Interview zwei Wochen vor seinem Tod)

„Wenn ich hinterm Haus einen Berg Koks hätte, ich würde ihn schnupfen - weil er da ist.“

(Jim Morrison zu seiner Freundin Pamela während einer kurzen, aber heftigen Kokain-Phase)

Es wäre eine interessante Arbeit, die Zusammenhänge zwischen populärer Musik, dem Lebensstil der Musiker und ihren Fans zu erforschen. Allerdings ist dies nicht Bestandteil dieser Diplomarbeit - außerdem gäbe dieses Thema genug Stoff für eine eigene, recht umfangreiche Arbeit ab. Da der historische Teil dieser Diplomarbeit jedoch hier an der Wende von den Sechzigern zu den Siebzigern angelangt ist, soll hier auf den Tod dreier Musiker jener Zeit, nämlichJanis Joplin, JimiHendrixundJim Morrisoneingegangen werden, insbesondere die Mythen um ihren Tod sowie die Unwahrheiten darüber. Die Frage mag erlaubt sein, inwiefern dies für diese Diplomarbeit relevant sein mag. Die Antwort ist ganz einfach: Sie gehören zu den wohl populärsten Herointoten überhaupt und das, obwohl dies zumindest bei zwei von ihnen, nämlich Hendrix und Morrison überhaupt nicht der Fall war.

ZuJanis Joplingibt es in diesem Zusammenhang nicht allzuviel zu sagen. Sie war tatsächlich auf der Dachterasse eines Hotels an einer Überdosis Heroin gestorben. Die Jahre zuvor hatte sie Heroin abgelehnt, da sie der Ansicht war, daß Southern Comfort, von dem sie angeblich eine Flasche täglich konsumierte, ihr genug an angenehmen Rauscherlebnissen bieten könne. Dieser exzessive Lebensstil hatte wohl auch bereits seine Wirkungen hinterlassen. Zu einer ausgedehnten Fixerkarriere reichten ihre körperlichen Kräfte wahrscheinlich nicht: Bei ihrem Tod wiesen ihre Unterarme lediglich 14 Einstiche auf. Sie starb im Alter von 27 Jahren.

Der FallJimi Hendrixweist hier schon mehr Ungereimtheiten auf und ist auch symbolisch für den Umgang der Fans und der Medien mit so spektakulär in Erscheinung tretenden Persönlichkeiten wie ihm und ihrem Drogenkonsum. Hendrix verkörperte wie kaum ein anderer das Lebensgefühl der Sechziger Jahre: Er schuf völlig neue musikalische Dimensionen und blieb als Gitarrist für Jahrzehnte ein Vorbild für folgende Gitarristengenerationen. Seine spektakulären Shows, eindeutig sexuell geprägt, teilweise gewalttätig, sein extravagantes Auftreten faszinierten und faszinieren Fans bis heute. Zu den Mythen, die sich um seine Person ranken, zählt auch sein früher Tod im Alter von 27 Jahren, der fälschlicherweise immer noch auf eine Überdosis Heroin zurückgeführt wird. Tatsache ist, daß Hendrix ein paar Schlaftabletten eingenommen hatte, um nach einer relativ anstrengenden Phase von Konzerten einen Tag durchzuschlafen. Ob er sich in der Menge verschätzt hatte, ob er gar bewußt in Selbstmordabsicht zuviel einnahm, steht dahin.

Früh am nächsten Morgen bemerkte Monika Dannemann ( Hendrix Freundin. Anm. d. Verf.), daß Hendrix nachts erbrochen hatte, aber da sein Atem scheinbar ruhig ging und er normal zu schlafen schien, lief sie mal eben zum Laden an der Ecke, um Zigaretten zu holen. Nach ihrer Rückkehr konnte sie ihn nicht mehr aufwecken. In ihrer Panik rief sie Eric Burdon (Sänger der „Animals“, Anm. d. Verf.) an, der sie anschrie, sie solle den Krankenwagen holen. Die Ambulanz kam auch gleich, aber irgendwie hatte man Hendrix beim Transport auf den Rücken gelegt, und da sein Körper durch die Tabletten vollständig gelähmt war, konnte er das Erbrochene nicht ausspucken und ist einfach daran erstickt.(...) Am Morgen des 18. September starb Jimi Hendrix, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben(...) Er war siebenundzwanzig Jahre alt.

(Murray, 1990, S.73)

Als abschließendes Ergebnis der Obduktion wurde festgestellt, daß Hendrix weder zum Zeitpunkt seines Todes, noch zuvor heroinabhängig war.

(Jimi Hendrix, Warner Home Video, Abspann)

Es bleibt noch hinzuzufügen, daß Monika Dannemann 1997 ihrem Leben ein Ende setzte. Die niemals verstummenden Vorwürfe, sie habe Hendrix´ Tod verschuldet, waren ihr zuviel geworden.

Interessant im Falle Hendrix in diesem Zusammenhang ist, daß das anfängliche Gerücht, er sei an einer Überdosis Heroin gestorben, sich in weiten Kreisen bis heute hält. Es mutet fast schon seltsam an, daß selbst „Der Spiegel“, der laut eigenen Angaben über eine relativ große Rechtsabteilung verfügt, die die Berichte der Korrespondenten auf mögliche Fehler durchleuchtet, sich von der „Heroinleiche“ Hendrix nicht trennen möchte. So meldet „Der Spiegel“ in seiner Ausgabe vom 21.09.1970 unter der Rubrik „Gestorben“:

Jimi Hendrix, 24. (.) Am letzten Freitag starb er nach einer Drogeninjektion.

Weder das Alter, noch die Todesursache stimmen. 1989 schreibt „Der Spiegel“ in seiner Ausgabe „Spiegel Spezial: Geißel Rauschgift“:

Doch als der Cannabisdampf über Woodstock verraucht war, als „Velvet Underground“- Sänger Lou Reed mit dem Song „Heroin“ auch das Schweigen über die gefährliche Droge gebrochen hatte, da wuchs die Skepsis. Denn von nun an zählte man die Toten: Im Juli 1969 fand man den Rolling Stones- Gitarristen Brian Jones, 27, leblos im Swimmingpool, Ursache: Asthmaanfall nach Rauschgiftgenuß. Im September starb der Gitarrengott Jimi Hendrix, 27, ein paar Wochen später die 27jährige Sängerin Janis Joplin, im Juli 1971 Doors- Frontmann Jim Morrison.

(Spiegel-Spezial 1/89, S.27)

Zumindest stimmte dieses Mal Hendrix´ Alter. Es fällt auf, daß zwar im Falle des Rolling Stones - GitarristenBrian Jonesdie (tatsächlichen) Todesumstände genau beschrieben werden, bei den anderen jedoch überhaupt nichts erwähnt wird über das Wo, Wann und Wie.

Nun soll diese Richtigstellung der Todesumstände im Falle Hendrix nicht (nur) der „Ehrenrettung“ des Musikers dienen. Außerdem war er wohl in puncto Drogengebrauch kein Waisenknabe, sein exzessiver Genuß von LSD und Marihuana ist verbürgt und spiegelt sich auch in seiner Musik. Trotzdem drängt sich der Eindruck auf, daß - quasi als Abrundung des Kultes um die umstrittene Persönlichkeit Jimi Hendrix - nur der Herointod als angemessenes Ende dieses Lebens erscheint. Es ist eigentlich nicht sehr wahrscheinlich, daß eine seriöse, sauber recherchierte Publikation, wie man sie vom „Spiegel“ eigentlich erwartet, an den wirklichen Fakten vorbeikommt. OffenbardarfHendrix gar nicht anders zu Tode gekommen sein - weder für die Sensationspresse, noch für die Fans ( von denen es bis heute auch noch die meisten nicht zur Kenntnis nehmen oder nehmen wollen) und auch nicht für den „Spiegel“. Hendrix ist ein weiterer, kleiner (?) Mosaikstein in dem unglaublich großen Gebilde aus Halb- und Unwahrheiten, die das Heroin und den Tod durch Heroin zu einem Kult aufbauschen.

Zuletzt sei anJim Morrisonerinnert. Die Erwähnung Morrisons ist deshalb interessant, da es ihm und seiner BandThe Doorsgelungen ist, ähnlich wie denBeatlesein unvergängliches Stück Musik auf Platten zu pressen, die von Generation zu Generation unabhängig von aktuellen Strömungen weitergegeben wird. The Doors sind vielen Jugendlichen immer noch ein Begriff und ihre Titel durchaus geläufig. Im oben erwähnten „Spiegel“zitat findet man auch Morrison unter den „Heroinleichen“. Nun war Morrison aber ein harter Trinker, der sich selbst vom Marihuana nach einem relativ üblen Abenteuer auf Jamaika weitestgehend fernhielt:

Als ihm einer der schwarzen Diener Marihuana anbot, fürchtete sich Jim, wie er später sagte, es zurückzuweisen. So rauchte er einen Joint von der Größe einer Havanna und hatte dann einen „Freakout, der die Erfahrung meines eigenen Todes einschloß“. Erst Monate später griff Jim wieder zu einem Joint.

(Sugerman, Hopkins, S.231)

Mit seinem exzessiven Trinken, das in seiner Karriere zu einer ganzen Reihe von Eklaten und geplatzten und verpatzten Auftritten führte, und dem in seinen letzten Monaten auf 60 Zigaretten pro Tag angewachsenen Tabakkonsum ruinierte er seine Gesundheit dermaßen gründlich, daß er im Juli 1971 in der Badewanne seiner Pariser Wohnung an einem Herzversagen starb. Es ist umstritten, welche Erfahrungen er mit Heroin hatte oder nicht, dem damaligen Zeitgeist entsprechend hatte er ebenfalls viel LSD konsumiert und auch eine Zeitlang relativ viel Kokain.

Doch: Auch Jim Morrison durfte und darf den Tod nicht sterben, den er starb. Als vergötterte und verklärte Kultfigur (zuletzt im Film „The Doors“ von Oliver Stone anfangs der Neunziger reanimiert), bleibt er, was er nie war: Ein toter Junkie. So reagierte eine Zwanzigjährige, Doorsfan, in einem Gespräch mit dem Autor dieser Diplomarbeit mit ungläubigem Staunen und einer gewissen Ablehnung darauf, daß Morrison ein Alkoholiker war.

In dem Reigen der Mythen um die o.g. Musiker scheint es für verschiedene Seiten eine unangenehme Vorstellung zu sein, daß sie eher relativ „banal“ starben, und nicht an den - je nach Standpunkt - abgelehnten oder als anziehend empfundenen illegalen Drogen, speziell dem Heroin.

So sind die drei Bestandteil eines Kultes geworden, der sich in den Sechzigern noch in der Losung:Live fast, love hard, die youngmanifestierte. Die Vermutung liegt nahe, daß viele Drogengebraucher der damaligen Generation (und auch der heutigen) in ihrem Entschluß, „harte“ Drogen zu konsumieren, von dieser Philosophie und den Mythen um die toten Stars bestärkt wurden.

1.3. Die Jahre 1970 - 1974: Die „Harte Szene“ entwickelt sich

Worin lagen die Ursachen für die rasante Entwicklung des „harten“ Drogengebrauchs vor allem ab dem Jahre 1974? Schließlich war es in den Jahren 1970 - 1973 zu einem kontinuierlichen Rückgang der Drogenwelle gekommen und ihr Höhepunkt galt als überschritten.

(Scheerer, Vogt; 1989, S. 288)

Die Fixierung auf diesen quantitativen Aspekt ließ die Beobachter der Szene jedoch qualitative interne Prozesse übersehen, die für eine weitere Entwicklung von Bedeutung sein sollten. Denn was zwischen 1970 und 1973 passierte, war eine doppelte Ausgrenzung der Gebraucher illegaler Drogen, die zwar einerseits viele potentielle Konsumenten und Probierer vom (weiteren) Drogengebrauch abhielt, andererseits aber die schon stärker involvierten Konsumenten zu einem „harten Kern“ zusammenschweißte und sowohl ihre Drogenkarriere wie die Übernahme des Drogenhandels durch organisierte Gruppen erleichterte.

Die erste Ausgrenzung war jene durch die Bezugsgruppen der Protestbewegung selbst: die Zersplitterung der Revolte hatte die Position dogmatischer Gruppen gestärkt; die untheoretische Suche der Cannabis- und LSD-Konsumenten nach „erfüllter Gegenwart“ wurde als entpolitisierend kritisiert. Damit verlor die „weiche“ Szene Rückhalt und Attraktivität. So ging der Gebrauch illegaler Drogen unter Schülern zwischen 1971 und 1973 stark zurück.

Die zweite Ausgrenzung erfolgte durch die Hauptkultur und ihre Institutionen: die gesetzlichen Bestimmungen und die polizeiliche Verfolgung wurden verschärft, die Massenmedien nahmen eine rigidere Haltung gegenüber dem Cannabiskonsum ein. Auch dies kann den quantitativen Rückgang des Drogenkonsums beeinflußt haben, wenn dies auch aufgrund der geringeren sozialen Nähe staatlicher Instanzen weniger wahrscheinlich ist als im Hinblick auf den Einstellungswandel in der Protestbewegung und ihren Ausläufern. Dennoch blieb der Außendruck nicht wirkungslos, nötigte er doch diejenigen, die sich für die Aufrechterhaltung ihres Drogenkonsums entschieden, sich gegenüber der als feindlich wahrgenommenen Umwelt stärker abzukapseln, immer mehr Zeit mit Gleichgesinnten zu verbringen und sich enger zusammenzuschließen. Wie in jeder stigmatisierten Minderheitsgruppe bedurfte man bei steigendem Außendruck auch vermehrt der Abwehrmechanismen, um die interne soziale Organisation zu sichern. So wurden die eigenen Vorzüge betont, die Umwelt abgewertet; Initiationsriten machten den Status in der abweichenden Drogenszene von negativen Sanktionen durch die Repräsentanten der Hauptkultur abhängig. Aus dem Elternhaus, aus Ausbildung und Beruf hinausgeworfen, angeklagt oder verurteilt zu werden, schreckte diejenigen, die sich unter diesen Bedingungen noch nicht für die Aufgabe des Konsums entschieden hatten, nicht mehr ab, sondern verstärkte nur ihre Bindung an den abweichenden Lebensstil.

(Theyson/Spazier nach: Scheerer, Vogt, 1989, S. 288)

Es ist nun nicht weiter schwer, zu begreifen, daß diese Situation für die Bildung einen illegalen Schwarzmarktes geradezu prädestiniert ist. Die zunehmende Gefahr bei der Beschaffung illegaler Drogen förderte eine zunehmende Professionalisierung der Vertriebswege, der Produktion und des Handels. Die Anbieter etablierten in diesen Jahren Heroin recht gezielt in der wachsenden Szene:

So wird immer wieder berichtet, daß der örtliche Kleinhändler seinen Kunden in dieser Phase gelegentlich erklärt habe, nicht über Haschisch oder LSD, wohl aber über Heroin zu verfügen. Auch denjenigen, die schon mit Morphium Kontakt hatten, wurde nunmehr Heroin angeboten. Berichtet wird auch, daß das Umsteigen auf Heroin (H) bei manchen nur zögernd erfolgte, weil keine anderen Substanzen greifbar waren. In dieser Krisenzeit machten - kurz vor der deutlicheren Trennung zwischen weicher und harter Szene, die dann einsetzte, auch viele Cannabis- und LSD-Konsumenten mit Heroin Bekanntschaft.

(Theyson,Spazier nach: Scheerer, Vogt, 1989, S. 288)

Die Mechanismen des Schwarzmarktes beginnen sich zu verfestigen: In den Jahren 1976-1978 wurden bereits 415 kg Heroin sichergestellt. Der Preis eines „Hits“ stieg von 15 DM Anfang der Siebziger auf 50-60 DM und zog die bekannten Beschaffungsmethoden wie Prostitution, Diebstahl, Verkauf persönlicher Habe und natürlich auch den ständig wachsenden Aufbau eines Dealernetzes aus selbst Abhängigen nach sich. Das Strecken des Stoffes wurde zur Regel. In dieser Szene ist der Drogengebrauch nicht mehr Ausdruck des ursprünglichen Jugendprotestes - der subkulturelle Charakter ist verschwunden. Schon damals wird die Unzulänglichkeit der Drogenpolitik und der Hilfsangebote erkannt:

Der Jahresbericht ( des Ludwigshafener Nowhere House ) 1978 spricht dann schon von den Opfern der Drehtür - Effekte einer ineffektiven Suchtverwaltung, „dem Abgleiten in Kriminalität, dem permanenten Hin- und Hergeworfensein zwischen Polizeigewahrsam bzw. Gefängnis, Notarztversorgung und kurzfristigen Aufenthalten in psychiatrischen Landeskrankenhäusern. Keiner fühlt sich zuständig, wenn nicht gerade ein Haftbefehl vorliegt. Vergrößert hat sich inzwischen auch die Zahl derjenigen, die Langzeittherapien abbrechen, wieder zu Drogen greifen, zu einem erneuten Therapieversuch motiviert werden und abermals scheitern.

(Theyson, Spazier, 1981, nach: Scheerer, Vogt, 1989, S. 289)

An den Umständen, wie sie sich in den Jahren nach 1970 entwickelt haben, hat sich wenig geändert. Quantitativ sicherlich: Es gibt immer mehr Drogengebraucher, was den Druck auf Kommunen und Politiker erhöht. Allerdings gab es in der Grundsätzlichkeit der in Deutschland betriebenen Drogenpolitik und Drogenhilfe keine Veränderungen.

Wie entwickelten sich jedoch auf der anderen Seite die Hilfssysteme, die bis in die heutigen Tage relevant sind? Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist die Rolle der Therapeuten und der Ärzte. Sie ist Gegenstand des folgenden Kapitels.

2. Hilfsysteme in der abstinenzorientierten Drogenhilfe

2.1. Die Rolle der Therapeuten

Anfang der siebziger Jahre finden wir eine zunehmendeProfessionalisierung der therapeutisch Tätigen. In der damaligen Diskussion um die Entstehung von Suchtproblematiken wurde die gesellschaftliche Relevanz abgekoppelt und Sucht als ein persönliches Fehlverhalten interpretiert. Als Ursache wurden Sozialisationsdefekte oder genetische Anlagen gesehen. Um die Abhängigen zu rehabilitieren, wurden ausgebildete Therapeuten benötigt, entsprechende Ausbildungen wurden wieder nachgefragt, im Gegensatz zu den fünfziger und sechziger Jahren, als ein Großteil der Arbeit mit Abhängigen, damals vorwiegend Alkoholiker und eine minimale Anzahl an Morphinisten, noch ehrenamtlich versehen wurde. Das Berufsbild des Suchttherapeuten erfuhr eine immer deutlichere Ausprägung, ständige Fortbildung war und ist obligatorisch.

Die alten Ansätze in der Behandlung Drogenabhängiger sind noch nicht vergessen und ohne nennenswerte Zweifel etablieren die Soziotherapeuten im Einklang mit den Ärzten diestationäre Langzeittherapienach und nach zum Königsweg in der Behandlung Drogenabhängiger. Das Ziel der rund 18 Monate dauernden Therapie war eine Persönlichkeitsveränderung des Drogenkonsumenten mit dem Ziel, sein Lebenabstinentzu führen. Dieses Dogma erfuhr seine juristische Absicherung im Betäubungsmittelgesetz, das unter dem Stichwort „Therapie statt Strafe“die Möglichkeit gibt, bei drogenabhängigen Tätern die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren zugunsten einer der Rehabilitation dienenden Behandlung zurückzustellen (§§35,36 BtmG) oder bei laufender Behandlung sogar von der Verfolgung abzusehen, wenn keine höhere Strafe zu erwarten ist (§37 BtmG).

Mit dem Abstinenzparadigma ging die Theorie desLeidensdrucksHand in Hand und zwar alsstille Übereinkunft aller involvierten Kräfte(Stöver u.a. , 1990, S.17). Ausgangspunkt ist, daß ein Abhängiger erst dann, wenn er „ganz unten“ ist, die Bereitschaft zum Ausstieg aus seiner Abhängigkeit entwickelt. Hierzu schienen Mittel wie der Abbruch sozialer Kontakte und Bindungen durch z. B. Eltern und (nichtabhängige) Freunde, aber eben auch der stillschweigend hingenommene oder auch gezielt gewünschte Druck durch Kriminalisierung, Verelendung und Ausgrenzung, als geeignet. Hinter dem Ansatz „Wir wissen am besten, was für dich gut ist“, was denhelfenden Zwangauch in ein moralisch einwandfreies Licht rückte, gepaart mit der Unterstellung, daß eine mangelnde Bereitschaft zur Therapie als „fehlende Krankheitseinsicht“ zu werten sei, ging völlig unter, daß es sich bei solcher Methodik um eine Entmündigung der betroffenen Abhängigen handelt. Dies schlägt sich auch im Vokabular nieder, das in der Therapiearbeit verwendet wurde und auch noch wird: Danach ist Drogenabhängigkeiteine „entwicklungsbedingte Persönlichkeitsstörung“, „falsch gelerntes Verhalten“, „Ausdruck eines gestörten Reifeprozesses“. Der defizitäre Drogenabhängige muß „entstört“ „nachgereift“, „nachsozialisiert“ werden oder (im medizinisch/psychiatrischen Modell) „geheilt“ werden.

( Stöver u.a . 1990, S.19)

Grundsätzlich weisen therapeutische Gemeinschaften folgende Merkmale auf:

- die Hervorhebung der Eigenmotivation,
- die Hervorhebung der Eigenmotivation,
- die Isolierung von der Gesellschaft,
- die Deprivation der Gruppenmitglieder, vor allem in der Anfangszeit und bei Scheitern,
- die Verurteilung früheren Verhaltens
- die Konfrontation,
- die Forderung nach uneingeschränkter Teilnahme,
- die Möglichkeit, durch positives Verhalten in der Hierarchie aufzusteigen, die Entlassung bei ausreichender Verhaltensänderung.

(Scheerer, Vogt, 1989, S.329)

Es ist ein Kapitel bislang unaufgearbeiteter deutscher Therapiegeschichte, welche Auswüchse diese Rahmenbedingungen in den vergangenen Jahrzehnten nach sich ziehen konnten, wie das Beispiel einer Aufnahme in das „Take it“ Haus der Therapiekette Niedersachsen zeigt:

„...die Frager steigern sich, stundenlang, erfragen Schwächen und lassen Stärken nicht gelten. Manchmal zwei Stunden und oft noch länger muß einer Auskunft geben, wird bloßgestellt und offenbart, was die Droge übriggelassen hat. Jeder von der Gruppe hat selbst mal auf dem Stuhl gesessen und rächt sich nun für all die Erniedrigung. Dabei wird, so der Psychologe des Mitarbeiterteams, einer von sechs Profis, „die Unterwerfung unter die straffen Gruppennormen“ und die „emotionale Öffnung vor der Gruppe“ versucht, bis hin zur Selbstaufgabe. Denn auf die Dauer wird auch der Stärkste gebrochen. Der Streß, zunehmend unerträglich, wird erbarmungslos auf die Spitze getrieben. Und wenn einer seine Fixerkarriere offengelegt hat, wenn er dann ganz allein ist, schubst ihn die Gruppe ins Nichts. Peter A. muß sich ausziehen, nun vor allen, steht da in der Unterhose. Er soll, so wird ihm aufgegeben, durchs Haus gehen, brav an jede Tür klopfen und vor jedermann bekennen: „Ich bin ein mieses Arschloch.“ Er tut es.

(Der SpiegelNr.23, 1977, S.95, nach: Stöver; 1990, S.49)

Man ist versucht, von einer Art Monopolstellung der Therapeuten zu sprechen, die zumindest von einem Teil ihrer Vertreter mit Zähnen und Klauen verteidigt wird. So kamKlaus LudwigTäschner,ein führender Experte in der Therapierung Drogenabhängiger, 1983 zu folgendem Ausblick für eine zukünftige, „vertretbare“ Drogenpolitik:

Es wird uns keine andere Wahl bleiben, als so fortzufahren, wie wir begonnen haben. Wir müssen auf der einen Seite restriktiv die Angebotsseite bekämpfen, und zwar mit polizeilichen und strafjustiziellen Mitteln. Wir müssen aber auch die Nachfrageseite eingrenzen; dies kann auch durch vermehrte Aufklärung, durch breitgestreute Hilfen aller Art, insbesondere durch Therapie, letztlich aber auch durch soziales Entgegenkommen geschehen. Wir brauchen Prävention, um die Gefährdeten aufzuklären, vor allem über die Gefährdungsmomente, die vom Rauschdrogenkonsum ausgehen und die auf gesicherten wissenschaftlich-empirischen Erkenntnissen beruhen müssen. Und wir werden uns weiterhin mit den Drogenideologen auseinandersetzen müssen, um hier kritische und sachgerechte Überzeugungsarbeit zu leisten. (...)

(Täschner, 1983, S. 275f)

Dieses Resümee ergibt sich für den Autor aus einer Gegenüberstellung und Abwägung liberaler Ansätze und traditioneller Argumentationen. Daß die Argumente der Befürworter einer Entkriminalisierung bzw. Vertreter der Methadonsubstitution mit:Die Auffassung derHeroin/Methadonfreunde“ (Täschner, 1983, S.254) überschrieben sind, während die:Zusammenfassung wissenschaftlicher Untersuchungsergebnisse zur Frage der Wirkung undGefährlichkeit des Heroins/Methadons(ebd., S.255) gegenübergestellt wird, zeigt, daß schon bei der Wahl der Worte manipuliert wird. Sicher mag Täschner nicht repräsentativ für alle Therapeuten und ihre Auffassungen stehen, doch daß die Auseinandersetzung auf derartig unverhohlen tendenziösem Niveau in einer sicher einschlägigen Publikation, verlegt im ehrwürdigen Kohlhammer-Verlag, stattfindet, oder zumindest fand, spricht für sich.

Überlegung

Die vorangestellten Negativbeispiele sollen die Arbeit der Therapeuten keineswegs in Bausch und Bogen verdammen. Therapie mit Drogengebrauchern ist zweifellos eine notwendige und auch harte Aufgabe. Inwieweit man hierbei auch unkonventionelle Methoden benutzt, bedarf jedoch einer sorgfältigen Abwägung, die auch die Interessen und vor allem die Würde der Betroffenen berücksichtigt. Wo jedoch, um des hehren Zieles eines Lebens ohne den Gebrauch harter Drogen willen, Methoden gewählt werden, die nicht nur humanistischen und ethischen Gesichtspunkten, sondern auch den Grundsätzen des demokratischen Staates entgegenstehen, wird das Ganze ruchbar. Zwar begründet allein die Tatsache, daß Drogengebraucher freiwillig eine Therapie in Anspruch nehmen wollen, die Notwendigkeit des therapeutischen Angebots. Doch ist fraglich, inwieweit Angebote, die kaum einladend wirken werden, für die Drogengebraucher motivierend sein sollten. Und jemand durch Verfolgungsdruck, Ausgrenzung soweit „fertig zu machen“, im wahrsten Sinne „fertig“ für die Therapie, ist eine sehr fragwürdige Vorgehensweise für eine im Selbstverständnis humanistische und demokratische Gesellschaft.

Durch ohnmächtiges Erhöhen von Anforderungen oder durch Ausüben von Druck befähigt man niemanden mit Situationen zurecht zu kommen, die die Person sowieso schon überfordern.

(Waldvogel, 1994, S. 6)

Hierzu gehört auch die Methode der sogenannten „Therapie statt Strafe“ nach dem §35 des Betäubungsmittelgesetzes. Betäubungsmittelabhängige erst zu kriminalisieren um dann - via Strafvollzug - eine Therapie zu erzwingen scheint weder ein angemessener Weg, noch in irgendeiner Form sonderlich effizient: Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu erwähnen, daß - nach dem Kenntnisstand des Verfassers und diverser Fachleute aus vorwiegend juristischen und therapeutischen Kreisen - bislang keine wissenschaftliche Auswertung oder Statistik über die Effizienz der Methodik „Therapie statt Strafe“ zumindest versucht wurde. Einer der Gründe dafür mag sein, daß sich die meisten Drogengebraucher nach Beendigung der Maßnahme nicht mehr zurückmelden, sich also die Spur verliert. Diese Leute könnten es geschafft haben oder auch nicht. Sicherlich lässt sich auch nicht erfassen, was sich beim einzelnen verändert hat, auch während vielleicht eines halben Jahres durchgehaltener Therapie, die dann doch mit einem Rückfall endet. Dieser Aspekt ist sehr wichtig, ob es allerdings ein ausreichendes Argumentfür„Therapie statt Strafe“ sein kann,fürdie Nichterhebung von Daten, steht dahin. Allerdings lassen sich wohl während der Maßnahme, die ja auch von der Justiz kontrolliert wird, ohne weiteres Daten erheben die sich

1. auf die direkten Abbrüche einer Therapie beziehen, die über „Therapie statt Strafe“ begonnen wurden,
2. über das tatsächliche Verhältnis von freiwillig begonnenen Therapien und über die Anzahl der Therapien, die über „Therapie statt Strafe“ begonnen wurden,
3. die Befindlichkeit der Drogengebraucher selbst, wobei die tatsächliche Motivation zur Therapie etwas genauer untersucht werden sollte. Handelt es sich um tatsächlichen Willen zur Veränderung und Ausstieg, oder geht es um die Wahl des (viel) kleineren Übels und das Umgehen der Haft?
4. Kostenuntersuchungen - was kostet die Krankenkassen die Finanzierung dieser Therapien?
5. Kosten von Verfahren und Verwaltung, Haftkosten usw.
6. Wer taucht wieder in einem Verfahren auf, wird also trotz Maßnahmen die nach dem §35 BtmG in seinem Fall ergriffen wurden, wieder abhängig, wieder straffällig?

Das sind Daten, die sich mühelos erfassen ließen und die wohl auch nicht ohne Bedeutung sind. Allerdings wird mit Statistiken und wissenschaftlichen Auswertungen Politik gemacht und es könnte sich für die Vertreter einer auch in Zukunft auf rein repressive Methoden setzenden Drogenpolitik als einen Schuß erweisen, der total nach hinten los ging.

So kann man beim §35 BtmG eher von „TherapieoderStrafe“ sprechen oder um es zynisch und auch bewußt nicht „political correct“ zu formulieren, von Beugehaft.

Was ebenso erwähnenswert ist, ist die Tatsache, daß ein reiner Gebraucher von sogenannten verschreibungsfähigen Medikamenten (wie das nicht nur in Kreisen von Opiatgebrauchern häufig konsumierte Benzodiazepin „Rohypnol“, das für sein Suchtpotential recht bekannt ist und auch von Drogenfachleuten in seiner Langzeitwirkung und Therapierbarkeit als gefährlicher wie Heroin eingestuft wird), sich nicht über „Therapie statt Strafe“ aus der Haft „befreien“ kann. Wer also seinen Bedarf an Benzodiazepinen (oder anderenverschreibungsfähigenMedikamenten) über den illegalen Markt deckt und straffällig wird, sitzt ein und Schluß. Es versteht sich, daß dem straffällig gewordenen Alkoholiker dieser Weg ebenfalls nicht offen steht.

Inwieweit sich diese Politik auch mit den Interessen der Therapeuten deckt, ist spekulativ. Außer Zweifel steht, daß sich ein sehr hoher Anteil der Therapiezugänge aus dem §35 BtmG ergibt. (Die Fachklinik Eiterbach im Odenwald z.B. gab im Januar 1998 einen Anteil von 35-40% unter ihren Patienten an.)

Allerdings wird aus dem beabsichtigten „Leidensdruck der Drogengebraucher“ - hier derer die im Knast vor der Wahl „Therapie oder Strafe“ stehen - zunehmend der „Leidensdruck der Kostenträger“. Dort stellt man sich vermutlich zunehmend Fragen über die Effizienz von Therapien die zwangsweise begonnen wurden, nicht gerade ein Garant für ausreichenden Durchhaltewillen. Jeder Versuch ab 30000 DM aufwärts, da möchte man verständlicherweise Ergebnisse sehen. Es zeichnet sich ab, welcher Aspekt in Zukunft die Drogenpolitik in der BRD in erster Linie bestimmen wird: Geld.

Und vor allem, wieviel davon noch da ist.

Therapie wird auch in die Zukunft die Endstation des ausstiegswilligen Drogengebrauchers sein - allerdings werden diejenigen Therapeuten, die dem traditionellen Selbstverständnis anhängen, die Augen nicht mehr davon verschließen können, daß ihr Angebot für den - aus welchen Gründen auch immer - nicht ausstiegswilligen Drogengebraucher überhaupt nicht von Bedeutung ist. Mit einer sich verändernden Drogenpolitik und Drogenarbeit wird auch das psychiatrisch-therapeutische Modell Erschütterungen seines bisherigen Selbstverständnisses erfahren. Das bezieht sich auf den §35 BtmG, das bezieht sich auch auf die Methoden.

Dieser Prozeß hat sicherlich schon begonnen, trotzdem ist es notwendig, die Geschichte und die aktuelle Situation bei den Anbietern von Therapie zu überprüfen, auch vor dem Hintergrund, daß der „Therapiemarkt“ auch heute noch relativ ungestört von Sekten, Esoterikern und allerlei Scharlatanen infiltriert werden kann.

2.2. Substitution - Opiatverschreibung und die Rolle der Mediziner

Zu einem weiteren, heiß diskutierten Thema gehörte dieSubstitutionDrogenabhängiger mit Ersatzstoffen wieMethadonoderPolamidon. Methadon ist, wie alle auf Opiumbasis entwickelten Stoffe, ebenfalls in deutschen Labors entwickelt worden. So entdeckte der Chemiker Gustav Ehrhart eine neue Gruppe schmerzlindernder Substanzen, wovon 1942 eine unter dem Namen „Amidon Hoechst 10820“ der klinischen Prüfung übergeben wurde. Es sollte eine Ergänzung zu den bereits bekannten Schmerzmitteln wie z. B. Dolantin und Morphin sein, man versprach sich eine bessere Wirkung als bei Dolantin und die Einnahme konnte anders als bei Morphin oral erfolgen. Durch den Zweiten Weltkrieg ging der Fa. Hoechst als Teil der IG Farben das Patent verloren, da es durch die Alliierten enteignet wurde. In den Vereinigten Staaten wurde es unter dem Namen Methadon eingeführt, im Koreakrieg fand es erstmals Anwendung. Die Fa. Hoechst etablierte auf dem Markt 1949 im Inland unter dem Namen Polamidon ein synonymes Medikament. Ende der sechziger Jahre gelang es, die „ungereinigte“ Form aus aktiven, linksdrehenden Isomeren um das sogenannte L-Polamidon zu ergänzen, das inaktive, rechtsdrehende Isomere aufwies, und doppelt so stark war. Da das Polamidon die Rezeptoren, an denen auch Heroin andockt, besetzt, und darüber hinaus eine wesentlich längere Halbwertzeit als Heroin hat, verhindert es Entzugserscheinungen, es kommt aber nicht zu dem vom Drogengebraucher ersehnten „Kick“. Seine Entdeckung als Heroinsubstitut verdankt es Prof. Dr. Vincent P. Dole, Pharmakologe, und seiner Frau Mary Nyswander, einer Psychiaterin, die in den sechziger Jahren in den USA mit Ersatzstoffen eine Behandlung Drogenabhängiger versuchten. Nachdem sie erfolglos mit Morphium experimentiert hatten, entdeckten sie als wesentlich geeigneteres Präparat das Methadon. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war, daß Heroinabhängige in der Lage seien, ihr Leben zu stabilisieren, wenn der nach wenigen Stunden wieder auftretende Hunger nach Heroin durch die Verschreibung eines geeigneten Ersatzstoffes aufgehoben werden könnte. Die „New York State Medical Society“ erkannte 1970 die Dole-Nyswander-Methadonbehandlung als eine zweckmäßige Behandlungsmodalität an und stellte entsprechende finanzielle Mittel zur Verfügung.

(Henning, 1997, S. 22)

Die Vorteile der Behandlung sind:

- die Verhinderung weiterer Verelendung
- die Verbesserung des Gesundheitszustandes
- Hilfe zur psychischen Stabilisierung
- HIV-Prävention und Hilfe für bereits infizierte Drogengebraucher

(Vogt, 1993, S. 36)

Diese Behandlungsansätze zeigen bereits, daß die Substitution nicht abstinenzorientiert ist, also eher ein Angebot der niederschwelligen Drogenhilfe ist. Allerdings ging Deutschland in dieser Behandlungsweise einen Sonderweg, der der internationalen Entwicklung hinterherhinkte, die sich wie folgt gestaltete:

In Großbritanniens „British system“ war der Einsatz von Opiaten in der Behandlung der Abhängigkeit seit jeher üblich. Nachdem die Methadonbehandlung 1970 von der New York Medical Society als zweckmäßig anerkannt worden war, gab es vier Jahre später allein in den USA schon über 80000 Heroinabhängige in Methadonbehandlung. In den Niederlanden wurde Methadon vom Psychiater Geerlings in der Amsterdamer Jellinek-Klinik eingeführt (1968). Für das Jahr 1985 wurde die Zahl der Methadonempfänger auf 6000 (von 15-20000 Opiatabhängigen insgesamt) geschätzt. In der Schweiz befanden sich 1988 etwa 1500 Personen in Methadonbehandlung. In Schweden war schon 1966 das europaweit erste Methadonbehandlungsprogramm eingerichtet worden (Uppsala). In Dänemark wird Methadon seit 1968 sowohl in speziellen Methadonprogrammen als auch von niedergelassenen Ärzten verschrieben. In Norwegen gibt es privatärztliche Verschreibungen. In Frankreich praktizieren zwei Behandlungseinrichtungen die Methadonverabreichung. In Italien, wo seit 1975 Methadon zugelassen ist (erst seit 1978 existieren Richtlinien für die Methadonbehandlung), wurde 1986 ca. die Hälfte aller in Behandlung befindlichen Opiatabhängigen substituiert. In Österreich, wo es vorher schon privatähnliche Verschreibungen gab, existiert seit September 1987 eine Empfehlung des Gesundheitsministeriums für die Durchführung der Substitutionsbehandlung und die Dauerverschreibung von Substituten. Die Anwendung von Methadon zur Behandlung von Opiatabhängigen findet sich außerdem noch in Belgien, Irland, Spanien und Luxemburg sowie in zahlreichen außereuropäischen Ländern wie z.B. in Israel, Kanada, Australien, Hongkong, Laos und vielen anderen.

(van Epen in: Scheerer, Vogt, 1989, S.341)

Die Situation in Deutschland hingegen war vom Veto der Ärzteschaft geprägt, die sich bereits im Jahre 1928 auf dem 47. Deutschen Ärztetag in Danzig von der Verschreibung von Opiaten an Abhängige abkehrten und in den folgenden Jahren eindringlich vor jeder anderen Alternative zum klinischen Entzug und anschließender Therapie warnten. Auch auf dem Ärztetag von 1955 bestätigte die deutsche Ärzteschaftdie Grundsatzentscheidung für die stationäre Abstinenztherapie. Opiatabhängigkeit wurde als schwere psychische und physische, durch Persönlichkeitsstörungen verursachte Krankheit definiert. Eine Aufrechterhaltung der Abhängigkeit stehe dem medizinisch-ethischen Grundsatz der Heilung konträr gegenüber. Daher wurde der Beschluß gefasst, Erhaltungsbehandlungen mit Morphin oder Substitutionsbehandlungen mit Polamidon als Verstoß gegen die ärztliche Berufspflicht zu bewerten und Opiatabhängige nach ärztlicher Begutachtung zwecks einer psychiatrischen Abstinenzbehandlung in Nervenkliniken einzuweisen. Diese Beschlüsse bedeuteten das absolute „Aus“ für Erhaltungsbehandlungen, und die Verfechter des Abstinenzparadigmas hatten sich endgültig durchgesetzt: Drogenkonsumenten wurden als Psychopathen definiert und als Kriminelle stigmatisiert.

(Engemann/Gerlach, nach Julien, 1996, S. 12)

Ärzten, die trotzdem zu einer Verschreibung von Opiaten und Opiatersatzstoffen tendierten, oder diese Form der Behandlung wählten, wurde mit Approbationsentzug gedroht, Strafanzeigen und Verurteilungen waren bis in die siebziger Jahre hinein Regel.

Das sogenannte Methadon-Colloqium, das am 16.10.1984 in Berlin tagte, unterstrich auch nochmals die Auffassung, daß die Umkehrung der traditionellen Reihenfolge in der Behandlung Suchtmittelabhängiger - erst Abstinenz, dann psycho-soziale Reintegration - durch die Methadonbehandlung aufgehoben werde. Daß die Behandlung mit Methadon diese Reihenfolge umkehrt und die psycho-soziale Stabilisierungvorden Zustand der Abstinenz setzt (somit also niederschwelligen und akzeptierenden Charakter hat), deutete das Colloqium als „suchtverlängernd“ und zog daraus den Schluß, „daß keine Veranlassung besteht, Methadonprogramme einzuführen“. Durch die Verschreibung werde eine Droge durch eine andere ersetzt, was „erhebliche Nachteile für die deutschen Drogenabhängigen“ mit sich bringe. Die Bundesregierung folgte dieser Auffassung, unterstrichen wurde diese Haltung bei einer Kleinen Anfrage im Deutschen Bundestag am 10.04.1986, in der erklärt wird,die Verschreibung von Substitutionsmitteln sei medizinisch kontraindiziert und medizinisch unzulässig.

(Scheerer, Vogt, 1989, S. 343)

Der juristische Aspekt spielt in der Geschichte der Ersatzstoffverschreibung eine wichtige Rolle: So war eine Verschreibung, bzw. Verabreichung durch die Ärzte grundsätzlich nach § 13 des BtMG möglich, im Rahmen der sogenannten „Richtlinienkompetenz“ der Bundesärztekammer aber setzten diese bei einer Verschreibung von Methadon ihre Approbation aufs Spiel. Die Bundesärztekammer hatte in zwei Stellungnahmen am 04.02.1988 sowie am 09.02.1990 noch einmal ihre Haltung bekräftigt, daß die Drogensucht eine Krankheit sei, deren therapeutische Behandlung auf der Basis von Drogenabstinenz stattfinden solle.

Eine Indikation könne lediglich in medizinisch begründeten Einzelfällen unter kontrollierten Bedingungen vorliegen. Dazu gehören folgende Beispiele:

- Drogenabhängige mit lebensbedrohlichen Zuständen im Entzug - etwa mit anhaltenden zerebralen Krampfanfällen, was jedoch extrem selten ist.
- Drogenentzug bei schweren konsumierenden Erkrankungen - wie schwerer Lungentuberkulose, Herz-Kreislauf-Dekompensation, gewissen post-operativen Zuständen
- Drogenentzug bei opioidpflichtigen Schmerzzuständen;
- Drogenabhängige am Ende der Schwangerschaft bzw. unter der Geburt
- Drogenabhängige AIDS-Kranke mit fortgeschrittener manifester Erkrankung

(Deutsches Ärzteblatt 87, Heft 10, 8. März 1990, B-577 nach: Vogt, 1993, S. 38)

Erst durch ein Urteil des BGH vom 17.05 1991 wurde diese Konstellation aus der Allmacht der Bundesärztekammer, der folgenden Bundesregierung und der strengen Auslegung der §§13 und 29 Abs. 1 Zif 6 BtMG durchbrochen.

Nach §29 macht sich ein Arzt grundsätzlich strafbar, wenn er Betäubungsmittel verschreibt. Der §13 läßt die Verschreibung zwar zu, aber nurwenn die Anwendung am oder im menschlichen Körper begründet und der beabsichtigte Zweck nicht auf eine andere Art und Weise,d.h. ohne den Einsatz von Betäubungsmitteln erreichbar ist. Die Frage war und ist letztlich nur: Wann ist eine Verschreibung begründet? Der BGH vertrat eine andere Auffassung, als die, daß es auf die Überzeugung des verschreibenden Arztes nicht ankomme, sondern ausschließlich auf die Übereinstimmung mit den anerkannten Regeln der ärztlichen Wissenschaft, somit der Bundesärztekammer:

Die Verschreibung von Methadon sei nicht schon deshalb strafbar, weil sie nicht in Übereinstimmung mit den Regeln der ärztlichen Wissenschaft erfolge; gerade auf einem medizinisch umstrittenen Gebiet wie dem Verschreiben von Ersatzdrogen müsse dem behandelnden Arzt ein von diesem zu verantwortender Entscheidungsspielraum zugebilligt werden. ( Moll, in: Neue Juristische Wochenzeitschrift, 1991, 2334f nach: Vogt, 1993, S.40)

Damit hob der BGH die „Richtlinienkompetenz“ der Bundesärtztekammer insoweit auf, daß sie nicht mehr als verbindlicher Indikationskatalog für den Strafrichter fungierte. Im weiteren stellte der BGH fest,

daß die ambulante Methadonbehandlung durch niedergelassene Ärzte (...) zulässig ist, wenn ihre Durchführung - dies gilt allerdings nach wie vor zu unterstreichen - ein therapeutisches Konzept und eine therapeutische Kontrolle erkennen läßt (ebd.S40)

Überlegung

Der Umgang mit der Möglichkeit der Substitution in den vergangenen Jahrzehnten steht ebenfalls für eine verfehlte Politik und einem nicht menschlich geprägten Umgang mit den Suchtmittelabhängigen. Ob es der ärztlichen Ethik entspricht, ein Medikament, das seine positive Wirkung bei der Verabreichung an Suchtmittelabhängige in internationalen Versuchen längst bewiesen hat, nicht zu verabreichen, ist fraglich. Daß eine Abgabe an HIV- Erkrankte erst im Zustand der Erkrankung genehmigt wurde, ist unmenschlich und - im Rahmen der Eindämmung der Verbreitung von AIDS - in keinster Weise nachvollziehbar. Es ist zudem zu fragen, wie die Bundesärztekammer als eigentlich einzige Institution bundesweit über solch lange Zeit den Kurs bestimmen konnte. Ein wesentlicher Aspekt bei der Beantwortung dieser Frage ist die Hierarchie, die sich in der Suchthilfe nach 1970 etablierte. Das institutionelle und bürokratische System war dergestalt ausgelegt, daß durch dieKostenregelungen( die widerum auf der Theorie „Sucht=Krankheit“ fußten), die Ärzte automatisch an die Spitze der Hierarchie gelangten und somit die Arbeit der Therapeuten maßgeblich mitbeeinflußten.

Die Bundesregierung folgte in ihrer Gesetzgebung und in ihrer Auffassung den Ansichten der Kammer blind.

Allerdings -und das gibt dem Umgang mit Substitution in der BRD unabhängig von der menschlichen Tragödie - auch eine peinliche Note, ist das Hinterherhinken in der Forschung und Entwicklung von Konzepten. Längst haben uns, im internationalen Vergleich die meisten westlichen Länder an Erfahrungen und wissenschaftlichen Auswertungen auf dem Gebiet der Substitution überrundet. Was bereits in Ländern wie England, Holland, der Schweiz Standard ist, wird bei uns mit großer Verspätung nachgeholt werden müssen, wobei sich die BRD, wenn sie jetzt beginnt, neue Wege zu beschreiten, sich nur in den alten Pfaden anderer bewegt und sich - als Folge von Starrsinn und Borniertheit - auch von deren Konzepten und Erfahrungen abhängig gemacht hat.

[...]

Ende der Leseprobe aus 112 Seiten

Details

Titel
Wege aus dem Drogendilemma
Untertitel
Repression in Deutschland - Akzeptanz in der Schweiz
Hochschule
Fachhochschule Mannheim, Hochschule für Sozialwesen
Note
1,0
Autor
Jahr
1998
Seiten
112
Katalognummer
V80205
ISBN (eBook)
9783638821858
ISBN (Buch)
9783638822879
Dateigröße
763 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Auszug aus Bewertung: Das breite Spektrum angesprochener Themen reicht von der Geschichte von Opiaten als Genuss-und Heilmittel bis zur Mystifizierung der Droge als "des Teufels", von der Darstellung der Entwicklungen für die Bedingungen des "Drogenmarktes", der Nutzergruppen, der Gewinner und Verlierer, des fatalen Einflusses abstinenzorientierter Drogentherapeuten usw. bis hin zur - durchaus kritisch betrachteten - Darstellung von Versuchen zur Schadensbegrenzung in den Projekten Zürichs und in der schweizerischen Drogenpolitik.
Schlagworte
Wege, Drogendilemma
Arbeit zitieren
Thomas Gorny (Autor:in), 1998, Wege aus dem Drogendilemma, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80205

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Wege aus dem Drogendilemma



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden