Kain, was machst Du mit Deinem Bruder? Eine ethische Betrachtung der heutigen (Nutz-)Tierhaltung und damit verbundener Folgen


Magisterarbeit, 2007

119 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Einleitung

2. Terminologie
2.1 Definition Tier
2.2 Der Begriff Domestizierung
2.3 Speziesismus

3. Der kleine Unterschied
3.1 Entwicklung einer These
3.2 Über Gleichheit und Ungleichheit
3.3 Unterscheidungskriterien
3.3.1. Schmerzempfindung
3.3.2. Seele
3.3.3. Bewusstsein, Intelligenz und Kultur
3.3.4. Sprache und Zählen
3.3.5. Selbstbewusstsein und Vernunft
3.3.6. Interessen, Autonomie und die Leidensfähigkeit
3.3.7. Würde und Moral
3.4 Bilanz der „Beweise“ und daraus abgeleitete Folgerungen

4. Grundlagen der Tierzüchtungslehre
4.1 Entwicklung der Haustiere
4.2 Geschichte der Tierzucht
4.3 Heutige Nutztierrassen
4.3.1. Rodentia – Ordnung der Nagetiere
4.3.2. Lagomorpha – Ordnung der Hasenartigen
4.3.3. Carnivora – Ordnung der Raubtiere
4.3.4. Artiodactyla – Ordnung der Paarhufer
4.3.5. Perissodactyla – Ordnung der Unpaarhufer
4.3.6. Aves – Klasse der Vögel
4.3.7. Pisces – Reihe der Fische
4.3.8. Insecta – Klasse der Insekten
4.4 Folgen der Zucht und Selektion
4.5 Perversionen der Tierzucht
4.6 Folgen der heutigen Nutztierzucht

5. Tierhaltung
5.1 Vom Bauernhof zur Massentierhaltung
5.2 Tierfabriken und Fütterung
5.2.1. Schweine
5.2.2. Rinder
5.2.3. Geflügel
5.2.4. Schafe
5.3 Pelze und Pelztierzucht
5.4 Auswirkungen der Intensivhaltung

6. (Schlacht-)Tiertransporte und Schlachthöfe
6.1 Subventioniertes Tierleid
6.2 Das Ende des Schreckens

7. Tierversuche
7.1 Hinter den Kulissen
7.2 Nutzen von Tierversuchen
7.3 Die Alternativen

8. Koeffizient Wirtschaftlichkeit
8.1 Welternährung bzw. unser täglich Fleisch
8.2 Konsequenzen des Konsumverhaltens
8.3 Nachhaltiger Konsum

9. Jenseits der Krone der Schöpfung
9.1 Von der Diskriminierung – die Geschichte des Speziesismus
9.2 Töten erlaubt?
9.3 Menschen und Unmenschen

10. Tierrechte und Tierrechtsbewegung
10.1 Biologische Erklärung zum ethischen Tierschutz
10.2 Tierrechte
10.3 Konsequenzen der Tierrechtsbewegung
10.4 Verbesserungen

11. Essverhalten – Vegetarier und Veganer
11.1 Menschliches und Allzumenschliches
11.2 Die Macht der Gewohnheit
11.3 Die große Lüge
11.3.1. Milch ist gesund
11.3.2. Fleisch ist ein Stück Lebenskraft
11.3.3. Mangelerscheinungen
11.4 Zwingende Argumente

12. Literatur

Vorwort

Als ich noch ein kleines Kind war, im Alter von drei Jahren, stand für mich bereits fest, dass ich Tierärztin werden wollte. Meine Affinität zu Tieren[1] war so hoch, dass gar nichts anderes in Frage kommen konnte. Leider spielte das Schicksal nicht ganz so mit, wie ich es gewollt hätte, und so führten einige Umstände dazu, dass ich mich letztendlich umorientieren musste. Doch die Liebe zu den Tieren ist geblieben. Nicht zuletzt deshalb, weil ich der festen Überzeugung bin, dass die Menschheit nicht der Schöpfung letzter Schluss ist.

Manche glauben, dass Tiere[2] lediglich niedere Lebewesen sind, die weder Sprache noch Kultur besitzen und ausschließlich von Trieben und Instinkten geleitet sind. Doch während meines immerhin einjährigen Studiums der Veterinärmedizin konnte bzw. musste ich mir im Rahmen des Faches Zoologie einiges an Wissen über die Entwicklungsgeschichte der Tiere aneignen. Und so steht für mich außer Frage, dass auch der Mensch nur ein Tier mit besonderen Merkmalen bzw. Fähigkeiten, ist. Zwei dieser „besonderen“ Merkmale, die uns von nichtmenschlichen Tieren (zumindest in gradueller Hinsicht) unterscheiden, sind für mich die Fähigkeit zur Unterscheidung von Gut und Böse sowie Empathie. Freilich besitzen wir auch noch andere Eigenschaften, welche die meisten anderen Spezies in geringerem Ausmaß (oder gar nicht) besitzen, und dies verleitet einen Großteil unserer Artgenossen dazu zu denken, wir seien „mehr wert“ als andere Arten. Vielleicht würde jede Art von Lebewesen so denken und so kann ich diese Denkweise noch einigermaßen nachvollziehen, wenn auch nicht befürworten.

Was ich allerdings nicht verstehen kann ist, dass wenn wir uns schon (wie allgemein üblich praktiziert) auf so arrogante Weise über andere Lebewesen stellen, wir es dann nicht schaffen, den eben erwähnten besonderen Eigenschaften Empathie und die Unterscheidung von Gut und Böse gerecht zu werden. Diese besonderen Merkmale sollten uns eigentlich in die Lage versetzen, Mitleid[3] zu empfinden für andere Lebewesen, denen Leid widerfährt. Allerdings empfand der Mensch im Laufe der Geschichte selbst für seine Artgenossen kein Mitleid und erkannte ihnen sogar, wenn diese bspw. einer anderen Hautfarbe oder Religion angehörten, das Recht auf menschenwürdiges Dasein ab. Solche Artgenossen wurden (und werden zum Teil noch immer) zum Beispiel als niedere Rasse betitelt, versklavt, ausgenutzt und bei Belieben sogar getötet. Aufgrund der physiologischen Ähnlichkeit aller Angehörigen der menschlichen Rasse sollte man meinen, dass jeder Mensch Schmerzen oder die Qual zumindest anderer Menschen nachempfinden kann. Doch leider war bzw. ist dem nicht immer so.

Und so verwundert es nicht weiter, dass andersartigen Lebewesen, die sich uns nicht einmal (verständlich) mitteilen können, das Recht auf ein Leben in artgerechter Weise oder gar das Recht auf Leben überhaupt abgesprochen wird. Es scheint als stünde uns, den „Herren der Schöpfung“ zu, uns andere Untertan zu machen. Wir sehen es als gerechtfertigt an, andere Lebewesen für unsere Zwecke zu gebrauchen, in so vielfältiger Art und Weise, dass es zu lange dauern würde, um alle diese Übergriffe aufzuzählen.

Ich denke es ist für eine Weiterentwicklung als Mensch angebracht, von Zeit zu Zeit über all unser Tun und alle unsere Praktiken nachzudenken und sich bewusst zu machen, was wir damit anrichten. Wenn wir schon über ein Gewissen und Vernunft verfügen, dann sollten wir der Stimme unseres Gewissens auch folgen und unseren Verstand benutzen, indem wir die Folgen unseres Handelns bedenken.

Tiere sind Lebewesen wie wir. Sie fühlen Schmerz und sie haben Angst. Sie sprechen nur nicht unsere Sprache.

1. Einleitung

„Was ist der Mensch ohne Tiere. Wären alle Tiere fort, so stürbe der Mensch an großer Einsamkeit des Geistes. Denn was immer den Tieren geschieht, bald wird es auch dem Menschen geschehen.“[4]

(Seattle, Häuptling der Squamish- und Duwamish-Indianer)

Seit Anbeginn der Geistesgeschichte beschäftigte Philosophen die Frage, ob Tiere Biomaschinen oder Seelenwesen sind. Der Philosoph und Tierrechtler Helmut F. Kaplan sagt, dass Menschen und Tiere leidensfähig sind, und wir müssen deshalb das existentielle Interesse, nicht zu leiden, bei Menschen und Tieren gleich ernst nehmen und dürfen nicht auf Grund der Spezieszugehörig-keit willkürliche Diskriminierungen vornehmen[5]. Die Philosophen der Antike hatten noch einen Begriff für alles Belebte. Vernunft und Seele waren untrennbar und wurden allen Lebewesen in gleicher Weise zugestanden. Daher waren die Anhänger der pythagoreischen Lehre bekennende Vegetarier. Erst mit Aristoteles, der die Wertigkeit der Wesen nach dem Grad ihrer Vernunft unterteilte, kam es zu einem Bruch dieser Seelenverwandtschaft. Seine Lehre besagte, dass ein Krieg gegen weniger vernunftbegabte Wesen immer ein gerechter Krieg ist. Und daraus lässt sich folgern, dass der Mensch mehr wert ist als ein Tier, welches ihm zu dienen und darin seine Erfüllung zu finden hat, ob als Schlachtvieh oder als Kuscheltier. Der Kunsthistoriker Bernhard Kathan sagt hierzu: „Die Versachlichung ist auch bei den so genannten Beziehungstieren gegeben. Wenn ich einen Hund kauf, der diese oder jene Merkmale erfüllen muss, damit er mir gefällt, dann kaufe ich mir ein Objekt, eine Ware.“[6] Nicht wenige Hunderassen erfüllen nebenbei den Tatbestand der Qualzucht, was bedeutet, dass ihnen lebenslange Schmerzen durch eine züchterisch hervorgerufene abnorme Physiologie bevorstehen[7]. Diese Züchtungen gründen letztlich nur darauf, dass sie vom Menschen als originell oder ästhetisch empfunden werden. Das Tier wird damit zu einer Spielfigur im menschlichen Welttheater und den Bedürfnissen der Menschen völlig untergeordnet.

Im Alten Testament heißt es: „Furcht sei über alle Tiere […] in eure Hände sind sie gegeben.“ So wurde der Mensch in den monotheistischen Religionen zur Krone der Schöpfung erhoben, mit dem Tier als Beiwerk. Hingegen lehren andere Religionen, wie etwa der Hinduismus, die Gleichrangigkeit zwischen Mensch und Tier, was allerdings kaum Einfluss auf den Umgang mit Tieren hat. Zum Beispiel verkaufen viele Hindus ihre Tiere zur Schlachtung an Muslime, und Indien ist heute der weltweit größte Exporteur von Rindsleder, die meisten Schuhe auf unseren Straßen sind somit Häute der Heiligen Kühe[8]. Vor Descartes, der das Tier zu einer seelenlosen Maschine erklärte, hatten Denker wie Augustinus und Thomas von Aquin biblischen Herrschaftsanspruch und aristotelische Vernunfthierarchie im christlichen Katechismus zusammengeführt. Und bis zum heutigen Tage hält der Vatikan Tierexperimente für unbedenklich. Schließlich zählt nur der Mensch als Abbild Gottes. Doch bereits 1758 ordnete der schwedische Naturforscher Carl von Linné, der Begründer der modernen Taxonomie (binominale Nomenklatur), in seiner Systematik der Natur erstmals den Menschen dem Tierreich zu[9]. Er erkannte in den Tieren die Vorformen des menschlichen Seins. Im Jahre 1822 beschloss England das erste Tierschutzgesetz und die Abstammungslehre Darwins vereinte später Mensch und Tier und nahm so dem Menschen seine Herrschaftslegitimation[10]. Der englische Humanist Henry Salt schließlich formulierte 1892 das erste eigene Recht für Tiere. Helmut Kaplan sagt: „Die Tierrechtsbewegung ist die logische, notwendige und konsequente Fortsetzung anderer Befreiungsbewegungen, wie die der Befreiung der Sklaven und die der Emanzipation der Frauen. Es geht dabei immer um das Gleiche, nämlich um das Erkennen und Überwinden moralischer Diskriminierungen auf Grund moralisch belangloser Merkmale“[11].

Die Naturwissenschaft hat die Grenze zwischen Mensch und Tier durchlässig gemacht, soziales Lernen, Kultur und Intelligenz lassen sich auch bei Tieren finden[12]. Doch trotz aller Erkenntnisse und belegbarer Tatsachen wird Tierrechtlern immer wieder vorgeworfen, sie würden Tieren fälschlicherweise menschliche Attribute zuordnen. Dabei ist laut Kaplan das „Problem (…) nicht, dass wir die Tiere vermenschlichen, sondern eher, dass wir sie versachlichen, und uns nicht bewusst ist, dass es sich um leidensfähige Lebewesen handelt“[13]. Im Jahr 2002 wurde der Tierschutz als Verfassungsziel in das deutsche Grundgesetz mit aufgenommen. Während das Tier per Gesetz zum Wesen wurde, blieb es im Alltag hingegen weiterhin eine Sache, ein industrieller Rohstoff und Gegenstand, der absolut in die Verfügungsgewalt des Menschen und seiner Bedürfnisse gegeben ist. Man behandelt Tiere eher als nachwachsende Rohstoffe, denn als empfindungsfähige Mitgeschöpfe. Schimpansen sind mit 98,7 Prozent identischer Gene unsere nächsten Verwandten, und so will nach Neuseeland nun auch Spanien Grundrechte für Menschenaffen einführen. Jedoch würde mit der Einführung von Sonderrechten für Primaten lediglich eine neue Grenze gezogen werden, denn es ließe sich nicht vernünftig begründen, warum beispielsweise ein Schwein weniger wert ist und weniger Recht auf Leben hat.

Und so müssen gerade die gängigen Praktiken in der modernen Nutztierhaltung einer ethischen Betrachtung unterzogen werden, da die Anzahl der betroffenen Tiere bei weitem jede andere Gruppe leidender Lebewesen übersteigt (so werden Masthühner zum Beispiel nur 35 Tage alt, in Deutschland werden jährlich 367 Millionen davon verspeist). Es ist eine Frage der Ethik und der Moral, wie Menschen mit Tieren umgehen bzw. umgehen sollten. Neben dem bereits erwähnten Österreicher Helmut Kaplan sind die beiden wichtigsten Vertreter der tierethischen Diskussion Peter Singer[14] und Tom Regan[15]. Sie gelten als Begründer der modernen Tierethik. Regan und Singer plädieren für leere anstatt größere Käfige. Sowie Kaplan als auch Regan setzen sich für eine Leidminderung und explizite Tierrechte ein, denn eine „artgerechte Nutztierhaltung“ ist ein Widerspruch in sich. Singer vergleicht die heutigen Praktiken im Zusammenhang mit Nutztieren mit Sklaverei und den Vorkommnissen in Konzentrationslagern. Helmut Kaplan verurteilt zu Recht das Nichtwissenwollen in Kombination mit Wegsehen und Schweigen während der Nazizeit. So geschehen Tiertransporte auch nicht nur nachts, das heißt, die Bevölkerung weiß darum. Doch man blendet dieses Wissen so gut wie möglich aus. Die wenigsten Menschen nehmen wahr, dass für die Tiefkühlpackung Fleisch im Supermarkt Tiere leiden mussten, und doch wissen sie darum. Wer sich also nicht gegen die heute üblichen Praktiken im Umgang mit Tieren wehrt, wird von der Nachwelt verurteilt werden. Wir werden kein Verständnis von unseren Nachkommen erhalten, genauso wie wir (oder die wenigsten unter uns) kein Verständnis für die Geschehnisse zur Nazizeit haben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1.1 Tierleid ist immer weit weg[16]

Die Liste moralisch verwerflicher Übergriffe an Tieren ist lang. Angefangen bei Tierversuchen und Versuchstierhandel reicht sie über Haltung sowie Schlachtung von Tieren für den Fleischkonsum verbunden mit den dazu notwendigen Tiertransporten bis hin zu Stierkämpfen und Pelzhandel mit all ihren Grausamkeiten. Wildtiere, die im täglichen Straßenverkehr ihren Tod finden und deren Kadaver oftmals nicht einmal beiseite geräumt werden (in Österreich werden zum Beispiel jährlich 70.000 Rehe und Hasen totgefahren), unterstreichen den achtlosen Umgang des Menschen mit seinen Mitlebewesen. Trotz (kürzlich) eingeführter gesetzlicher Regelungen gehen wir mit vielen Tieren um, als wären sie lebendig bereits nur ein Stück Fleisch. Und dabei könnte man all dies ganz leicht verhindern. Doch es ist wenig fruchtbar, geschweige denn sinnvoll, mit Leuten über Tierethik zu diskutieren, deren einziges Argument lautet „Weil’s halt so ist“ und bei denen man von vornherein davon ausgehen muss, dass sie (sehr wohl begründete) Gegenargumente gar nicht hören wollen.

Mein Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit besteht darin, dass wir nicht wollen können, dass leidensfähige Lebewesen (unnötig) leiden, da wir sonst in einem Widerspruch mit uns stehen. Und da wir (aufgrund eines Analogieschlusses) fähig sind, selbst mit andersartigen Lebewesen Mitleid zu empfinden, müssen wir Tiere in unseren Kreis moralischer Berücksichtigung aufnehmen. Eine wesentliche qualitative Differenz zwischen Mensch und Tier ist dazu nicht nötig, sondern lediglich die Tatsache, dass wir Menschen über Empathie und Moral verfügen. Diese These wird in Kapitel 3, welches den Kern dieser Betrachtung darstellt, ausformuliert und begründet. Aufbauend auf dieser Grundlage werden in den darauf folgenden Kapiteln die allgemein übliche Anwendung der Tierzucht sowie diverse speziesistische Praktiken und deren Auswirkungen (auf Mensch, Tier und Umwelt) angeführt. Das wohl dunkelste Kapitel unter allen diesen menschlichen Machenschaften stellen die Tierversuche dar. Obwohl der Nutzen aus diesen Versuchen für den Menschen bekanntermaßen höchst fragwürdig ist, wird uns nach wie vor Glauben gemacht, dass ein medizinischer Fortschritt ohne sie nicht möglich wäre. Hans Jonas erachtet Experimente an nichteinwilligungsfähigen Menschen als moralisch unerlaubt, und genau dies muss auch für nichtmenschliche Tiere

gelten. Sodann werden in Kapitel 8 aus ökologischer Sichtweise die mit der heute praktizierten Nutztierzucht und -haltung verbundenen Probleme diskutiert. Die beiden vorletzten Kapitel beschäftigen sich zum einen mit der Frage, warum der Mensch immer noch in seiner speziesistischen Denkweise gefangen ist, und zum anderen, warum diese Denkweise gelockert werden muss und auch Tieren Rechte zugesprochen werden müssen. Dazu werden einige in der Tierrechtsphilosophie bekannte Personen zitiert, welche auf der ILAR 2006[17], einer interdisziplinären Vorlesungsreihe über Tierrechte an der Universität Heidelberg, aussagekräftige Vorträge gehalten haben. Ein abschließendes Kapitel beschäftigt sich damit, was aus all den in den vorangegangenen Kapiteln gemachten Feststellungen konsequenterweise folgen müsste: Eine (nahezu) vegetarische bzw. vegane Lebensweise. In diesem Zusammenhang sollen auch die Lügen-märchen, die uns von den (großen) Nahrungsmittelherstellern über die Werbung suggeriert werden, entlarvt werden und der enge Zusammenhang zwischen dem Konsumverhalten in den Industrieländern und der globalen Wirtschaftslage beleuchtet werden. Denn, unabhängig davon, ob man im Zuge der in dieser Darstellung vorgebrachten Argumente zu einer moralischen Verpflichtung den Tieren gegenüber gekommen ist, wäre ein radikal reduzierter Fleischkonsum besser für unsere (gemeinsame) Umwelt und auch besser für die Menschen in den ärmeren Regionen dieser Erde.

Zuallererst müssen jedoch einige Begriffe erklärt und festgelegt werden. Die auf den folgenden Seiten abgesetzten Zitate sollen gegenüber den im normalen Textfluss vorkommenden Zitaten hervorgehoben werden, da sie wichtige Aussagen und Argumente kurz und prägnant im Kern treffen. Die Zitate am Beginn der jeweiligen Kapitel lassen sich, sofern nicht anders angegeben, unter http://www.hoffnung-fuer-tiere.de/fundgrube/fundgrube-zitate.html finden.

2. Terminologie

„Eine der blamabelsten Angelegenheiten der menschlichen Entwicklung ist es, dass das Wort ‚Tierschutz’ überhaupt geschaffen werden musste.“

(Theodor Heuss)

Um sicher zu gehen, dass die im Text verwendeten Wörter sinngemäß verstanden werden, möchte ich zwei wichtige Begriffe einführen. Zum einen möchte ich festlegen, was das Wort Tier in diesem Text bedeutet, da sogar in Fachkreisen immer noch umstritten ist, wo der Übergang vom Tier zur Pflanze ist. Was den Menschen vom Tier unterscheidet, wird in Abschnitt 4.2 erläutert und in Kapitel 3 weiter ausgeführt.

Die zweite Begriffserläuterung erklärt den Vorgang der Domestikation. Es soll hierbei verdeutlicht werden, welche Auswirkungen die Domestikation auf die verschiedenen Arten von Pflanzen und vor allem Tieren hatte.

2.1 Definition Tier

Als Lebewesen werden alle Organismen erachtet, welche die drei wesentlichen Merkmale Stoffwechsel, die Fähigkeit zur Selbstreproduktion und die damit verbundene genetische Variabilität als Bedingung evolutionärer Entwicklung besitzen. Alle Lebewesen bestehen aus Zellen, von denen jede in ihrem Erbgut alle nötigen Informationen für Wachstum und für die vielfältigen Lebensprozesse enthält.

Ein Tier ist laut Definition ein Lebewesen, das mehrzellig ist, einen eukaryotischen Zellaufbau besitzt, heterotroph lebt und eigenständig bewegungsfähig ist. Die Abgrenzung von Pflanze und Tier ist nicht immer eindeutig, so ist beispielsweise eine Amöbe nicht mehrzellig, und auch Schwämme zählen zu den Animalia trotzdem sie sich nicht fortbewegen können. Diese Einordnung lässt sich nur anhand Darwins Evolutionstheorie[18] erklären, bei der es um den letzten gemeinsamen Vorfahren von Tieren und Pflanzen geht[19].

In der Systematik des Tierreichs wird eine Klassifikation aller Tiere von den beiden Unterreichen bis hin zu den einzelnen Arten mit ihren jeweiligen Rassen vorgenommen. Laut zoologischer Nomenklatur wird das Tierreich dabei anhand von morphologischen und physiologischen Eigenschaften in Arten wie zum Beispiel Rind, Schaf, Pferd, Schwein, Ziege, etc. unterteilt. Der Rassebegriff wurde erst vom Menschen geprägt, als er begann, Gruppen von Tieren der gleichen Art mittels künstlicher Selektion zu seinem Vorteil oder aus reiner Liebhaberei zu verändern[20].

Ich möchte mich in dieser Abhandlung in Hinblick auf ethische Belange lediglich auf den Unterstamm der Wirbeltiere (lat. Vertebrata) beziehen, da diese vom phylogenetischen[21] Blickpunkt aus betrachtet bereits ein geschlossenes Blutkreislaufsystem besitzen und ein zentrales Nervensystem ausgebildet haben. Zu den Wirbeltieren gehören alle Fische und Landwirbeltiere, zu denen wiederum der Mensch zu zählen ist. Für alle übrigen Unterstämme der Animalia als auch für Pflanzen möchte ich keine Aussagen treffen, was moralische Fragen angeht, da ich nicht beurteilen kann, ob diese Lebewesen aufgrund ihrer Phylogenese fähig sind, Schmerz bzw. Leid zu empfinden. Grundsätzlich möchte ich dies jedoch nicht ausschließen.

2.2 Der Begriff Domestizierung

Unter Domestizierung (oder auch Domestikation) versteht man einen Veränderungsprozess innerhalb einer Art von Tier oder Pflanze, bei dem diese über mehrere Generationen hinweg genetisch isoliert von der Wildform vom Menschen gehalten wird. Der Zweck einer Domestizierung wilder Tiere ist eine Verwendung als Nutz- oder Haustier.

Die Domestikation begann bereits vor über 12.000 Jahren[22]. Die ersten domestizierten Tiere waren Hunde (Wölfe in ihrer damaligen Wildform), welche als Jagdhelfer und später als Hütehunde abgerichtet wurden. Der älteste Nachweis in Form von Pfotenabdrucken ist etwa 23.000 Jahre alt. Jedoch lässt sich genetisch beweisen, dass Hund und Wolf sich bereits vor etwa 125.000 Jahren getrennt haben, was darauf schließen lässt, dass der Mensch schon viel früher Hunde als Haustiere gehalten hat.

Um Wildtiere zu domestizieren isolierte der Mensch einzelne Individuen, die den gewünschten Eigenschaften am ehesten entsprachen. Die menschliche Selektion unterband die natürliche evolutionäre Entwicklung innerhalb dieser Tiergruppe und die erwünschten Merkmale (wie z.B. verminderte Aggressivität) blieben so in den nachfolgenden Generationen erhalten bzw. verstärkten sich sogar.

Allerdings lassen sich an domestizierten Tieren eine Reihe typischer Merkmalsänderungen gegenüber der Wildform feststellen, was unter dem Namen Domestikationseffekt bekannt ist. Einige dieser Unterschiede von domestizierten Tieren im Gegensatz zu ihren Artgenossen sind[23]:

- eine Abnahme der Gehirnmasse um 20-30%, Rückgang der Furchung, insbesondere in den für die Verarbeitung der Sinneseindrücke bedeutsamen Gehirnarealen[24]
- die Verstärkung für den Menschen nützlicher Eigenschaften (beispielsweise die Milchleistung beim Rind)
- Änderung und Verlust einiger Verhaltensweisen (z.B. reduzierte Aggressivität)
- Reduzierung des Gebisses und von Hörnern
- Änderung der Fellfarbe von Tarnfarben hin zu vielfältigeren, auffälligen Farbvarianten
- Reduzierung des Fells (z. B. beim Hausschwein)
- Auftreten von Hängeohren
- steilere Stirn
- kürzerer Verdauungstrakt
- Ausbildung von Rassen mit zum Teil gravierenden Unterschieden im Erscheinungsbild (z.B. stammen Chihuahua und Bernhardiner beide vom Wolf ab)
- weniger gut entwickeltes Flucht- und Verteidigungsverhalten
- gesteigerte Fortpflanzungsrate
- weniger stark ausgeprägtes Brutpflegeverhalten
- Nachkommen domestizierter Wölfe bellen statt zu heulen

Das bedeutet, dass sich die genetischen Eigenschaften der Tiere und damit die Voraussetzungen für die Entwicklung einer Tierart im Rahmen der Domestikation geändert haben. Das im Laufe der Zeit erweiterte Wissen um Genetik beeinflusste die Tierzüchtung ebenfalls erheblich und ermöglichte eine bessere Umsetzung von Zuchtkriterien.

2.3 Speziesismus

Ein Vorurteil, eine Voreingenommenheit zugunsten der eigenen Art wird in Anlehnung an den jahrhunderte lang für intuitiv selbstverständlich gehaltenen Rassismus und Sexismus als Speziesismus bezeichnet[25]. Speziesisten gewichten die Interessen der eigenen Art stärker als die Interessen anderer Spezies. Die bloße Zugehörigkeit zur Spezies Mensch bildet die Grundlage für die Einräumung bestimmter Rechte. Jedoch reicht allein diese Zugehörigkeit beispielsweise nicht als hinreichende Qualifikation für die Ausübung des politischen Wahlrechts, sondern es wird selbstverständlich das Vorhandensein sachlich relevanter Eigenschaften gefordert wie eine gewisse geistige und sittliche Reife. Wie mittlerweile allgemein anerkannt und in den Gesetzen verankert, ist eine moralische Bewertung oder Diskriminierung aufgrund der bloßen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Hautfarbe bzw. Rasse oder zu einem bestimmten Geschlecht nicht gerechtfertigt. Für Speziesisten beschränkt sich allerdings die Forderung der Goldenen Regel, wonach jeder andere so behandeln soll, wie er von ihnen behandelt werden will, allein auf die menschliche Spezies.

Laut vieler Autoren wie Singer, Regan, Kaplan und anderen, ist der Speziesismus lediglich die Weiterführung von Rassismus und Sexismus. Die Anwendung der Goldenen Regel ist ihrer Meinung nach nicht auf die Spezies Mensch zu beschränken, da die moralisch höchst relevante sachliche Gemeinsamkeit der Rassen, Geschlechter und Spezies die Leidensfähigkeit (wird in Abschnitt 3.3.6 genauer ausgeführt) ist, welche als speziesunabhängig zu bewerten ist. Dennoch wurden in der Vergangenheit immer wieder Versuche unternommen, eine speziesistische Einstellung unter Hinweis auf bestimmte Merkmale zu retten. Da jedoch kein Merkmal, das von irgendjemandem als relevant erachtet wird, entlang der Speziesgrenze Mensch-Tier verläuft, führt diese Strategie „nur zur völligen Bankrotterklärung des Speziesismus“[26]. Denn es gibt immer Tiere, bei denen das betreffende Merkmal ebenso wenn nicht stärker ausgeprägt ist als bei bestimmten Individuen der Gattung Mensch. Beispielsweise werden die Merkmale Autonomie, Rationalität und Selbstbewusstsein immer wieder herangezogen, um die besondere Stellung des Menschen zu argumentieren und eine speziesistische Haltung zu rechtfertigen. Aber sofern diese Merkmale die Voraussetzung für einen moralischen Status bilden, so müssen wir bestimmte geistig behinderte, geisteskranke, hirngeschädigte und komatöse Menschen von diesem Status ausnehmen, da diese nur in geringem Ausmaß oder gar nicht autonom, rational und selbstbewusst sind. Werden andererseits die Voraussetzungen für moralische Berücksichti-gung so großzügig formuliert, dass solchen Menschen der moralische Status nicht abgesprochen wird, so müssen wir konsequenter Weise auch vielen Tieren diesen Status zuerkennen, da sie die Voraussetzungen dafür spielend erfüllen. Eine Speziesgrenze Mensch-Tier erweist sich daher als völlig ungeeignet zur Etablierung oder Rechtfertigung moralischer Rechte. Eine speziesistische Position ist aufgrund der Faktenlage (welche im folgenden Kapitel ausführlich abgehandelt wird) absolut unhaltbar. Es kann keine Grenzlinie gesichert sein, welche willkürlich gezogen wurde. Würden wir erst einmal einräumen, dass bestimmte geistig Behinderte keinen höheren moralischen Status haben als alle nichtmenschlichen Tiere, dann befänden wir uns bereits auf der schiefen Ebene und einem Missbrauch wäre Tür und Tor geöffnet. Antispeziesisten geht es deshalb nicht darum, den Status von Menschen zu verschlechtern, sondern den von Tieren zu verbessern. Es ist unser aller Überzeugung, dass es falsch ist, geistig Behinderte mit Lebensmittelfarbe zwangszuernähren, bis die Hälfte von ihnen stirbt (so wird es im LD-50-Test bei Tierversuchen gemacht, um die Menge einer toxisch wirkenden Substanz herauszufinden, die eine bestimmte Spezies „verträgt“). Diese Überzeugung sollte nach Ansicht der Antispeziesisten auf nichtmenschliche Lebewesen übertragen werden, die auf einer ähnlichen Stufe des Selbstbewusstseins stehen und ähnliche Leidensfähigkeit besitzen.

Es gibt historisch gesehen erstaunlich viele Parallelen in der Behandlung von Sklaven und den heutigen Nutz- und Haustieren. Die Anzahl der heute Betroffenen übersteigt aber absolut jede andere Gruppe in der Vergangenheit unterdrückter Menschen, denn es leben derzeit dreimal so viele Haus- bzw. Nutztiere wie Menschen auf diesem Planeten.

3. Der kleine Unterschied

„Der Tag wird kommen, an dem auch den übrigen lebenden Geschöpfen die Rechte gewährt werden, die man ihnen nur durch Tyrannei vorenthalten konnte. Die Franzosen haben bereits erkannt, daß die Schwärze der Haut kein Grund ist, einen Menschen schutzlos den Launen eines Peinigers auszuliefern. Eines Tages wird man erkennen, daß die Zahl der Beine, die Behaarung der Haut und das Ende des os sacrum sämtlich unzureichende Gründe sind, ein empfindendes Lebewesen dem gleichen Schicksal zu überlassen. Aber welches andere Merkmal könnte die unüberwindliche Grenzlinie sein? Ist es die Fähigkeit zu denken oder vielleicht die Fähigkeit zu sprechen? Doch ein erwachsenes Pferd oder ein erwachsener Hund sind weitaus verständiger und mitteilsamer als ein Kind, das einen Tag, eine Woche oder sogar einen Monat alt ist? Doch selbst, wenn es nicht so wäre, was würde das ändern? Die Frage ist nicht: Können sie denken ? oder: Können sie sprechen ?, sondern: Können sie leiden ?“[27]

(Jeremy Bentham; zitiert bei Singer, Animal Liberation, S. 35f)

Die Tatsache, dass sich das Genom des Menschen nur um 1,3% vom Genom des Schimpansen unterscheidet, unterstreicht nachdrücklich, dass der Mensch immer noch Teil des Tierreichs ist, auch wenn er immer wieder versucht sich davon abzuheben. Die folgende Grafik soll verdeutlichen, wie die nächsten Verwandten des Menschen sich im Laufe der Evolution voneinander getrennt haben. Der letzte gemeinsame Vorfahre von Schimpanse und Mensch lebte vor fünf Millionen, der letzte gemeinsame Vorfahre von Neanderthaler und Homo sapiens vor rund 500.000 Jahren. Damals lebten etwa 10.000 Individuen des Homo sapiens in Afrika und verdrängten nach und nach den Neanderthaler. Der Mensch, welchen man auch als „nackten Affen“ bezeichnen kann, gehört der Ordnung der Primaten an, zu der die beiden Unterordnungen der Feuchtnasenaffen und Trockennasenaffen gehören. Hominidae nennt sich die Familie der Menschenaffen (Überfamilie Menschenartige, Teilordnung Altweltaffen, welche zur Unterordnung der Trockennasenaffen gehört) und teilt sich in die Gattungen Orang-Utans, Gorillas, Schimpansen (diese drei werden zusammengefasst als Menschenaffen) und Menschen (oder auch bezeichnet als echte Menschen). Zur letzten Gattung gehört als Einzige die Art moderner Mensch (Homo sapiens), alle anderen sind ausgestorben. Man sieht also deutlich, wie eng der Mensch mit anderen Hominiden verwandt ist, trotz der unterschiedlichen Weiter-entwicklung im Laufe der Zeit.

Doch die Evolution hat nicht etwa Halt gemacht, sie geht noch immer weiter und wird vermutlich auch nie aufhören, solange es Individuen irgendwelcher Arten gibt. Jedes zweihundertste Baby macht einen Sprung im Genom[28] und hat somit eine veränderte Erbinformation.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3.1 Die Abstammung des Menschen

Betrachtet man nun also die beiden Genome von Mensch und Schimpanse als nächsten Verwandten, so ist der Unterschied wirklich nicht sehr groß. Und doch muss man zugeben, dass bereits die äußere Erscheinung der beiden sich erheblich unterscheidet. Und es gibt noch mehr Unterschiede, darin sind die Menschen sich einig. Die Trennung Mensch – Menschenaffen erfolgt derzeit aufgrund der Annahme kultureller und geistiger Besonderheiten des Menschen. Eine kulturelle Entwicklung bezieht sich dabei auf Religion und Ethik, Kunst, Recht, Staat, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Die Voraussetzung hierfür waren eine vergleichsweise überdimensionale Entwicklung des Großhirns, Sprache (hierzu ist zudem ein Kehlkopf notwendig) und eine Greifhand. Beim Menschen gab es Geschwindigkeitsunterschiede zwischen der biologischen und der kulturellen Evolution. Er gibt deshalb Informationen von Generation zu Generation weiter (was aber Ratten zum Beispiel auch machen). Rudimentär sind die genannten kulturellen Fähigkeiten auch bei anderen Spezies zu finden. Doch können wir so etwas – aus unserer anthropologischen respektive anthropozentrischen Sicht, aus der wir nie hinaus kommen – überhaupt bewerten?

Was genau soll es also sein, das den Menschen grundlegend von allen anderen Tieren, selbst unseren nächsten Verwandten, unterscheidet? Gibt es überhaupt einen solchen fundamentalen Unterschied und wenn ja, welches Kriterium kann dann für eine gültige Trennung verwendet werden? Ich werde in diesem Kapitel versuchen, meine These zur moralischen Bewertung von Tieren aufzustellen und ausreichend zu begründen. Dazu werde ich mögliche Kriterien für eine moralische Trennung von Mensch und Tier untersuchen und diese nach ihrer Tauglichkeit bewerten. Da ich letztendlich doch davon überzeugt bin, dass es gewisse Unterschiede gibt – wozu auch immer diese uns legitimieren sollen – werde ich mich bemühen, diese zu finden und erörtern was daraus für uns folgen soll.

Vorweg möchte ich verschiedene Definitionen des Begriffes „Mensch“ betrachten, die von Philosophen und Gelehrten in der Vergangenheit gegeben wurden, um ihn vom Begriff Tier zu trennen. Für Rousseau zum Beispiel war das wesentliche Kriterium des Menschseins die Vernunft[29]. Diese kann aber laut Werner Hill bestenfalls helfen, Vorteilhaftes von Unvorteilhaftem zu unterscheiden. Um gut zu handeln, bedarf es des Instinktes. Selbsterhaltung und Mitleid werden von ihm als die ursprünglichsten und einfachsten Äußerungen der menschlichen Seele angesehen. Mitleid wird dabei konstitutiv als die Unfähigkeit gesehen, ein anderes Wesen (vor allem gleicher Art) leiden zu sehen. Auch gegenüber Tieren tritt Mitleid in gewissem Maße zu Tage. Laut Schopenhauer ist Mitleid das Fundament der Gerechtigkeit und Ethik[30]. Eine vielleicht noch nützlichere Forderung als die Gerechtigkeit ist die goldene Regel des sittlichen Verhaltens: „Strebe nach deinem Besten, aber lasse dieses Streben anderen so wenig wie möglich zum Nachteile gereichen!“, Gerechtigkeit ist für Rousseau ein konsekutives Produkt der Vernunft. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist daher lediglich quantitativer Natur. Er beruht mehr auf der Freiheit des Handelns als auf Verstandestätigkeit. Beide, Mensch und Tier, sind „künstliche Maschinen“. Das Handeln der Tiere basiert auf Trieben und Instinkten, das der Menschen hingegen auf Freiheit und Selbstbewusstsein, sie – und nur sie – besitzen laut Roussau die Fähigkeit, sich selbst zu vervollkommnen. Das Tier ist für Rousseau eine „zukunftslose“ Kreatur: „Seine Seele, von nichts bewegt, überlässt sich der bloßen Empfindung ihres gegenwärtigen Daseins, ohne irgendeinen Gedanken an die Zukunft, wie nahe auch immer sie bevorstehe …“[31] und trennt somit die Spezies Mensch von den anderen Arten. Die Gleichheit aller Angehörigen dieser einen Art ist auch heute noch der Grundsatz des deutschen Rechts.

Im „Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik“ von DDr. Johannes Messner wird die Natur des Menschen[32] folgendermaßen beschrieben: Der Mensch steht seinem Leibe nach dem Tierreich nahe, stellt aber eine einzige Art im zoologischen Sinne dar. Alle menschlichen Rassen sind demnach unbeschränkt kreuzungsfähig. Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen, ein Homo faber (das bedeutet, er ist fähig, Werkzeuge herzustellen) und kann Ursache-Wirkung-Beziehungen erfassen. Sein Erkenntnis- und Selbstbestimmungs-vermögen unterscheiden ihn als animal rationale, als Homo sapiens, wesentlich (jedenfalls in quantitativer Hinsicht) von der Tierwelt. Laut Messner hat die menschliche Seele (hierauf wird in Abschnitt 3.3.2 näher eingegangen) im Gegensatz zur Tierseele ein geistiges, selbständiges und unsterbliches Wesen und ist der Sitz der Vernunft, was als metaphysische Anthropologie der Naturrechtslehre gesehen werden kann. Der Mensch, als gesellschaftliches Wesen, ist „Person“, weil er durch Vernunft und Selbstbestimmung (Willensfreiheit) ausgezeichnet ist. Er allein ist die einzige Spezies, die Selbstmord begehen kann. Tiere tun das nicht. Das Tier ist daher – anders als der Mensch – immer das, was es seiner Natur nach zu sein bestimmt ist. Die Selbstbestimmung, welche der menschlichen Natur inne wohnt, ist für Messner der Grund für die Verantwortlichkeit des Menschen in seinem Verhalten, für das Entstehen des Phänomens des Sittlichen im Menschen. Wiederum wird die Vernunft als ein spezifisch menschliches Verhalten deklariert[33]. Des Menschen Sittlichkeit besteht laut Messner in der Übereinstimmung seines Verhaltens mit den in seiner Natur, ihren körperlichen und geistigen Trieben vorgezeichneten Zwecken, oder kurz gesagt, in der „Triebrichtigkeit“ (vgl. Aristoteles: das Gute im „rechten Triebe“).

Bei Bentham schließlich, dessen Utilitarismus auch ein Konsequentialismus ist, sollte die Leitlinie des Handelns das größtmögliche Glück für eine größtmögliche Zahl der betroffenen Individuen sein, wobei er keinen Unterschied macht zwischen Mensch und Tier. Jeder zählt als genau einer, und die Interessen müssen gleich gewichtet werden. Für ihn gibt es nur die beiden Grundkonstanten Schmerz und Lust, welche jegliches Leben bestimmen. Ziel ist eine Lustmaximierung und Schmerzminimierung. Da nicht jede Lust gleich gesetzt werden kann und auch der Schmerz von seiner Intensität und dem ihn empfindenden Individuum abhängt, erweiterte Mill den ursprünglichen Utilitarismus Benthams um eine qualitative und quantitative Dimension[34]. Der dritte in der Reihe der hier rezipierten Utilitaristen, Singer, plädiert für eine antispeziesistische Haltung, weil das von ihm verwendete Kriterium der Leidensfähigkeit Tiere mit Menschen in Bezug auf Leidvermeidung gleichsetzt. Sein Grundprinzip der Gleichheit fordert dabei nicht eine identische Behandlung, sondern lediglich eine gleiche Berücksichtigung von Interessen (eine Vorbedingung, um Interessen bzw. Präferenzen haben zu können, ist die Fähigkeit zu Leiden und Freude, also kurz das Empfindungsvermögen), was insofern zu unterschiedlicher Behandlung und auch unterschiedlichen Rechten führen kann. Beispielsweise schlagen sich die Unterschiede zwischen Mann und Frau auch in unterschiedlichen Rechten nieder: Das Recht der Frau auf Abtreibung wäre für Männer nicht in gleicher Weise sinnvoll, da sie nicht schwanger werden können. Genauso unsinnig wäre ein Wahlrecht für Hunde. Das Grundprinzip der Gleichheit umfasste Frauen beispielsweise früher nicht. Laut Singer sind Rassismus und Sexismus deshalb als falsch zu bewerten, weil die Gleichheit nicht von faktischen Gegebenheiten abhängt, denn schließlich sind alle Menschen im Einzelnen verschieden. Das Prinzip der Gleichheit als „grundlegendes moralisches Prinzip“ ist also in erster Linie eine Vorschrift, die uns sagt, wie wir andere (Menschen) behandeln sollen[35] - bei gleicher Berücksichtigung der Interessen. Dies impliziert, dass unsere Rücksichtnahme auf andere und unsere Bereitschaft, ihre Interessen zu erwägen, nicht von deren Beschaffenheit oder Fähigkeiten abhängen sollte. Das Grundprinzip der Gleichheit muss laut Singer daher auf alle Lebewesen ausgedehnt werden, ganz egal, ob weiß oder schwarz, ob männlich oder weiblich, ob menschlich oder nicht menschlich. Bei gleicher Berücksichtigung der Interessen soll jedem Lebewesen zukommen, was ihm zusteht, das bedeutet, dass zum Beispiel Schweinen etwas anderes zusteht als Kindern in Afrika. Die Fähigkeit zu leiden ist demnach für Singer das wesentliche Kriterium, das einem Lebewesen das Recht auf gleiche Berücksichtigung seiner Interessen verleiht. Und nichtmenschliche Tiere haben Interessen, da sie leiden können, was ich in Abschnitt 3.3 darstellen werde. Die Vorstellung von der Zukunft macht aber auch für Singer Unterschiede, denn dies kann sich wiederum auf die Leidensfähigkeit auswirken, wie wir weiter unten sehen werden.

Gut, wir wissen, dass der Mensch Zukunftsorientierung besitzt. Sein Streben wie zum Beispiel Lernen oder Umweltschutz bezieht sich auch immer auf Ereignisse, die in mehr oder weniger ferner Zukunft liegen. Berechnend und kalkulierend nimmt der Mensch sogar Einfluss auf die weitere Evolution, in dem er Artenzucht betreibt und Gentechnologien weiter entwickelt. Aber woher wollen wir mit Sicherheit wissen, dass nicht auch manch andere Spezies in unserem Sinne zukunftsorientiert handeln? Wir nehmen es an, aber es gibt weder einen Beweis, dass sie es tun, noch dass sie es nicht tun. Für vieles werden wir noch lange keine Begründung finden können, doch für manche Parallelen zwischen Mensch und Tier gibt es mittlerweile wissenschaftlich belegbare Beweise. Ich werde in den nun folgenden Abschnitten meine Ansicht in Bezug auf die moralische Berücksichtigung anderer Spezies darstellen und eingehend untersuchen, warum man die Interessen von Tieren genauso berücksichtigen sollte wie die eines Menschen und die moralische Verantwortung der Menschen gegenüber nichtmensch-lichen Lebewesen zumindest überdacht werden sollte.

3.1 Entwicklung einer These

Um zu begründen, warum Tiere moralisch berücksichtigt werden sollen, müssen wir zuerst wissen, woher unsere Moral – das Wissen um Gut und Böse – überhaupt kommt. Dabei ist Moralität zu unterscheiden von Moralfähigkeit, denn selbst wenn wir die Anlage dazu haben, zwischen guten und schlechten Handlungen unterscheiden zu können, heißt es noch lange nicht, dass wir auch immer moralisch (im Sinne von moralisch gut) handeln. Und selbst wenn wir in der Überzeugung handeln, in moralischer Hinsicht das Richtige zu tun, muss es objektiv gesehen noch lange nicht richtig sein oder kann letzten Endes unvorhergesehene (und unbeabsichtigte) negative Auswirkungen haben. Wenn jemand nicht nach konventionellen moralischen Maßstäben lebt, bedeutet das nicht, dass er nicht nach irgendwelchen anderen moralischen Maßstäben lebt und somit seiner Meinung nach moralisch richtig handelt. Die Vernunft spielt laut Singer bei moralischen Entscheidungen eine wichtige Rolle. Ich glaube jedoch, dass wir viele moralische Urteile „aus dem Bauch heraus“ fällen, also gerade eben nicht erst, nachdem wir lange darüber nachgedacht und alle Vor- und Nachteile sowie die Konsequenzen bestimmter Entscheidungsmöglichkeiten gegeneinander abgewogen haben. Das beschriebene Bauchgefühl spiegelt unser Weltbild wieder, welches von der Gesellschaft, in der wir leben, geprägt ist und in welchem unsere Moral verankert ist. Es setzt uns in die Lage, schnell und intuitiv „richtige“ Entscheidungen treffen zu können. Unsere eigene Moral fungiert dabei immer als eine Richtlinie, wie wir unsere Mitmenschen (und Mitlebewesen) behandeln sollen, auch wenn wir oft genug bewusst dagegen handeln und dann vielleicht von unserem schlechten Gewissen gequält werden. Woher aber kommt dieses Wissen um Gut und Böse? Manche würden sagen, es wurde uns von Gott gegeben, oder andere könnten meinen, es liegt in unserer Natur, oder unserer Vernunft. Freilich ist der Begriff Moral an sich schon in vielerlei Weise definierbar und wurde auch von vielen Philosophen in unterschiedlicher Weise formuliert, eine endgültige objektive Definition gibt es jedoch nicht. Allerdings gibt es einen gewissen Grundsatz, der sich in allen Kulturkreisen und Philosophien in nahezu analoger Form wieder finden lässt, nämlich die bereits erwähnte „Goldene Regel“, welche sich auch im Buch Leviticus findet. Sie besagt, dass man niemandem etwas antun sollte, das man selbst nicht angetan bekommen möchte. Unabhängig davon, dass das, was man nicht angetan bekommen möchte, von Mensch zu Mensch (etwa durch unterschiedlich ausgeprägtes Schmerzempfinden) und Kulturkreis zu Kulturkreis unterschiedlich sein kann (da Sitten in jeder Kultur ein wenig anders definiert werden), ist diese Regel die einfachste und grundlegendste Moralregel schlechthin. Das, was ich selbst als schlecht empfinde, empfinde ich deshalb als schlecht, weil es mir Schmerzen bereitet oder mir in irgendeiner Form Schaden zufügt. Das bedeutet, ich würde darunter leiden. Wenn ich selbst also unter etwas leiden würde, tue ich dasselbe nicht jemand anderem an (psychisch abnormes Verhalten wie das von Triebtätern muss hierbei freilich ausgenommen werden). Die Anwendung der Goldenen Regel bedeutet daher, den Interessen anderer dieselbe Bedeutung beizumessen wie den eigenen. Dies basiert meines Erachtens auf dem Vermögen, sich in die Lage anderer hinein versetzen zu können, der Empathie. Sie befähigt uns zu Mitleid, welches schon Rousseau als eine der ursprünglichsten Äußerungen der menschlichen Seele ansah, wie ich bereits angeführt habe. Laut Hare ist das logische Merkmal moralischer Urteile die Universalisierbarkeit, und er meint damit universalisierbar auf alle anderen Menschen. Eine utilitaristische Position ist infolgedessen eine minimale Grundlage, zu der wir kommen, wenn wir den vom Eigeninteresse geleiteten Entscheidungsprozeß universalisieren. Doch ich denke, wir müssen darüber hinausgehen. Denn, wie ich im Folgenden darstellen und argumentieren werde, müssen wir aufgrund unserer Empathiefähigkeit Tiere bei unseren moralischen Entscheidungsprozessen mit berücksichtigen. Dies folgt aus der faktischen Gleichheit zwischen Mensch und Tier aus einem pathozentrischen Blickwinkel. Wie Singer sehe auch ich die Leidensfähigkeit als das wesentliche Kriterium für eine moralische Berücksichtigung der Interessen eines Individuums an. Ich werde versuchen zu zeigen, dass zwischen Mensch und Tier keine klare Trennung gemacht werden kann, und sofern man für Randexistenzen wie Säuglinge und geistig Behinderte die Situation nicht verschlechtern will, muss man sie insofern für Tiere verbessern. Alles andere wäre speziesistisch und – wie ich darstellen werde – moralisch nicht haltbar.

Mein Ansatzpunkt ist nunmehr, dass die menschliche Moralfähigkeit durch Empathie begründet ist. Wie aber ist die Verbindung von Empathie (definiert als konkreter Akt des Mitfühlens) und Moralfähigkeit zu denken? Die Moralfähigkeit ist als Potenz, als Vermögen zu unterscheiden von Moralität, Moral oder Sittlichkeit als konkreter Akt oder Habitus. Daraus lässt sich folgendes Potenzargument ableiten: Um potentiell moralisch handeln zu können (Moralfähigkeit), muss in jeder konkreten Situation unthematisch (zwar bewusst, aber nicht im Bewusstsein reflektiert) oder ausdrücklich Empathie mit jenen empfunden werden können, auf die das Handeln in seinen Folgen direkt oder indirekt gerichtet ist. Nur dann ist Moralfähigkeit möglich. Das bedeutet, dass nicht jeder Mensch per se bereits moralfähig ist. Empathie erfolgt vor allem aufgrund von Analogieschlüssen, das bedeutet, sie muss besonders bei jenen Lebewesen empfunden werden, bei denen ich eine der meinen isomorphe Leidensfähigkeit erkennen kann. Analogieschlüsse sind insbesondere also bei Wirbeltieren biologisch evident. Als denkendes Wesen kann ich dies nicht ignorieren. Das Aktargument, die Moral betreffend, lautet somit: Wer oder was soll mich dazu bringen, meine durch Empathie erlangte Moralfähigkeit auch anzuwenden? Es lässt sich hier eine hohe Verwandtschaft zu Kants kategorischem Imperativ ersehen, welcher (ebenfalls) auf der Generalisierbarkeit aufbaut. Nun lässt sich ein Syllogismus herleiten:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Als Anmerkung hierzu lässt sich bemerken, dass aus diesem Syllogismus folgt, dass sich nur der moralisch handelnd nennen kann, der auch die Interessen von Wirbeltieren berücksichtigt. Denn moralisch kann eine Handlung nur dann genannt werden, wenn alles, was moralisch zu berücksichtigen ist, auch berücksichtigt wird. Über die Moralität einer Handlung kann (in Analogie zu Kant) allein das Gewissen des Handelnden entscheiden. Daraus folgt weiter, dass sich keiner moralisch nennen kann, der sich über die Folgen seiner Handlungen bewusst ist, die gegen die Interessen von moralisch zu berücksichtigenden Lebewesen laufen, und trotzdem entgegen handelt. Mein Fundamentalargument auf die Frage: „Warum kann ich als Mensch nicht wollen, dass Tiere leiden?“ lautet:

Ich kann nicht wollen, dass leidet, wer leiden kann, weil ich nicht wollen kann, dass ich leide.

Für alle vernunftbegabten Wesen muss diese Maxime (mit Kant) zu einem Sittengesetz bzw. einer Formel des kategorischen Imperativs werden. Ein möglicher Einwand hiergegen wäre das Wissensargument, wonach nur derjenige moralisch belangbar ist, der über die Implikationen bzw. Folgen seines Handelns Bescheid weiß. Wenn ich jedoch über Zustände Bescheid weiß, und trotzdem nicht anders handle, kann ich niemals moralisch handeln, denn dann handle ich im Widerspruch zu mir, sofern ich dennoch behaupten würde, dass ich moralisch handle.

Ich setze nunmehr voraus, dass Menschen moralfähig sind aufgrund ihres Empathievermögens. Wenn (bestimmte) Tiere ebenso leidensfähig sind wie Menschen, sowohl in physischer wie in psychischer Hinsicht, sind sie demnach moralisch genauso zu bewerten wie Menschen. Sofern wir also Mitgefühl mit unseren Mitmenschen haben, müssen wir auch Mitgefühl den Tieren gegenüber zeigen. Was wir unseren Mitmenschen nicht (mehr) antun dürfen, dürfen wir insofern auch Tieren nicht antun. Allerdings werde ich die Frage mehr oder weniger offen lassen müssen, welchen Spezies letztendlich der gleiche moralische Status zukommt wie Menschen und welchen nicht. Regan beschränkt sich in seinen Ausführungen zumindest auf alle Säugetiere, welche ein Jahr oder älter sind. Ich denke, ich kann in den folgenden Abschnitten klar machen, dass wir wohl noch nicht genau wissen, welche Spezies aufgrund ihrer biologischen Eigenschaften in den zu berücksichtigenden Rahmen unbedingt hinein fallen und welche man moralisch eher unbedacht lassen kann, aber das bedeutet nur, dass wir im Zweifelsfall die bestimmte Spezies besser mit berücksichtigen sollten. Auch die Tier-Pflanze-Grenze ist verschwommen, wie ich bereits in der Terminologie erwähnt habe. Das Nervensystem von Arten auf dieser Ebene ist jedoch noch nicht soweit entwickelt, dass man die moralische Berücksichtigung von beispielsweise Amöben hier diskutieren müsste. Zumal ich mich, wie der Titel bereits sagt, auf Nutztiere (fast ausschließlich Säugetiere, Vögel und Fische) beschränken möchte.

Es ist mir durchaus bewusst, dass meine These und die Begründungen, welche ich hier anführe, angreifbar sind. Doch auch jede andere These ist in irgendeiner Weise kritisierbar, da sie von bestimmten Prämissen ausgehen muss. Akzeptiert man die Prämissen nicht, lässt sich jede These aushebeln. Gerade weil sich meine Prämisse auf etwas (zurzeit noch in gewissem Maße) so Unwissenschaftliches stützt wie das Gefühl, ist meine These widerlegbar. Ich möchte daher nicht den Anspruch geltend machen, eine Letztbegründung von Moral zu liefern, sondern lediglich die für mich plausibelste Erklärung so darstellen, dass sie leicht nachzuvollziehen ist. Keine Philosophie kann in sich völlig schlüssig sein, auch wenn viele von ihren eigenen Philosophien so überzeugt sind, dass sie denken, dem wäre so. Wir kommen aus unserem Subjektivismus nie heraus und deshalb hängt eigentlich immer alles davon ab, wie plausibel und naheliegend dargestellte Argumente sind, selbst wenn sie unser (jeweiliges subjektives) Weltbild verändern sollten.

3.2 Über Gleichheit und Ungleichheit

Vor dem heutigen Gesetz sind alle Menschen gleich. Artikel 1 der UNO-Deklaration der Menschenrechte lautet:

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“

Doch das war nicht immer so. Erst am 19. Juni 1964 wurde von Präsident Johnson in den USA das Bürgerrechtsgesetz verkündet, in dem die Rassentrennung aufgehoben wurde. Bis dahin war Sklavenhaltung jahrtausendelang an der Tagesordnung und allgemein üblich. Auch die politische Gleichstellung der Frauen musste hart erkämpft werden. So wurde in Deutschland erst im Jahre 1918 das Frauenwahlrecht im Gesetz verankert. Auch das Recht auf Bildung und das Recht auf Erwerbstätigkeit mussten die Frauen sich erst erkämpfen. Rassismus und Sexismus werden heute nicht mehr als angemessen erachtet, doch der Wandel einer Einstellung bzw. der Wandel eines Weltbildes benötigt immer geraume Zeit. So dauerte es damals schon ziemlich lange, den Sinneswandel bei einem Großteil der Bevölkerung soweit auszulösen, dass über eine Gesetzesverankerung zumindest diskutiert werden konnte. Und ist das neue Gesetz beschlossen, dauert es wiederum, bis die Gesellschaft es akzeptiert und anerkennt. Dass Menschen sich nicht immer an die von ihnen gemachten Gesetze halten, ist klar, aber ein bestehendes Gesetz besagt zumindest aus, dass über dessen Inhalt gewissermaßen Konsens besteht.

Wir behandeln Menschen also dem Gesetz nach gleich, was man als Prinzip der Gleichheit aller Menschen betrachten kann. Doch die Menschen als Individuen sind nicht gleich. Sie unterscheiden sich oft erheblich im Ausmaß ihrer individuellen Eigenschaften. Auch gibt es natürlich Unterschiede zwischen den Rassen und den Geschlechtern, nicht nur in Hinblick auf äußerliche Merkmale, sondern ebenso in Bezug auf Intelligenz. Sie hat nichts zu tun mit den grundlegendsten Interessen, die Menschen haben, wie dem Interesse an der Vermeidung von Schmerz, Entfaltung von Fähigkeiten und der Befriedigung elementarer Bedürfnisse wie Nahrung und Behausung sowie liebevolle persönliche Beziehungen und frei zu sein, um seine Pläne verwirklichen zu können. Rawls nennt die wesentlichen Eigenschaften, die allen Menschen zukommen, „Bereichseigenschaften“, weil das Ausmaß der einzelnen Eigenschaften sich immer in einem bestimmten Bereich bewegt und nicht unbedingt bei allen Individuen gleich stark ausgeprägt sein muss. Er sieht die moralische Persönlichkeit als die Grundlage der menschlichen Gleichheit, die er aus dem vertragstheoretischen Ansatz der Gerechtigkeit: „schlag mich nicht und ich schlag dich nicht“ ableitet. Laut Rawls sind daher nur diejenigen moralisch, welche diesen Vertrag zu schätzen wissen. Für Singer ist eine moralische Persönlichkeit keine Basis für eine Gleichheit. Denn wo würde man das Minimum ansetzen? Was wäre dann mit Kindern, komatösen oder geistig behinderten Menschen? Rawls rettet sich aus diesem Dilemma, indem er solche Individuen als potentielle moralische Personen bezeichnet. Dies ist allerdings nur ein Behelf und Rawls gesteht ein, dass Menschen mit unheilbaren geistigen Behinderungen „eine Schwierigkeit darstellen dürften“, wie Singer kritisch bemerkt[36]. Überdies möchte ich behaupten, ist der vertragstheoretische Ansatz auch für Tiere nicht völlig auszuschließen. Wie ich im nächsten Abschnitt über Kriterien zeigen werde, kommt es beim Kampf um Ressourcen unter artgleichen Tieren nicht immer zu einer physischen Auseinandersetzung. Vielmehr versuchen sie einen Kampf auf Leben und Tod zu umgehen und scheinen bei ihren Rivalitäten mit genetisch verwandten Artgenossen nach gewissen Regeln vorzugehen, um Verletzungen zu vermeiden.

Wenn der Anspruch auf Gleichheit nicht auf der faktischen Gleichheit aller Menschen oder auf dem Besitz von Intelligenz, moralischer Persönlichkeit, Rationalität oder ähnlichen Tatsachen beruht, so ist die (menschliche) Gleichheit vielmehr ein grundlegendes moralisches Prinzip und keine Tatsachenbehauptung. Dies resultiert im Prinzip der gleichen Interessenabwägung, was bedeutet, dass bei moralischen Entscheidungen die Interessen aller Beteiligten gleich und unparteiisch abgewogen werden sollen. Ich stimme mit Singer soweit überein, dass stärkere Interessen vorrangig behandelt werden sollen, unabhängig davon wessen Interessen sie sind. Dabei führt das Prinzip der gleichen Interessensabwägung nicht gezwungenermaßen zu einer Gleichbehandlung. Nehmen wir beispielsweise zwei Verletzte, von denen einer nur leicht verletzt ist und leichte Schmerzen hat und der andere mit einem zerquetschten Bein und starken Schmerzen im Sterben liegt. Es würden nur zwei Morphiumspritzen zur Verfügung stehen. Die Verabreichung von je einer würde dazu führen, dass der leichter Verletzte keine Schmerzen mehr hat, dem anderen jedoch nicht wirklich Erleichterung verschafft werden würde. So könnte die gleiche Interessensabwägung dazu führen, dass man dem Verletzten mit dem zerquetschten Bein beide Spritzen verabreichen würde. Wie dieses Beispiel zeigt, führt eine gleiche Interessensabwägung manchmal erst auf den zweiten Blick zu einem egalitären Ergebnis. Und schließlich können Interessen in Abhängigkeit von Fähigkeiten und anderen Merkmalen eines Individuums variieren. Und so unterschiedlich die einzelnen Individuen einer (menschlichen) Rasse sind, so unterschiedlich sind auch die einzelnen Rassen. Würde sich nun herausstellen, dass die Intelligenz eines Menschen in Relation zu seiner Hautfarbe steht, so könnte dies vielleicht erneut Anlass zu Rassendiskriminierung geben. Die Unterschiede zwischen Rassen und Geschlechtern zu diskutieren ist jedoch nicht Teil dieser Abhandlung. Unabhängig von Rasse und Geschlecht müssen jedoch Behinderte beispielsweise auf jeden Fall anders behandelt und ihre Diskriminierung unterbunden werden. Um ihre Interessen aber in gleicher Weise zu berücksichtigen wie die anderer Menschen, muss zuallererst eine Chancengleichheit geschaffen werden, die etwa durch „affirmatives Handeln“[37] unterstützt werden kann. Das würde bedeuten, dass bei der Bewerbung für einen bestimmten Arbeitsplatz Behinderte bevorzugt werden, sofern ihre Behinderung die Arbeit nicht einschränken würde. Wir versuchen also, alle Menschen und nur diese in ihren Interessen gleich zu berücksichtigen, sind in unserem Speziesismus jedoch nicht wirklich konsequent, da wir dennoch Ausnahmen machen. Denn bei schwerst geistig Behinderten, Komapatienten und Föten verhält es sich anders. Diese werden von dem Recht auf Leben zum Teil ausgenommen. Man begründet dies mit dem Fehlen von Bewusstsein, Autonomie und Zukunftsvorstellung. Doch gibt es viele Tiere, die genau diese Eigenschaften besitzen.

In vielerlei Hinsicht sind Tiere dem Menschen gleich. Der allgemeine Sprachgebrauch belegt dies. Wir weisen Tieren dieselben Attribute zu Menschen, wenn sie ein ähnliches Verhalten an den Tag legen. Hunde zum Beispiel können ängstlich wirken, Pferde werden als intelligent bezeichnet. Hingegen würden wir Schnecken nicht als zornig bezeichnen oder denken, dass sie Schmerz fühlen. Vielleicht lässt also auch bereits der menschliche Sprachgebrauch Schlüsse darauf zu, welche Tiere uns ähnlich genug sind, um ihre grundlegendsten Interessen zu berücksichtigen. Da es also bereits innerhalb der Spezies Mensch große Ungleichheit gibt, ihre Interessen aber dennoch annähernd gleich berücksichtigt werden, und es abgesehen von der Speziesgrenze viele Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier gibt, stellt sich die Frage, ob die bloße Spezieszugehörigkeit eine adäquate moralische, wenn auch scharfe, Trennlinie darstellt. Selbst in der Gefahr, über eine Trennung aufgrund von Selbstbewusstsein, Autonomie oder Empfindungsvermögen auf die schiefe Ebene zu kommen, wäre es besser, eine moralische Grenzlinie zu finden, die sich offen und aufrichtig verteidigen lässt.

3.3 Unterscheidungskriterien

Lange Zeit lief die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier über das Vorhandensein besonderer Fähigkeiten wie Werkzeuggebrauch, Werkzeugherstellung oder der Fähigkeit zu abstraktem Denken. Beispielsweise glauben wir fest daran, dass unsere Sprache extrem hoch entwickelt ist, bzw. wir die einzige Spezies mit abstrakter Sprachfähigkeit sind. Der Abschnitt über Sprache wird jedoch zeigen, dass auch andere Arten hoch entwickelte Sprachen besitzen können. Inwieweit diese abstraktionsfähig sind kann jedoch bislang nicht hinreichend geklärt werden.

Eigentlich besitzt jede Spezies bestimmte besondere Fähigkeiten. Jede einzelne hat sich durch die Entwicklung und Ausprägung bestimmter Merkmale und Fähigkeiten im Laufe der Evolution an eine spezielle ökologische Nische angepasst, um zu überleben. Daher ist der Begriff „höher entwickelt“ eigentlich falsch, denn er suggeriert eine Höherstellung bestimmter Arten über andere, was eine höhere Wertung des Lebens einzelner Spezies beinhaltet. Bestimmte Arten haben dann ein höherwertiges Leben, also mehr Recht auf Leben als andere. Doch eigentlich kann man besondere Fähigkeiten einer Art nicht höher bewerten als die einer anderen, denn dies ist eine rein anthropozentrische Ansicht und steht mit der Evolution absolut nicht in Einklang. Nach allgemeiner (menschlicher) Auffassung ist der Mensch das am höchsten entwickelte Lebewesen auf diesem Planeten. Hunde zum Beispiel aber können um ein Vielfaches besser riechen, Katzen viel besser hören als der Mensch. Fledermäuse orientieren sich mittels Ultraschall, Schlangen sehen Wärme und Vögel können fliegen. Gut, man könnte sagen, der Mensch hat sich für alle diese Fähigkeiten Gerätschaften entworfen, um sie nachzuahmen, doch das ist nicht ganz dasselbe. Die meisten dieser Fähigkeiten brauchen wir schließlich nicht um zu überleben. Durch die Fähigkeit aber, Dinge herzustellen und andere Fähigkeiten zu simulieren, können wir fast überall leben. Jedoch benutzen wir unsere Fähigkeiten nicht immer in positiver Hinsicht geschweige denn Absicht. Keine andere Spezies ist so zerstörerisch wie der Mensch. Keine andere Spezies richtet so viel Schaden an, der auch die eigene Überlebensfähigkeit in extremem Ausmaß gefährdet, wie wir es tun. So anpassungsfähig wir auch sind, wir verändern unsere Umwelt zu schnell um auf Dauer mithalten zu können. Und so wie es aussieht würden Insekten und Ratten den Menschen wohl überleben, weil sie anpassungsfähiger sind. Betrachtet man den Erfolg einer Spezies von dem Gesichtspunkt aus, wie lange sie sich halten konnte, dann sind die besten Beispiele für Erfolgsmodelle die Qualle oder der Pfeilschwanzkrebs, der seit 500 Millionen Jahren unverändert in den Schelfmeeren lebt.

In welcher Hinsicht sind Mensch und Tier nun also gleich, und an welcher Stelle könnte man Unterscheidungskriterien finden, welche die Menschheit dazu legitimieren, andere Spezies zu instrumentalisieren und auszubeuten?

3.3.1. Schmerzempfindung

Wir fühlen Schmerz, soviel ist sicher. Wenn wir uns beispielsweise irgendwo stoßen oder mit einem Messer schneiden, so tut dies weh. Und weil wir selbst Schmerz empfinden und unsere menschlichen Freunde Lebewesen sind wie wir, schließen wir daraus, dass auch sie Schmerz empfinden müssen, wenn ihnen Ähnliches widerfährt. Doch fühlen können wir den Schmerz eines anderen nicht. Wie also können wir wissen, dass ein anderer Mensch oder überhaupt ein anderes Lebewesen Schmerz empfindet? Wir können lediglich dessen äußere Anzeichen als Reaktion auf Schmerz beobachten, zum Beispiel sich krümmen, das Gesicht verzerren, klagen, schreien, Versuche sich der Schmerzquelle zu entziehen, Anzeichen von Angst und Ähnliches. Wir folgern daraus, dass er Schmerz empfindet, da es die einfachste Erklärung ist. Da das Nervensystem vieler Spezies dem unseren sehr ähnlich ist, sind auch deren äußere Anzeichen auf Schmerzeinwirkung nahezu die gleichen. Ebenso ist die physiologische Reaktion auf Schmerz der unseren überaus ähnlich, wie zum Beispiel steigender Blutdruck, erweiterte Pupillen und beschleunigter Puls. Die Verarbeitung von Reizen, Emotionen und Gefühlen erfolgt im Zwischenhirn, welches bei vielen anderen Spezies ebenfalls gut entwickelt ist, insbesondere bei allen Säugetieren und bei Vögeln. Die Fähigkeit Schmerz zu empfinden, vergrößert die Aussicht einer Spezies auf Überleben, da sie so Situationen vermeidet, die zu Verletzungen führen könnten. Schmerz ist eindeutig biologisch nützlich. Das Nervensystem einer Vielzahl von anderen Spezies ist mit dem unseren nahezu identisch und die evolutionären Parallelen sind nicht glaubhaft zu leugnen. Warum sollte man also annehmen, dass es gerade auf der Ebene des subjektiven Empfindens völlig unterschiedlich arbeiten sollte? Dies wäre höchst unvernünftig. Waren für Descartes Tiere noch Automaten, ohne Bewusstsein und ohne Schmerzempfindung, so ist es mittlerweile eine (wissenschaftlich begründete) Tatsache, dass höhere Säugetiere Schmerzempfindungen genauso intensiv erleben wie wir, wenn nicht sogar noch stärker aufgrund ihrer zum Teil viel empfindlicheren Sinnesorgane. Auch die Reaktionen und Emotionen auf Schmerz wie Wut und Angst sind dieselben. Tiere leiden demnach wie wir unter direkten physischen Verletzungen, aber auch unter Angst, Stress, etc. Das Maß an Schmerz ist jedoch unterschiedlich hoch. Ein Kleinkind verträgt beispielsweise weniger als ein Pferd. Man weiß mittlerweile, dass auch Fische und Krustentiere wie Hummer und Languste höchst empfindsame Wesen sind und ein Hummer somit sehr darunter leidet, wenn er lebendig in kochendes Wasser geworfen wird und minutenlang um sein Leben kämpft, indem er versucht dem Kochtopf zu entfliehen.

Für den Utilitaristen, dessen höchstes und alleiniges Gut das Glück ist, ist die Grundlage die Empfindungsfähigkeit. Glück bedeutet dabei in erster Linie, Schmerzen zu minimieren und Lust zu maximieren. Wenn also der Nutzen das Glück ist und eine Nutzenmaximierung angestrebt wird, so müssen jedenfalls aus utilitaristischer Sichtweise im Umgang mit nichtmenschlichen Individuen Schmerzen so gut wie möglich vermieden werden. Und schon die Tatsache, Mitleid mit anderen Lebewesen haben zu können ist hierfür ein hinreichender Grund, da wir von Natur aus dazu in der Lage sind, uns Spezies übergreifend einzufühlen und das auch (oft genug) tun, sofern wir es nicht verlernt haben. Wir erkennen Schmerz bei anderen Lebewesen also aufgrund deren analogem Verhalten bei (speziesabhängig mehr oder weniger) analogem Nervensystem. Sprache und Bewusstsein spielen dabei keine Rolle, schließlich verstehen wir Kleinkinder auch ohne Worte und würden nie bestreiten, dass sie Schmerzen fühlen können.

3.3.2. Seele

Der Begriff der Seele hat zum einen die Bedeutung einer von Gott gegebenen und nach dem Tod weiter lebenden Seele, wird aber zum anderen oft auch durch den Begriff Psyche oder Geist ersetzt. Mit der religiösen Auffassung einer immateriellen Seele sind die persönlichen Charaktermerkmale eines Menschen verbunden, wie Geist und Gedächtnis an gute und böse Taten, um im Jenseits bestraft werden zu können. Die meisten Religionen glauben an die Unsterblichkeit der Seele oder sogar Seelenwanderung durch Wiedergeburt, wie zum Beispiel im Hinduismus und Buddhismus. Die einzelnen Religionen interpretieren den Begriff der Seele auf vielfältige Weise, die einzelnen Ansichten sind im Detail für eine ethische Erörterung jedoch unerheblich. In der naturwissenschaftlichen Auffassung werden angeborene Bedürfnisse, Bewusstsein und Prägungen in der Seele theoretisch verankert, oder auch Krankheitszustände erörtert für die anscheinend keine körperlichen Ursachen vorliegen. Die so genannte Psychosomatik trennt aber wiederum den Geist bzw. die Seele vom Körper, wohingegen die modernen Auffassungen in Psychologie und Philosophie eine Einheit von Leib und Seele vertreten. Die im Wissenschaftsbetrieb für Seele synonym verwendete Psyche stirbt zusammen mit – oder beim Hirntod auch schon vor – dem Körper, da sie an ein funktionierendes Nervensystem gebunden ist. Bereits Paracelsus (1494 – 1541), ein deutscher Arzt, Naturforscher und Philosoph war von dieser Einheit überzeugt: „Allem Physischen entspricht ein Seelisches und ein Geistiges, die nicht getrennt voneinander existieren, sondern mit dem Körperlichen in unentwegter Wechselwirkung stehen.“[38]

Eine Unsterblichkeit der Seele, ihre Existenz vorausgesetzt, ist jedoch nach wie vor Glaubens-sache, denn beweisen lässt sie sich nicht, jedoch auch nicht das Gegenteil. Im Vorhandensein einer Seele, ob nun unsterblich oder nicht, sehen viele (Religionen) einen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Demnach sind zwar Menschen im Besitz einer Seele, Tiere aber nicht. Die Seele fungiert nach wie vor als ein wichtiges Argument für die höheren Rechte des Menschen. Der religiöse Glaube, welcher Tieren eine Seele abspricht, ist aber ebenfalls als speziesistisch zu bewerten, wie auch Sigmund Freud bemerkte: „Der Priester wird die Wesensgleichheit von Mensch und Tier nie zugeben, da er auf die unsterbliche Seele nicht verzichten kann, die er braucht, um die Moralforderung zu begründen.“[39] Die Berufung auf Gott kann nur für diejenigen gelten, die auch an Gott glauben. Die cartesianische Tierautomatentheorie setzte auf dem christlichen Denken auf, das die Vorstellung von der Einzigartigkeit der menschlichen Spezies verbreitete und die „Heiligkeit allen menschlichen Lebens“ auf der unsterblichen Seele der Menschen begründete. Im Christentum ist daher auch bereits das Leben eines Fötus als heilig anzusehen, Tiere blieben jedoch außen vor. Für viele östliche Religionen wie Hinduismus, Buddhismus und Dschanismus war hingegen alles Leben heilig und sie verboten daher das Essen von Tieren.

Die Frage ob Tiere in den Himmel kommen, lässt sich nur schlüssig beantworten, wenn wir die Frage nach Gott klären. Denn damit hängt zusammen, wie wir den Begriff Seele verwenden. Da dies eher ein theologisches Problem ist, möchte ich eine mögliche Lösung den Theologen überlassen und hier nicht weiter darauf eingehen. Allerdings bin ich der Meinung, dass nicht Gott uns als Ebenbild geschaffen hat. Es verhält sich wohl eher umgekehrt.

Wir alle glauben an irgendetwas, mag der Glaube nun religiösen Ursprungs sein oder nicht. Denn auch Atheisten glauben – nämlich daran, dass kein Gott existiert. Und unabhängig davon, ob wir nun im Besitz einer immateriellen Seele sind oder nicht, der Glaube bleibt – jedenfalls dort, wo wir nicht wissen können. Und was wir ebenfalls nicht wissen können, ist, ob nicht auch Tiere eine Art Religion bzw. einen Glauben haben. Was wir allerdings wissen, ist, dass Tiere leiden können, und das ist ein hinreichendes Kriterium, um ihnen einen moralisch relevanten Wert zuzuweisen.

3.3.3. Bewusstsein, Intelligenz und Kultur

Marian Stamp Dawkins schildert in ihrem Buch „Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins“ eindrucksvoll anhand von einigen Beispielen, dass die meisten der höher entwickelten Spezies nicht nur über ein voll entwickeltes Nervensystem verfügen, sondern zudem auch im Besitz eines Bewusstseins sind, das mit dem des Menschen durchaus vergleichbar ist. Sie geht dabei sehr vorsichtig und präzise vor, um der Gefahr vorzubeugen, dass wir Tiere anthropomorphi-sieren, indem wir menschliche Verhaltensweisen auf sie projizieren. Dabei stellt sich der Nachweis von Bewusstsein als äußerst diffizil dar, da man schließlich nur zu den eigenen persönlichen Erlebnissen Zugang hat. Keiner kann in unser „Ich“ schlüpfen. Keiner versteht das Bewusstsein in vollem Umfang, weder unser eigenes, geschweige denn das von anderen. Aber, so ist sich Dawkins sicher, wir machen Fortschritte. Wir wissen mittlerweile zwar einiges über die Erlebnisse anderer Arten, aber längst nicht alles. Wenn ein anderer Mensch versteht, was wir fühlen, wenn wir unsere Gefühle mit ihm teilen können, dann kann die Isolation von anderen Menschen aufgehoben werden. Die Sympathie, wörtlich „mit anderen zu fühlen“, und, wie ich bereits sagte, die Empathie, sind die grundlegenden Voraussetzungen hierfür. So leicht es uns fällt, anderen Menschen die gleichen bewussten Erlebnisse zuzuschreiben, so schwierig ist es, die Existenz bewusster Erlebnisse bei anderen Spezies aufzuzeigen. Der Versuch, Bewusstsein bei irgendeinem Lebewesen nachzuweisen, ist eine komplexe Aufgabe, da wir nicht einmal Beweise für Bewusstsein bei anderen Menschen liefern können. Umso weniger gibt es Beweise für Bewusstsein bei anderen Arten. Aber es gibt nicht zu ignorierende Hinweise darauf. So lassen sich Verhaltensstudien unter der Annahme von Bewusstsein leichter verstehen.

Allein der Begriff „Bewusstsein“ ist schwer zu fassen. Er ist aber nicht gleichzusetzen mit Selbst-bewusstsein, da dies Reflexion voraussetzt. Um nun die Frage klären zu können, ob auch Tiere Bewusstsein haben, wird der Begriff einfach mit dem, was wir unter „bewusst erleben“ verstehen, gedeutet. Auch Dawkins ist der Meinung, dass Moral sich aus dem Glauben an das Bewusstsein anderer Menschen entwickelt, und diese infolgedessen fähig sind zu Schmerz, Glück, Trauer und ähnlichem. Ein intelligenteres Wesen besitzt dabei nicht notwendigerweise eine größere Glücksfähigkeit. Das Gefühl, Falsches zu tun, ist ungleich stärker, wenn es sich auf einen Körper bezieht, der Schmerzen und Leid empfindet. Wenn also nachgewiesen werden kann, dass andere Spezies bewusste Empfindungen wie Leid und Schmerz haben, was für viele als Kriterium ausreicht, dann müssen wir sie in unseren Kreis der moralischen Berücksichtigung aufnehmen. Wenn Tiere Bewusstsein haben, dann könnte das unsere Ansicht ändern, wie wir sie behandeln sollten.

Für den Ethologen Konrad Lorenz, die Philosophen David Hume und Robert Spaemann, den Naturforscher Charles Darwin und viele weiteren ist das Vorhandensein eines tierlichen Bewusstseins evident. Nach Darwins Theorie der natürlichen Auslese ist Bewusstsein für Tiere wichtig. Es zu erforschen ist aber nahezu unmöglich. Beispielsweise lassen sich Kopfschmerzen nicht messen, trotzdem sie bewusst erlebt werden (sofern alle anderen Menschen nicht nur gute Schauspieler sind). Doch im täglichen Leben handeln wir so, als wüssten wir, was andere empfinden. Dass unsere Überzeugung, wir hätten Zugang zu der persönlichen Welt anderer, durchaus begründet ist, zeigt sich zum Beispiel darin, dass ein Baby zu schreien aufhört, wenn man es tröstet. Das bedeutet, wir liegen mit unserer Einschätzung richtig, wenn wir unsere eigenen Empfindungen zugrunde legen und annehmen, andere seien uns ähnlich. So können wir Menschen „verstehen“, die völlig anders leben und anders sind als wir, wenn wir die Umstände kennen und die Unterschiede berücksichtigen. Ein „Analogieschluss“ auf andere Arten scheint darin begründet, dass sie uns in Eigenschaften und Reaktionen, die beobachtbar sind (wie zum Beispiel Reaktion auf Schmerzen), überaus ähnlich sind. Auch in ihren sozialen Interaktionen über Lautsysteme lassen sich Analogien finden. Und selbst im Lernverhalten und im Verständnis seiner Umwelt ist das Tier dem Menschen ähnlich. Doch um eine Artgrenze überschreiten zu können, müssen wir Unterschiede in der Lebensart und den äußeren Umständen berück-sichtigen. Diese variieren von Art zu Art erheblich und machen es nicht gerade leichter. Wir können andere Menschen nur verstehen, wenn wir versuchen, die Welt aus ihrem „Blickwinkel“ zu betrachten. Dasselbe gilt für Tiere. Doch muss man sich vor Anthropomorphismen hüten, indem man versucht, Tiere wie Menschen zu betrachten. Die menschliche Sicht der Welt ist nämlich nicht die einzige. Dass Tiere sich uns nicht mitteilen können, ist freilich ein bedeutendes Hindernis. Aber auch wenn Worte nützlich sind, so sind sie nicht entscheidend. Schließlich verstehen wir Babys ja auch – nicht zuletzt aufgrund der Mimik. Und oftmals sind Taten sehr viel aussagekräftiger als bloße Worte.

Das erste Kriterium für Bewusstsein ist laut Dawkins die Komplexität des Verhaltens und die Fähigkeit sich an veränderte Bedingungen anzupassen, da dies infolge der Kontinuität in der Evolution auf bewusstes Denken schließen lässt. Auch wenn manches im Verhalten von Tieren rein instinktiv oder „angeboren“ ist, so ist das noch kein Beweis, dass sie nicht intelligent sind. Vergleichsweise reagieren Männer auf das Bild einer Frau ebenso wie auf eine reale, was man ebenfalls als „primitives“ Verhalten bezeichnen kann. Als Beispiel für verblüffend komplexes Verhalten führt Dawkins das Verhalten von Straußenpaaren an, welche gewaltsam die Jungen anderer Strauße adoptieren, um ihre eigenen Nachkommen durch die große Schar zu schützen. Zudem erkennen sie die selbst gelegten Eier in einer Mulde mit den Eiern aller Hennen (bis zu 40 Eier), welche von einer Haupthenne bebrütet werden, wieder. Da die Haupthenne unmöglich alle Eier bebrüten kann, sondern nur etwa 20, behandelt sie ihre eigenen Eier vorrangig und schiebt immer nur die Eier der anderen Hennen an den Rand des Geleges. Den Forschern war es unmöglich, die einzelnen Eier zu unterscheiden und sie konnten nicht feststellen, wie die Straußenhennen dies bewerkstelligen. Ein weiteres Beispiel ist die komplizierte Entscheidungs-findung der Rothirsche auf der Insel Rhum vor der Westküste Schottlands, ob sie einen Kampf um Ressourcen eingehen sollten. Diese Hirsche kämpfen immer nur gegen solche, die einigermaßen gleich stark sind. Um das herauszufinden, brüllen sie erst um die Wette, um die Stärke des anderen zu testen. Die Hirsche verwenden sehr viel Zeit darauf, ihre Gegner einzuschätzen. Die Lautgefechte in Form von Röhren werden so lange vollzogen, bis beide erschöpft sind, dann erfolgt eine Begutachtung der Muskulatur. Nur wenn beide Hirsche bis hierhin durchgehalten haben, kommt es zum tatsächlichen Kampf. Die Tiere, und nicht nur diese Hirsche, können somit abschätzen, ob ein Kampf, welcher Risiken birgt aber auch Vorteile bringen kann, sinnvoll ist oder ob sie verletzt werden könnten. Ist der Ausgang von vornherein klar, so ist ein Kampf uninteressant. Diese Abschätzung der Risiken könnte möglicherweise eine bewusste Entscheidung sein und Anzeichen von Vernunft in Form einer rationalen Entscheidung sind somit annehmbar. Die Wetten von Menschen bei Boxkämpfen, Pferderennen und Wahlen treffen nur selten bessere Voraussagen, sofern die Wettkampfteilnehmer annähernd gleich stark sind. Die Auswahl der Weibchen von Geschlechtspartnern erfolgt ähnlich subtil, wie eine Studie von Jacob Högland und Rauno Atalano über Birkhahn-Weibchen ergab. Diese suchten sich immer diejenigen Männchen, die ein halbes Jahr später noch am Leben waren. Den Forschern war es unmöglich herauszufinden, wie die Weibchen das wissen konnten bzw. nach welchen Kriterien sie ihre Männchen wählten. Denn dies war weder aufgrund deren Erscheinung zu beurteilen noch stimmten andere Kriterien, um die richtigen Voraussagen treffen zu können. Diese Beispiele belegen eindeutig, dass der Großteil des Verhaltens von Tieren alles andere als primitiv ist, sondern vielmehr auf sehr komplexen (um nicht zu sagen cleveren) Entscheidungen beruht. Doch es wäre denkbar, dass diese Verhaltensweisen dennoch allesamt angeboren und somit kein Hinweis auf Intelligenz sind, und wir könnten einfach nicht in der Lage sein, das zu beurteilen. Darum müssen wir das Kriterium für Intelligenz (bzw. für das, was wir Menschen unter intelligentem Verhalten verstehen) dahingehend ändern, dass ein Tier nur dann als intelligent gelten kann, wenn es sein Verhalten entsprechend der Situation ändern und sich an neue Umstände anpassen kann.

Die Hackordnung der Hühner stellt laut Dawkins einen unanfechtbaren Beweis für eine solche Lernfähigkeit dar, denn die Hühner lernen durch schmerzliche Erfahrungen, wo ihr sozialer Rang in der Gruppe ist. Sie prägen sich anhand charakteristischer Merkmale des Erscheinungsbildes ein, welchen Artgenossen sie den Vortritt lassen müssen und welchen gegenüber sie Vortritt haben[40]. Lernen ist hier ein integraler Bestandteil des alltäglichen Lebens, der es den Hennen ermöglicht, ihre Position in der Hierarchie zu akzeptieren. Auch der Besitz von Dingen ist für manche Tiere wichtig, wobei es sich vorwiegend um Futterplätze, Nistplätze und Geschlechts-partner handelt. Dieses Verhalten ist als „Revierverhalten“ bekannt, bei dem die Tiere auf ihr Eigentumsrecht pochen und ihren Besitz gegen Feinde verteidigen. Sehr beeindruckend ist die Fähigkeit von Meisen, sich an hunderte von Futterverstecken zu erinnern. Sie können sich dabei alle Futterlöcher merken, in denen sie zuvor etwas versteckt haben und von denjenigen unterscheiden, die sie bereits wieder geleert haben. Geleerte Futterlöcher wurden nicht mehr angeflogen.

Als wichtiges, wenn nicht wichtigstes Kriterium zur Trennung von Mensch und Tier galt bis vor kurzem die kulturelle Entwicklung bzw. das Tradieren von Erfahrungswerten mittels Kultur. Doch lässt sich beispielsweise nachweisen, dass auch Ratten von den Fehlern ihrer Artgenossen lernen und ihr Wissen von Generation zu Generation weiter geben. Sie sind bei der Nahrungs-aufnahme besonders vorsichtig und beobachten die anderen Ratten in ihrer Umgebung. Wird eine Ratte nach der Futteraufnahme krank, so meiden auch die anderen Ratten das Futter, das diese gefressen hat. Das gerinnungshemmende Mittel Warfarin, welches zur Vernichtung von Ratten eingesetzt wird, tötet immer nur einige wenige und nicht die ganze Kolonie. Das liegt darin begründet, dass die Ratten einen ihrer Artgenossen als Tester vorschicken. Stirbt diese Ratte, fressen die anderen nicht mehr, wonach sie gerochen hat. Ratten sind ausgesprochen soziale Tiere und putzen sich gegenseitig, wobei sie riechen können, was von der anderen Ratte zuvor gefressen wurde. Dieses „Nachahmen auf Distanz“ ist ein gutes Beispiel für soziales Lernen, aber inwiefern kann dabei von Kultur gesprochen werden? Dazu muss Wissen durch Beobachtung und nicht durch Vererbung über Generationen weitergegeben werden. Aber auch das tun Ratten. Junge Ratten sind gezwungen, auch von anderen, neuen Futterquellen zu fressen, um nicht zu verhungern. Sie richten sich dabei nach dem Kot und Urin anderer fremder Ratten. Finden sich an der neuen Futterquelle zahlreiche Spuren fremder Ratten, kann das Futter nicht schlecht sein. Die Jungen ahmen die Gewohnheiten ihrer Eltern nach, über Generationen hinweg, was bei Menschen als „kulturelle Überlieferung“ bezeichnet wird. Ratten besitzen demnach, ebenso wie Menschen, Kultur und haben ihre kulturellen Tabus. Dies ermöglicht ihnen, allen Ausrottungsversuchen zu trotzen und erfolgreich in nächster Nähe zum Menschen zu überleben.

Damit wäre klar, dass Tiere nicht nur ein primitives Bild von ihrer Umwelt haben, sondern ein durchaus komplexes. Sie folgen nicht „blindlings“ irgendwelchen Instinkten, sondern lernen und passen sich an bestimmte Umstände an, was verdeutlicht, wie „ähnlich“ sie uns sind. Ein weiteres ähnlich komplexes Verhalten lässt sich antreffen, wenn Tiere Entscheidungen treffen müssen ob sie ihr Futter teilen oder herausfinden wollen ob die Artgenossen Betrüger sind oder verlässliche bzw. kooperative Partner. Ein Haussperling beispielsweise holt andere Sperlinge zu Hilfe, wenn er Futter in einem Garten findet in dem sich eine Katze aufhält, sofern die Futtermenge groß genug ist. Ist die Gefahr zu groß, ruft er solange Artgenossen herbei, bis sich genug eingefunden haben, das Risiko zu schmälern aber immer noch ausreichend Futter für alle vorhanden ist. Erst dann fliegen sie geschlossen zur Futterstelle. Die Gruppe schützt, aber die anderen fressen was weg. Ist nicht genug da um zu teilen, geht der Sperling unter Umständen das Risiko alleine ein. Er schätzt also nicht nur die Gefahr ein, sondern auch die Futtermenge um zu entscheiden, was er macht[41]. Vampirfledermäuse sind sehr soziale Tiere, die sich gegenseitig füttern wenn Nahrungsmangel besteht. Hat eine Fledermaus einmal nichts abbekommen, so wird sie von einem Artgenossen gefüttert. Die Tiere erinnern sich, von wem sie auch schon einmal gefüttert wurden und revanchieren sich, es entstehen regelrechte „Freundschaften“. Neidern, die ihnen im Bedarfsfall eine Nahrungsteilung verweigert haben, geben sie ebenfalls nichts ab. Kooperation wird also belohnt und indem sie teilen, können sie dem Hungertod entgehen.

Unser Wissen über das Verhalten von Tieren ist in den letzten 30 Jahren immens gewachsen. Aus Bewusstsein lässt sich komplexes Verhalten folgern, aber gilt das auch umgekehrt? Liegt komplexes Verhalten bei einer Spezies vor, dann ist es laut Dawkins zumindest möglich, dass diese Bewusstsein hat, nicht mehr, nicht weniger. Komplexes Verhalten kann irrtümlich Intelligenz vermuten lassen (ganz ähnlich wie Zaubertricks einen in die Irre führen), man muss daher Argumente ausschließen, die auf nicht stand haltenden Beweisen beruhen. Dazu dient Ockhams[42] Messer: „Entities should not be multiplied without necessity“, welches besagt, es sollte immer mit der einfachsten möglichen Erklärung begonnen werden, bevor man kompliziertere in Erwägung zieht. Auch muss man Fälle wie die des „Klugen Hans“ ausschließen. Das sind Tiere, meist Pferde oder Hunde, die allem Anschein nach zählen können. Doch nehmen sie nicht sichtbare oder auch unbewusste Hinweise von ihren Menschen (Besitzern) auf und konnten daher die richtige Antwort geben. War der Besitzer außer Sichtweite oder wusste auch er die richtige Antwort nicht, so lagen auch die Tiere daneben.

Werkzeuggebrauch ist ein eindeutiger Hinweis auf Intelligenz und lange Zeit waren die Menschen überzeugt, sie seien die einzigen, die Werkzeuge benutzen. Aber schon Vögel sind fähig zu Werkzeuggebrauch. Galapagosfinken stochern mit kleinen Ästen nach Insekten, und Laubenpieper malen mit Rindenpinsel und Beerenfarbe ihre Laube aus. Die neue Trennlinie hieß deshalb nicht mehr nur Werkzeuggebrauch, sondern Werkzeugherstellung. Jane Goodall jedoch konnte zeigen, dass Schimpansen in freier Wildbahn Werkzeuge nicht nur benutzen sondern auch selbst herstellen. Beispielsweise streifen sie die Blätter von einem Zweig, um mit der Rute Termiten zu angeln. Und so wurde die Trennlinie wieder geändert, in Werkzeug-gebrauch zu Werkzeugherstellung, wozu nur der Mensch fähig sein soll. Diesmal machte der Zwergschimpanse Kanzi einen Strich durch die Rechnung und erbrachte den Gegenbeweis. Er schaffte es, sich ein Messer aus Flintsteinen zu basteln, mit dem er die Verschnürung einer Schlüsselbox öffnen konnte, in welcher sich der Schlüssel zu einer Leckerbox befand. Er hatte zuvor beobachtet, wie die Leckerbox abgesperrt und der Schlüssel in der Box verschnürt worden war. Die neue Trennlinie war also ebenso untauglich wie die alten.

3.3.4. Sprache und Zählen

Der Großteil der Verständigung unter Tieren erfolgt auf Wahrnehmungsebenen, die dem Menschen von Natur aus unzugänglich sind, wie zum Beispiel der Infraschallbereich. Aber selbst wenn wir Laute hören, können diese sehr viel differenzierter sein als das menschliche Gehör wahrnehmen kann, wie zum Beispiel eine Studie über die Grunzlaute Grüner Meerkatzen herausfand. Sie verfügen über ein Vokabular, das vor Feinden warnt und dabei zwischen einigen Spezies unterscheidet, wie Schlange, Adler oder Leopard. Erst ein Klangspektrograph konnte die Unterschiede gleich lautender Vokabel ersichtlich machen, die sich für die Forscher Cheney und Seyfarth nicht unterscheiden ließen[43]. Selbst beim Abspielen von einem Tonbandgerät konnten die Affen die Feinheiten der Grunzlaute unterscheiden und schauten immer sofort in die Richtung, die der Laut andeutete.

Sprache ist aber oft sogar hinderlich, da wir denselben Begriffen immer eine eigene, subjektive, Interpretation und Auffassung zugrunde legen. Zumindest kommt es durch die Begriffsbildung sehr leicht zu Missverständnissen, auch trotz gleicher Sprachzugehörigkeit. Außerdem ist vieles mittels Sprache ohnehin nicht ausdrückbar oder beschreibbar. Eine etwas unklare Linie philosophischen Denkens, die sich möglicherweise auf Lehren des Ludwig Wittgenstein zurückführen lässt, behauptet, dass man einem Wesen ohne Sprache nicht sinnvoll Bewusstseinszustände zusprechen kann[44]. Doch haben Schmerzen nichts mit Sprache zu tun. Denn sie werden unabhängig davon bewusst erlebt. Wie bereits erwähnt, würden wir nie bestreiten, dass auch Kleinkinder Schmerzen empfinden, obwohl sie nicht sprechen können. Zudem ist die nonverbale Sprache für den Ausdruck von Emotionen und Gefühlen ohnehin weitaus relevanter. Die menschliche Mimik verrät vieles über die aktuellen Gefühlszustände, wenn auch in verschiedenen Gesellschaften mit unterschiedlicher Bedeutung versehen. Ebenso verraten die Mimik (sofern anatomisch möglich) und die Körpersprache anderer Tiere etwas über deren Seelenleben, die von Artgenossen unmissverständlich gedeutet werden können. Und das Verhalten ist letztendlich immer aussagekräftiger als irgendwelche Worthülsen, denn ein Junge, der jeden Tag drei Stunden am Klavier verbringt, um zu üben, zeigt viel deutlicher, dass er wirklich zu spielen lernen will als einer, der nur ständig davon redet. Taten sagen insofern zumeist mehr als Worte.

Der direkte Zugang zum Gefühlsleben anderer Lebewesen bleibt uns nichtsdestotrotz durch eine gemeinsame sprachliche Barriere verwehrt, die einigeaaa Forscher versuchten zu durchbrechen, indem sie einigen unserer nächsten Verwandten, meistens handelt es sich dabei um Schimpansen, menschliche Zeichensprachen beibrachten. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist die Schimpansin Washoe[45] (sie ist heute etwa 40 Jahre alt). Sie war das erste nichtmenschliche Lebewesen, welchem von den beiden Psychologen Allen und Beatrice Gardner an der Universität von Nevada eine menschliche Sprache, die Taubstummensprache Ameslan (American Sign Language) beigebracht worden war, um die sprachlichen Fähigkeiten bei Schimpansen zu testen. Washoe beherrschte zum Zeitpunkt der hier zitierten Testreihe mehr als 132 Zeichen und war sogar fähig, die gelernten Zeichen zu neuen Wortkombinationen zusammenzufügen. So bildete sie zum Beispiel das Wort „Wasser-Vogel“, als sie das erste Mal eine Ente auf einem See schwimmen sah. Mit ihren Fähigkeiten erschütterte sie die grundlegenden Vorstellungen vieler darüber, was einen Menschen ausmacht. Sie konnte bestimmte Zeichen in vielen unterschiedlichen Situationen korrekt anwenden, wie zum Beispiel das Wort „Öffnen“ für Tür, Kiste und Wasserhahn, oder „Hund“ für alle Hunde unabhängig von der äußeren Erscheinung. Das heißt, sie verstand die Bedeutung der Wörter. Wie die Gardners herausfanden, waren Washoes sprachliche Fähigkeiten in etwa auf dem Stand eines menschlichen Kindes von neun Monaten bis zwei Jahren. Ein zweites Beispiel ist Sarah, ebenfalls eine Schimpansin. David Premack brachte ihr an der Universität von Pennsylvania bei, anstelle von Gebärden Plastiksymbole zu verwenden, welche auf eine Magnettafel gehaftet werden konnten. Die verwendeten Symbole hatten dabei keinerlei Ähnlichkeit mit den dargestellten Dingen und es gab auch bestimmte Symbole für Handlungen, um Sätze bilden zu können. Sarah konnte komplexe Sätze befolgen (zum Beispiel „Hineintun Apfel Eimer Banane Schachtel“), was bedeutet, sie muss eine grundlegende Kenntnis von hierarchischen Strukturen bis hin zu Verständnis von Grammatik und Syntax gehabt haben[46].

Diese Erkenntnisse belegen, dass Affen abstrahieren, Verben verwenden und neue Kombinationen hervorbringen können. Sie erfüllen damit die Kriterien der „Unbegrenztheit“ und besitzen Kreativität. Die Barriere zwischen ihnen und uns ist somit zerbrochen. Doch kann der Effekt des „Klugen Hans“ auftreten, denn da die Schimpansen von den jeweiligen Forschern wie ein menschliches Kind ohne Sprache aufgezogen worden waren, entstand eine enge Bindung und die Schimpansen reagierten auf – wenn auch unbewusste – menschliche Zeichen. Zudem besteht die Gefahr, dass die besagten Forscher einem Aberglauben erliegen, indem sie Zusammenhänge sehen wollen, wo jedoch keine bestehen. Wir erkennen oftmals Muster, wo keine sind. Statistiken helfen diese Fälle zu unterscheiden.

Tiere handeln oft nach gewissen „Faustregeln“, wo wir komplexes Verhalten unterstellen. So könnte man beispielsweise sagen, ein Heizungsthermostat „weiß“, wann es warm genug ist. Methaphern können dann leicht zu Hypothesen werden und diese Fälle müssen von den Fällen mit wirklich komplexem Verhalten unterschieden werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Honigbiene. Sie verfügt gewissermaßen über die Anfänge einer „Sprache“, „beurteilt“ ihre Umwelt und „trifft Entscheidungen“, indem sie einfache Faustregeln befolgt, hat aber dennoch kein Bewusstsein[47]. Die Spurbienen in einem Bienenstock teilen den anderen mit, wo Nahrung zu finden ist, indem sie bei ihrer Rückkehr einen „Tanz“ aufführen. In Abhängigkeit von Entfernung, Richtung und Futtermenge ist der Schwänzeltanz mehr oder weniger intensiv. Die anderen Bienen entscheiden schließlich, welcher Tanz die lohnendste Futterquelle verspricht und können diese aufgrund der Richtungs- und Entfernungsangaben leicht finden. Bienenvölker vermehren sich, indem die Königin mit der Hälfte des Staates ausschwärmt und eine neue Unterkunft sucht, während eine neue Königin den Rest des Volkes übernimmt. Der ausgeschwärmte Teil lässt sich vorläufig auf einem Baum nieder und wiederum gehen Spurbienen auf die Suche, diesmal nach einer geeigneten Unterkunft. Um geeignet zu sein, muss die Höhle einen Rauminhalt von 15 bis 80 Litern haben, ein nach Süden weisendes Einschlupfloch mit einem Durchmesser von weniger als 75 Zentimeter an der Unterseite der Höhlung, und zudem einige Meter über dem Boden hängen. Kommen die Spurbienen zurück, zeigt die Intensität ihres Tanzes, wie geeignet die gefundene Niststelle ist. Anhand der Reaktion der Zurückgebliebenen merken die Spurbienen, deren Tanz nicht so intensiv war, dass ihre Stelle nicht so geeignet sein kann und sie fliegen zu den Fundstellen anderer Bienen, um zu vergleichen. Ist die neue Stelle besser, tanzen sie bei ihrer Rückkehr ebenfalls für diese. Solch scheinbar komplexes Verhalten kann in Wirklichkeit aber auf relativ einfachen Faustregeln bzw. Mechanismen beruhen. Alle bislang durchgeführten Studien an Insekten zeigen, dass diese nicht zu richtigem Denken fähig sind, sondern weitestgehend Faustregeln folgen – so auch die Bienen[48]. Dawkins folgert daraus, dass Bewusstsein nicht gleichgesetzt werden kann mit Denken. Nicht alles Denken geschieht bewusst. Somit kann es auch ohne volles Bewusstsein zu etwas Ähnlichem wie Denken kommen. So laufen in unserem Gehirn oftmals geistige Aktivitäten ab, deren wir uns nicht bewusst sind, wie zum Beispiel das Zitieren eines Gedichts, von dem man gar nicht wusste, dass man es kennt, oder das Benutzen grammatikalischer Regeln, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie diese Regeln lauten.

Eine mögliche Definition für Denken, welches im Vergleich zu Bewusstsein leichter zu definieren ist, liefert Donald Griffin. Er versteht unter Denken das – bewusste aber auch unbewusste – Sich-Befassen mit inneren Bildern oder geistige Vorstellungen von Objekten oder Ereignissen zu haben, sowie auf diese Vorstellungen einwirken zu können. Das heißt, es kann zu einem Vergleich zweier Vorstellungen (auch aus Erinnerungen) kommen und infolgedessen zu einer Beurteilung der Situationen oder Abschätzung der Folgen im jeweiligen Fall. Dieses Vorausahnen des Unerwarteten, die Berechnung verschiedener Handlungsmöglichkeiten unterscheidet das wahre Denken von Faustregeln. Selbst wenn es anders wirken mag, Insekten denken nicht, sie folgen einfachen (zum Teil erlernten) Faustregeln. Um Denken bei Tieren feststellen zu können, muss man herausfinden, wie sie in neuen Situationen reagieren und damit umgehen können. Als echte Intelligenz könnte man demnach vorausschauendes Denken bezeichnen. Die einfachste Form ist dabei das Überschlagen oder Extrapolieren. Um extrapolieren zu können, muss ein Tier in der Lage sein herauszufinden, wo ein sich bewegendes Objekt wieder auftauchen wird, nachdem es verschwunden war, sofern dies überhaupt vorhersehbar ist, das heißt sofern das Objekt sich mit gleicher Geschwindigkeit bewegt. Dazu machte man Tests mit Tauben, denen man eine Art Ziffernblatt zeigte, auf dem ein Zeiger verschwinden und wieder auftauchen konnte. Bei konstanter Geschwindigkeit war die neue Position des Zeigers leicht zu extrapolieren und die Tauben konnten exakt hochrechnen, wo der Zeiger wieder auftauchen würde[49]. Grundzüge des Denkens sind bei Tauben also vorhanden und sie haben zudem eine geistige Vorstellung von Reihenfolge, die sie anwenden können.

Bei Versuchen mit Ratten, in denen die Tiere einen Tunnel mit Futter finden mussten, der sich aber immer an anderer Stelle befand, fand man heraus, dass sie in Grundzügen zählen (zumindest bis vier) können. Der Versuchsablauf wird bei Dawkins ausführlich dargestellt. Ein weiteres Beispiel für echtes Zählen stellt der afrikanische Graupapagei Alex[50] dar. Die Tier-psychologin Irene Pepperberg von der Universität von Arizona brachte ihm durch Beobachten von Menschen bei, Objekten Begriffe zuzuordnen. Er konnte neun verschiedene Gegenstände benennen und erkannte sie auch dann noch, wenn sie sich von ihrer ursprünglichen Form unterschieden. Alex’ Vokabular umfasste rund 100 Vokabeln. Zudem gebrauchte er das Wort „Nein!“ korrekt. Sodann brachte man ihm bei, Farben und Formen zu benennen und die Anzahl von Gegenständen zu erkennen. In mehreren Versuchsreihen, bei denen Pepperberg akribisch vorging, um den Effekt des „Klugen Hans“ auszuschließen und dem Ockhamschen Messer gerecht zu werden, wurden die Testpersonen und die Fragen ständig abgewechselt und die Versuche auf Video aufgezeichnet. Beispielsweise musste er mal Farbe, mal Form, mal Anzahl plus Name des gezeigten Gegenstandes nennen und lag in 80 Prozent der Fälle richtig. Wurden die Fragen auf neue Situationen übertragen, indem Alex nicht bekannte Gegenstände gezeigt wurden, konnte er die Anzahl immer noch in 80 Prozent der Fälle richtig sagen. Wurden die Gegenstände vermischt, so lag er zu 70 Prozent richtig. Alex bildete sich also eine innere Vorstellung von der äußeren Welt und liefert somit den Beweis für Denken bei Tieren. Vorgefertigte Regeln würden hier nicht mehr zu korrekten Antworten führen. Damit steht also fest, dass bestimmte Tiere denken können. Die Möglichkeit, dies herauszufinden, wird dabei nicht von einer Sprache begrenzt. Es müssen nur geeignete Wege dafür gefunden werden. Und schon gar nicht sollte man von fehlenden Lauten auf fehlendes Bewusstsein schließen. Fische zum Beispiel können nicht schreien und Pferde leiden stumm, wenn sie Schmerzen haben, obwohl sie Laute von sich geben können. Wir müssen sorgfältiger vorgehen bei unseren Urteilen über die Eigenschaften und Fähigkeiten anderer Spezies.

3.3.5. Selbstbewusstsein und Vernunft

Die Intelligenz hat ihren Ursprung möglicherweise in einem erfolgreichen Sozialleben, zumindest ist sie untrennbar damit verknüpft. Die Grundlage für Sozialverhalten ist die Fähigkeit, Liebe (im Sinne einer starken emotionalen Bindung) zu geben und zu empfangen sowie darunter zu leiden, wenn diese verhindert oder zerstört wird. Die emotionalen Beziehungen zwischen Kindern und Müttern belegen dies am eindrucksvollsten. Die Affenversuche mit den „grausamen“ Müttern, an die die Babys sich als einzige Zuflucht aber dennoch klammerten (werden im Kapitel über Tierversuche in Abschnitt 7.1 ausführlicher beschrieben), dienen als Beispiel für die Folgen eines verhinderten Soziallebens. Die konsequente Monogamie einiger Tierarten könnte ebenfalls als Liebe gedeutet werden. Frans de Waal schildert in seinem Buch „Wilde Diplomaten“ ein komplexes, differenziertes und flexibles Verhaltensinstrumentarium von Primaten, welches sie zur Versöhnung, Friedensstiftung und Konfliktlösung anwenden. Zudem ist Intelligenz und Sozialleben nicht sauber trennbar. Die Feldforschung liefert zwar jede Menge Anekdoten über Intelligenz und Selbstbewusstsein, jedoch keine wirklich wissenschaftlich anerkannten Beweise. Beispielsweise lässt sich Selbstbewusstsein bei Gorillas daran erkennen, dass sie auf sich selbst bezogene Handlungen ausführen, wenn man ihnen einen Spiegel gibt. Das Tieflandgorillaweibchen Koko pflegte in einer Langzeitstudie von Patterson und Cohn ihr Gesicht und Unterarme, untersuchte ihre Zähne und die Zunge und beobachtete dabei die Reflexionen des Spiegels. Weitere sowohl aufschlussreiche als auch beeindruckende Hinweise für Selbstbewusstsein liefern Täuschungsmanöver, also eine absichtliche Irreführung um etwas Gewünschtes zu erreichen. Täuschungen treten nur vereinzelt auf, eingestreut unter normales Verhalten. Dawkins führt als Beispiele mehrere Fälle mit Pavianen an, wie etwa ein Pavian-Junges an, welches ein anderes erwachsenes Weibchen an einer Futterstelle beobachtete. Als das Jungtier näher kam, wurde es nicht angedroht, das erwachsene Weibchen fraß einfach weiter. Plötzlich schrie das Junge auf, als würde es von ihr angegriffen, um Hilfe zu holen. Dabei wollte es nur das Futter, das das Weibchen fraß[51]. Ein anderes Pavian-Weibchen täuschte das dominante Männchen, indem es seine Position während 20 Minuten langsam zu ihrem Liebhaber hin verlagerte, wo das dominante Männchen nicht sehen konnte, wie sie dem anderen das Fell pflegte. Er sah nur ihren Rücken, nicht aber was sie tat[52]. Auch die bereits erwähnte Studie mit den Grünen Meerkatzen liefert ähnliche Hinweise. Wurden die Grunzlaute eines bestimmten Tieres wiederholt in falschen Situationen abgespielt, beispielsweise Laute für Gefahr, wenn keine Gefahr bestand, so glaubten die anderen ihm mit der Zeit nicht mehr. Wollte dasjenige Tier später wirklich Gefahr anzeigen, so wurde dies von den anderen einfach ignoriert, weil es unglaubwürdig geworden war.

Diese Anekdoten zeigen, dass Tiere Zusammenhänge erkennen. Täuschendes Verhalten tritt nicht ständig auf, sondern wird nur gelegentlich angewendet. Somit ist die plausibelste Erklärung die Annahme von Bewusstsein. Das regelrechte Wettrüsten, welches die beiden Schimpansen Belle und Rock an der Universität von New York in Stony Brook an den Tag legten, wenn es darum ging, Futterverstecke für sich zu beanspruchen, ist wohl das beste Beispiel für einen eskalierenden Intelligenzkampf[53]. Dabei wurde immer nur der Leitschimpansin Belle gezeigt, wo Futter versteckt wurde. Um die anderen Schimpansen nicht zu dem Versteck zu führen und das Futter für sich alleine haben zu können, verhielt sie sich anders, um die anderen zu täuschen. Doch das dominante Männchen Rock erkannte alsbald die Täuschung und durchschaute Belle. Diese musste also erwägen, was Rock annehmen würde, wenn sie sich so oder so verhielt. Der wiederum wusste, dass Belle die Verstecke kannte und versuchte, an ihrem Verhalten zu erkennen, wo diese waren. Diese Reaktion-Folgereaktion ist am einfachsten zu verstehen, wenn wir sie als Bluffen interpretieren.

Bewusstsein ermöglicht aber nicht nur Denken, es ist auch die Fähigkeit zu subjektiven Gefühlen. Das Sozialleben ist immer eng mit dem Gefühlsleben verbunden. Auch wenn die menschliche Intelligenz immer größer ist als die von Tieren, so ist es das Gefühlsleben nicht unbedingt. Möglicherweise wird eine kleinere Gefühlspalette durch eine größere Intensität kompensiert, aber letztendlich fühlen sie. Wenn Tiere „fühlen“ wie wir, müssen wir unseren Umgang mit ihnen überdenken. Die meisten Gefühle werden bewusst erlebt, manche davon nehmen uns völlig ein. Doch es gibt auch unbewusste Gefühle und daher sind sie schwer nachzuweisen. Beim Menschen sind Gefühle durch äußere Anzeichen wie Erröten, Lächeln, Weinen und dergleichen ersichtlich. Dabei ist Lächeln nicht immer Ausdruck von Glück und Weinen nicht immer Ausdruck von Trauer. Ein guter Schauspieler könnte uns zudem in die Irre führen, auch wenn wir die äußeren Anzeichen richtig deuten. Gefühle bei Tieren drücken sich aber möglicherweise ganz anders aus. Ein Vogel zum Beispiel kann aufgrund seiner Anatomie gar nicht lächeln. Lächelt ein Affe, so ist das ein Zeichen von Angst und wird meist in Gegenwart dominanter Artgenossen gezeigt, wenn ein Angriff droht. Selbst wenn Tiere also Gefühle haben, so ist es keine leichte Aufgabe, eine Verbindung zwischen ihrem Gefühl und gezeigtem Verhalten herzustellen. Der entscheidende Aspekt einer Gefühlsregung ist, ob sie uns etwas bedeutet. Wenn wir einen Wunsch haben, so wollen wir ein bestimmtes Ziel erreichen, der Ausgang des Geschehens bedeutet uns etwas. Die Leidenschaft, mit der wir unsere Ziele erreichen wollen, ist ein Hinweis darauf, wie viel uns daran liegt. Für Dawkins ist Sprache insofern irrelevant: „Sprache kann etwas wertvolles sein, aber wie oft sind Worte wertlos.“[54] Das bedeutet, wir können Tiere zwar nicht fragen, aber ihr Tun sagt uns mehr als Worte uns sagen könnten. Nehmen sie beträchtliche persönliche Nachteile in Kauf, um etwas zu bekommen, zeigen sie uns, wo ihre Prioritäten liegen. Entscheidend ist der Preis, den sie zu zahlen bereit sind. Wobei Tiere natürlich nicht mit Geld dafür zahlen können. Der Ausspruch „Mein Königreich für ein Pferd!“ drückt die Bereitschaft eines Menschen aus, „alles dafür zu tun“, das Gewünschte zu erreichen. Wird zum Beispiel erfasst, wie oft es einer männlichen Taube wert war, auf ein Symbol zu picken, um Futter zu bekommen oder eine weibliche Taube zu sehen, kann man Vergleiche anstellen. Aber es lassen sich keine Annahmen darüber machen, ob sie auch reflektieren, wie zum Beispiel ein armer Mann, der dennoch all sein Geld spendet, um anderen zu helfen. Jedoch lassen sich die „Werte“ fast jedes Aspekts ihrer Umwelt erforschen. Es wurden Versuche gemacht mit unterschiedlichen Tierarten und unterschiedlicher „Belohnung“ wie Futter, Rivalen, Jungtiere, Nistplatz, Geschlechtspartner und vieles mehr. Um an die Belohung zu kommen, mussten die Tiere beispielsweise einen Hebel drücken oder dergleichen, zuerst nur einmal, dann wurde die Anzahl erhöht. Wenn sie dennoch beträchtliche Mühen für einen Gegenstand, in vielen Fällen auch nur für ein Modell davon, in Kauf nahmen, so ließ sich daraus auf eine hohe Priorität schließen. Ein starkes Gefühl setzt auch bei Menschen den Verstand außer Kraft: Wir würden „alles“ dafür tun. Hamster finden zum Beispiel einen ständigen Luftstrom so unangenehm, dass sie bei einem Versuch über die Auswirkungen von Zigarettenrauch alles dafür taten, um diesem zu entgehen und infolgedessen erstickten, da sie die Luftlöcher verklebten, durch die der Rauch kam, aber der auch ihre einzige Luftzufuhr war[55]. Im Jahre 1960 hatte das Brambell Commitee die Aufgabe, das Wohlbefinden von Tieren in Intensivhaltungen zu erforschen. Ein gut gemeinter Vorschlag war, das dünne Drahtgeflecht, auf dem Käfighühner sitzen, zu ersetzen durch dickere Drahtstränge, weil man dachte, dass diese den Hühnern lieber wäre. Zum Erstaunen der Forscher zogen die Tiere aber das dünne Drahtgeflecht vor, da, wie man herausfand, das Gewicht sich auf diesem besser verteilt. Außerdem wurde festgestellt, dass den Hennen loses Material zum Scharren sehr viel bedeutet und sie demnach auf Drahtböden leider. Auch nach einer Aufzucht ohne Streu entscheiden sie sich sofort für einen Untergrund mit Substrat zum Scharren und für Staubbäder. Wie viel den Tieren die Staubbäder bedeuten, lässt sich daran erkennen, dass sie es auch dann noch ausführen, wenn gar kein „Staub“ vorhanden ist. Sobald sie dazu jedoch die Möglichkeit haben, holen sie alles nach und schwelgen in regelrechten Staubbadorgien. Um herauszufinden, wie wichtig den Hennen eine Nestbox zur Eiablage ist, mussten sie sich durch enge Lücken zwängen, was Hühner nur sehr ungern tun. Doch zur Zeit der Eiablage nahmen sie alles in Kauf, um zu einer Nestbox zu gelangen. Für Schweine, die als sehr sozial gelten, ist Futter wichtiger als der Kontakt zu Artgenossen (was durchaus nachvollziehbar ist), Fressen bedeutet ihnen also mehr als Geselligkeit. Und für siamesische Kampffische, die mit dem Hindurchschwimmen durch eine Röhre erreichen konnten, dass sie ihr Spiegelbild betrachten konnten und es als Rivalen anfeindeten, schwammen bei erhöhtem Aufwand nicht mehr so oft hindurch, wohingegen Futter auch bei höherem Preis gleich bleibend erarbeitet wurde. Bei einem Versuch mit Ratten und Menschen über den Geschmack süßer Substanzen in Abhängigkeit verschiedener Bedingungen (wie zum Beispiel der Menstruationszyklus) kam die gleiche Kurve heraus, die feststellte, wieviel die Probanden konsumierten. Ebenso besitzen Ratten ein ähnliches Wärme- und Kälteempfinden wie Menschen. Sie haben also ebenso Vorlieben und Abneigungen. Und dennoch sind sie nicht nachweislich in Allem wie wir.

[...]


[1] der Begriff Tier bedeutet im Folgenden immer nichtmenschliches Tier

[2] der Begriff Tier wird in Kapitel 2.1 bestimmt; hier sind vor allem nichtmenschliche Tiere höheren Entwicklungsstandes gemeint

[3] Mitleid lässt sich biologisch begründen, wie der Zoologe Prof. Dr. Hanno Würbel bei der Vorlesungsreihe ILAR im letzten Jahr schilderte. Der Verweis zu dieser Vorlesungsreihe findet sich bei den Literatur-angaben.

[4] http://www.vitavegetare.com/de/network/column/index.php?id=406&template_id=21&lg=de

[5] so Kaplan bei 3sat in der Sendung „Zuerst das Fressen – dann die Moral?“ vom 21. September 2006

[6] Zitat auf http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/delta/97420/index.html

[7] siehe hierzu Abschnitt 4.5

[8] http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/delta/97420/index.html

[9] http://de.wikipedia.org/wiki/Carl_von_Linn%C3%A9; die Systematik Linnès teilt sich in die acht Gliederungsstufen Reich, Abteilung, Stamm, Klasse, Ordnung, Familie, Gattung und Art.

[10] http://de.wikipedia.org/wiki/Tierschutz

[11] http://www.tierrechte-kaplan.org/kompendium/a204.htm

[12] siehe hierzu Kapitel 3, insbesondere Abschnitt 3.3

[13] so Kaplan bei 3sat in der Sendung „Zuerst das Fressen – dann die Moral?“ vom 21. September 2006

[14] Peter Albert David Singer (geb. 1946 in Australien), australischer Philosoph und Ethiker

[15] Tom Regan (geb. 1938 in Pittsburgh), amerikanischer Philosoph und Aktivist in der Tierrechtsbewegung

[16] Bild-Quelle: http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/delta/97422/index.html

[17] http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~rebert/arlectures/test/ilar2.php?area=2&lang=de

[18] vlg. Darwin: Die Entstehung der Arten

[19] der letzte gemeinsame Vorfahre von modernen Schwämmen und den Tierarten lebte nach obiger Definition etwa 600 Millionen Jahre später als der letzte gemeinsame Vorfahre von Tieren und Pflanzen

[20] vgl. Tierzüchtungslehre, S. 56

[21] unter Phylogenese versteht man die Stammesentwicklung der Lebewesen im Verlauf der Erdgeschichte

[22] siehe Tierzüchtungslehre, S. 38

[23] aus Wikipedia: Domestizierung

[24] ebenso in Tierzüchtungslehre, S. 50

[25] Peter Singer: Animal Liberation, S. 35

[26] aus Helmut F. Kaplan: Tierrechte, S. 113

[27] aus Jeremy Benthams „Introduction to the Principles of Morals and Legislation“, Kapitel 17

[28] Das Genom des Menschen besteht aus ca. 28 000 Genen und weist eine sehr geringe Gendichte auf.

Die Gendichte ist dabei die Anzahl der Gene pro einer Million Basenpaaren. Die Genomgröße eines

Molchs ist beispielsweise größer als die des Menschen.

[29] Werner Hill: Gleichheit und Artgleichheit, S. 23ff

[30] vgl. Arthur Schopenhauer: Über das Mitleid – Das Mitleid hebt die Mauer zwischen Du und Ich auf, dtv C.H.Beck-Verlag, 2005

[31] Rousseau: Discours, S. 49

[32] DDr. Johannes Messner: Das Naturrecht – Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, S. 26ff

[33] DDr. Johannes Messner: Das Naturrecht – Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, S. 39

[34] vlg. Robert Spaemann: Ethik-Lesebuch, S. 434ff

[35] Peter Singer: Animal Liberation, S. 32

[36] Singer: Praktische Ethik, S. 37

[37] Singer: Praktische Ethik, S. 68ff

[38] zitiert in http://www.tierschutzpartei-bw.de/081politik/dl/grundsatzprogramm_2002.pdf

[39] zitiert auf http://veganspirit.party.lu/index.php?page=54413

[40] Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewusstseins, S. 58

[41] Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins, S. 80

[42] Wilhelm von Ockham war ein englischer Theologe und Philosoph; Im Kontext des Empiriokritizismus kann das Prinzip der Denkökonomie etwa so lauten: „Wir sind zur Annahme derjenigen Dinge und Welteigenschaften berechtigt, zu deren Anerkennung uns die Erfahrung gewissermaßen zwingt ...“

[43] Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins, S. 39

[44] Singer: Animal Liberation, S. 45

[45] http://en.wikipedia.org/wiki/Washoe_(chimpanzee); vgl. Veröffentlichungen von Gardner und Gardner aus den Jahren 1969 und 1975

[46] Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins, S. 104

[47] Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins, S. 122ff

[48] Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins, S. 135

[49] Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins, S. 146ff

[50] http://en.wikipedia.org/wiki/Alex_%28parrot%29

[51] Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins, S. 178

[52] Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins, S. 178f

[53] Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins, S. 181ff

[54] Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins, S. 193

[55] Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins, S. 201

Ende der Leseprobe aus 119 Seiten

Details

Titel
Kain, was machst Du mit Deinem Bruder? Eine ethische Betrachtung der heutigen (Nutz-)Tierhaltung und damit verbundener Folgen
Hochschule
Universität Passau
Note
1,5
Autor
Jahr
2007
Seiten
119
Katalognummer
V80279
ISBN (eBook)
9783638818605
ISBN (Buch)
9783638820615
Dateigröße
2202 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kain, Betrachtung, Folgen, Tierethik, Tierhaltung, Nutztierhaltung, ethische, Tiere, philosophisch
Arbeit zitieren
Dipl. Inf. Sabine Augustin (Autor:in), 2007, Kain, was machst Du mit Deinem Bruder? Eine ethische Betrachtung der heutigen (Nutz-)Tierhaltung und damit verbundener Folgen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80279

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