Als „das weite Land“ würde ich metaphorisch gesprochen das Gebiet der Erforschung des Gebrauchs der Tempora in den einzelnen Sprachen bezeichnen. Vieles ist bereits getan worden, dennoch sind noch immer zahlreiche Fragen offen. Eine davon war für mich der Tempusgebrauch in Franz Kafkas Tagebüchern.
Auf das Deutsche bezogen existieren derzeit in der Tempusforschung zwei Hauptrichtungen. Nach dem deiktischen Ansatz ist für die Wahl des Tempus, den sogenannten temporaldeiktischen Vorgang, ausschlaggebend, wo sich ein Ereignis, auf das sich ein Sprecher bezieht, auf der Zeitachse befindet. Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit des Ereignisses in Bezug auf den Zeitpunkt, zu dem eine Äußerung produziert wird, beziehungsweise, im Falle der Referenz auf mehrere Ereignisse, die chronologische Abfolge auf der Zeitachse, sind hierbei von Belang. Die andere Möglichkeit ist, die Tempora nicht als Zeiten, sondern als Aspekte im Sinne einer Kategorisierung des Verbs zu betrachten. In diesem Ansatz sind zeitliche Relationen irrelevant, da Referenzen nicht zeitstufenübergreifend sind. Aspektuelle Differenzierungen finden immer auf ein und derselben Zeitstufe statt. Unterschieden wird zwischen perfektivem, prospektivem (Zielgerichtetheit auf einen Punkt) und imperfektivem (Betonung des Verlaufscharakters) Aspekt. Neuere Forschungsansätze heben die Situationsabhängigkeit des Tempusgebrauchs hervor und entfernen sich somit von der Deixis und Aspektualität, wie auch ich das in meiner psychoanalytischen Tempustheorie tue.
Jene Tatsache, dass Kafka bei der Schilderung von Ereignissen, die sich auf ein und derselben Zeitstufe befinden, etliche Male das Tempus wechselt, lässt sich nach meiner Ansicht gemäß den geschilderten Forschungsansätzen nicht zufriedenstellend erklären. Für den Tempusgebrauch in Kafkas Tagebüchern ist weder relevant, wo sich Ereignisse auf der Zeitachse befinden, noch ist eine Zielgerichtetheit beziehungsweise Nicht-Zielgerichtetheit einer Äußerung zu bemerken. Für die Wahl eines Tempus ist lediglich entscheidend, inwieweit ein Ereignis mit dem Bewusstsein des Sprechers konfrontiert werden kann, ohne dessen seelisches Gleichgewicht zu gefährden. Innerpsychologische Vorgänge spiegeln sich daher im Tempusgebrauch wider.
Inhaltsverzeichnis
- EINLEITUNG:
- I. SIGMUND FREUDS KONZEPT DER PSYCHOANALYSE..
- 1. Der Ödipuskomplex:
- 2. Die Verdrängungslehre:
- 3. Das Ich und das Es:
- 4. Das Ich und das Über-Ich:..
- 5. Zusammenfassung:.
- II. PSYCHOANALYTISCHE TEMPUSTHEORIE ZU DEN TAGEBÜCHERN FRANZ
KAFKAS:..
- 1. EINFÜHRUNG:..
- 1.1. Vergangenheit:
- 1.2. Zukünftigkeit:.
- 1.3. Gegenwärtigkeit:
- 2. DAS PRÄSENS:
- 2.1. Vergangenheit:
- 2.1.1. Allgemeine Gültigkeit:.
- 2.1.2. Wiederholung: .
- 2.2. Gegenwart:
- 2.2.1. Unausweichlichkeit:
- 2.2.2. Vision:
- 2.2.3. Gezogene Lehre:
- 2.1. Vergangenheit:
- 3. DAS PERFEKT:
- 3.1. Vergangenheit:
- 3.1.1. Emotionsgebundenheit:
- 3.2. Gegenwart:
- 3.2.1. Bewusstseinsgebundenheit:.
- 3.1. Vergangenheit:
- 4. DAS PRÄTERITUM:
- 4.1. Vergangenheit:
- 4.1.1. Unwiderruflichkeit:
- 4.1.2. Unkontrollierbarkeit:
- 4.1.3. Emotionslosigkeit:..
- 4.1. Vergangenheit:
- 5. DAS PLUSQUAMPERFEKT:
- 5.1. Vergangenheit:
- 5.1.1. Abhebung:
- 5.1.2. Unverständnis:.
- 5.1. Vergangenheit:
- 6. DAS ERSTE FUTUR:
- 6.1. Zukünftigkeit:
- 6.1.1. Undurchführbarkeit:
- 6.1.2. Vermutung:.
- 6.1. Zukünftigkeit:
- 1. EINFÜHRUNG:..
- III. EXKURS TEMPUSTHEORIEN
- 1. ROLAND HARWEGS TEMPUSTHEORIE:
- 1.1. Praktische Theorieanwendung:
- 2. HARALD WEINRICHS TEMPUSTHEORIE:
- 2.1. Praktische Theorieanwendung: .
- IV. ZUSAMMENFASSUNG DER DIPLOMARBEIT:.
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Diplomarbeit befasst sich mit der Untersuchung des Tempusgebrauchs in Franz Kafkas Tagebüchern im Kontext der psychoanalytischen Theorie. Ziel ist es, die sprachliche Gestaltung der Tagebücher unter dem Aspekt der Zeitlichkeit zu analysieren und aufzeigen, wie die psychologischen Prozesse des Autors in seiner sprachlichen Darstellung zum Ausdruck kommen.
- Die Anwendung der psychoanalytischen Theorie auf den Tempusgebrauch in Kafkas Tagebüchern.
- Die Analyse der Beziehung zwischen Zeitlichkeit und Bewusstseinsverarbeitung.
- Die Untersuchung der verschiedenen Tempusformen und ihrer psychologischen Bedeutung.
- Der Vergleich der psychoanalytischen Tempustheorie mit anderen theoretischen Ansätzen.
- Die Interpretation der sprachlichen Gestaltung der Tagebücher im Lichte der psychoanalytischen Theorie.
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik der Tempusforschung ein und stellt die Forschungslücke dar, die die Arbeit zu schließen versucht. Das erste Kapitel erläutert die zentralen Konzepte der Psychoanalyse nach Sigmund Freud, insbesondere die Bedeutung des Ödipuskomplexes und der Verdrängungslehre. Die zweite Sektion befasst sich mit der Anwendung der psychoanalytischen Theorie auf den Tempusgebrauch in Kafkas Tagebüchern, wobei die einzelnen Tempusformen und ihre psychologischen Bedeutungen im Detail analysiert werden. Im dritten Kapitel werden die Tempustheorien von Roland Harweg und Harald Weinrich vorgestellt und mit der psychoanalytischen Tempustheorie verglichen. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und zeigt die Relevanz der psychoanalytischen Perspektive für die Interpretation von Kafkas Tagebüchern.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den Themen Zeitlichkeit, Tempusgebrauch, Psychoanalyse, Franz Kafka, Tagebücher, Bewusstseinsverarbeitung, Verdrängung, Ödipuskomplex, Tempustheorie, Roland Harweg, Harald Weinrich.
- Quote paper
- Mag. phil. Sonja Knotek (Author), 2006, Versuch einer psychoanalytischen Tempustheorie zu den Tagebüchern Franz Kafkas, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80367