Die Weltgesellschaft in Bewegung

Neue soziale Bewegungen auf dem Weg zur Transnationalisierung


Diplomarbeit, 2007

171 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

VORWORT

1. EINLEITUNG

2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN
2.1 Die moderne Gesellschaft und ihre Theorien

3. Die Gesellschaft aus der Sicht der Systemtheorie
3.1 Die funktional differenzierte Gesellschaft
3.2 Das politische System der Gesellschaft
3.2.1 Die Funktion des politischen Systems
3.2.2 Macht als Medium des Politischen
3.2.3 Publikum und Bürger
3.2.4 Die politischen Parteien
3.2.5 Regierung und Opposition
3.2.6 Die Verwaltung des politischen Systems
3.2.7 Die politische Öffentlichkeit

4. Systemtheorie und politische Theorie: Neue Ansätze

5. Theorien neuer sozialer Bewegungen
5.1 (Neue) soziale Bewegungen: Versuch einer begrifflichen Annäherung
5.1.1 Historischer Hintergrund (neuer) sozialer Bewegungen
5.1.2 Differenzierungsanmerkungen „neuer sozialer“ und „sozialer“ Bewegungen
5.1.3 Typologien (neuer) sozialer Bewegungen
5.1.4 Dimensionen neuer sozialer Bewegungen
5.1.5 Analytische Definition sozialer Bewegungen
5.1.6 Eine Frage der Organisation?

6. Anmerkungen zur Bewegungsforschung
6.1 Stärken und Schwächen der Bewegungsforschung
6.2 Exkurs: Sigmund Freud und die Psychologie der Massen
6.3 Historische Entwicklungsstränge der Bewegungsforschung
6.4 Paradigmen der Bewegungsforschung

7. Beobachterperspektiven neuer sozialer Bewegungen

8. WEGE DER TRANSNATIONALISIERUNG
8.1 Die Transnationalisierung neuer sozialer Bewegungen
8.2 Weltgesellschaft und neue soziale Bewegungen
8.3 Risikogesellschaft und neue soziale Bewegungen
8.4 Informationsprofit durch Globalisierungskritik

9. ATTAC als Paradigma einer globalisierungs- kritischen Bewegung
9.1 Gründungsimpulse
9.2 Schritte auf dem Weg zur Transnationalisierung
9.3 ATTAC in der Theorie

10. SCHLUSSWORT UND AUSBLICK

TABELLENVERZEICHNIS

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

LITERATURVERZEICHNIS

ANHANG

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Vorwort

Im Ranking der Antworten, warum man sich für das politikwissenschaftliche Studium entschieden hat, rangiert die Antwort: „Weil ich wissen wollte wie die Welt funktioniert“ ziemlich an der Spitze. Tauscht man den Begriff Welt gegen den theorietauglicheren Begriff Gesellschaft ein, dann findet man sich in einem vorerst undurchsichtigen Dickicht aus interdisziplinären Theorien, historischen Prozessen und divergierenden Positionen wieder. Der in der jüngeren Geschichte der Sozialwissenschaften eingeführte Fusionsbegriff Weltgesellschaft absorbiert alle Kommunikationen und unterstreicht gleichsam den Komplexitätscharakter der modernen Gesellschaft. Die Antwort wissen zu wollen, wie diese Weltgesellschaft funktioniert, führte mich seit Beginn meines Studiums zu folgender kritischeren Frage: Welche Vorsehungen führen in der Gesellschaft dazu, dass ihr Fortbestand und nicht ihr Ende abzusehen ist?[1] Wie bereits der Gesellschaftsbegriff impliziert, geht es im Wesentlichen um Beziehungen der Menschen untereinander. Diese können konfliktreich, aber auch von schlichter Dankbarkeit geprägt sein. An dieser Stelle möchte ich ein paar Dankesworte an jene richten, die es mir ermöglichten, mich mit derartigen Themen zu beschäftigen, und schließlich diese Arbeit zu schreiben. Herrn Univ.-Doz. Dr. Hannes Wimmer danke ich für seine Bereitschaft dieses Thema anzunehmen und besonders dafür, dass er mich freundlich zurücklotste, als ich gerade am Wege in eine Sackgasse war. Stella Frotzler und F.E. Rakuschan verdanke ich, dass sie mir bereits im Frühstadium meiner Entwicklung Wege gezeigt haben, die für mich so faszinierend und schillernd waren, dass sie heute meine eigenen geworden sind. Meinen Eltern danke ich nicht nur, weil sie mein Studium durch ihre ideelle und materielle Unterstützung überhaupt erst ermöglicht haben, sondern auch, weil sie mich durch ihre Authentizität zu dem kritischen und neugierigen Menschen gemacht haben, der ich heute bin. Last but not least danke ich meiner langjährigen Freundin, Ilona Pezenka, für ihre technische Unterstützung und kreativen Anregungen. Ein besonderer Dank gilt auch Ulrike Wandl, die in einer atemberaubenden Geschwindigkeit und einzigartigen Präzision das Lektorat dieser Arbeit übernommen hat.

1. Einleitung

Der Psychologe und Mathematiker, George Spencer-Brown, erbrachte mit seinem bahnbrechenden Werk „Laws of Form“[2] den Nachweis, dass Paradoxien ein notwendiger Bestandteil unserer Wahrnehmungen sind. Im Jahr 1972 legte er einen weit weniger beachteten Text mit dem Titel „Only two can play this game“[3] vor. Hier wird die Geschichte einer Liebesbeziehung zu einer Studentin nacherzählt, die sehr verheißungsvoll beginnt, jedoch tragisch endet. Spart man die romantisierenden Attitüden derartiger Texte aus, wird die Komplexität menschlicher Beziehungen deutlich sichtbar. Wollen wir die Schwierigkeiten und Risiken von intimen Zweierbeziehungen als bekannt voraussetzen, dann drängt sich zwangsläufig die Frage auf, wie sich generell menschliche Beziehungen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene darstellen lassen. Vereinfachend könnten wir mit Spencer-Brown festhalten: Only we can play this game. Eine derartige Spiel-Metapher birgt einige theoretische Probleme in sich, wenngleich sie eines offensichtlich werden lässt: Bei einem Spiel gibt es Gewinner und Verlierer.

Der Gewinner-und Verlierer-Differenzialismus hat sich als ein fixer Terminus in das Argumentationsrepertoire der globalisierungskritischen Bewegungen eingeschrieben.[4] Eine Grundüberlegung dieser Arbeit besteht darin, der Frage nachzugehen, inwieweit die assymetrische Dynamik[5] globalisierender politischer und ökonomischer Interdependenzen durch Alternativthemen angereichert und kontakariert wird. In dieser Arbeit wird von der Hypothese ausgegangen, dass diese Rolle den neuen sozialen Bewegungen zufällt. Durch ihre Transnationalisierung, setzen sie Themen in Bewegung, die die Weltgesellschaft bewegt. Sie protestieren, informieren und alarmieren.

Nur eine zentrale Fragestellung konnte die Komplexität des Zusammenspiels aus Politik und transnationalen sozialen Bewegungen in diesem Kontext nicht ausreichend beantworten. Um die angestellten Grundüberlegungen kurz anzuskizzieren, können einige Fragenkomplexe in folgender perspektivischer Anordnung ausgemacht werden: Die erste Perspektive beschäftigt sich mit der Ausgangsfrage, wo wir auf der gesellschaftstheoretischen Makroebene neue soziale Bewegungen verorten können (Kapitel 2 und 3). Dabei musste eine Entscheidung getroffen werden, die dazu führte, dass mit der Hinzuziehung der modernen soziologischen Systemtheorie der Versuch unternommen wird, diese Perspektive zu erfassen. Das Konzept der modernen funktional differenzierten Gesellschaft erscheint angesichts der vorliegenden Fragestellung in vielen Punkten plausibel. Dass es sich in dieser Arbeit nicht um einen alleinigen systemtheoretischen Purismus handelt wird an jenen Stellen aufgezeigt, wo es zu theoretischen Integrationsproblemen der hier zur Diskussion stehenden Thematik in das systemtheoretische Konzept kommt. In diesem Kontext wird die interdisziplinäre Dimension der Systemtheorie mit der politischen Theorie in Verbindung gebracht. Im Kapitel 4 wird eine aktuelle Diskussion über gegenseitige Anreicherungen nachgezeichnet.

Die zweite Perspektive nähert sich den konkreten Theorien neuer sozialer Bewegungen (Kapitel 5) an. Stark verkürzt könnte man die anleitenden Fragestellungen derart fixieren: Was sind neue soziale Bewegungen überhaupt, und wo kommen sie her? Wie gehen sie vor, und welche Rolle spielen politische Akteure? Dies führt über zu einem weiteren theorierelevanten Komplex: Der Bewegungsforschung (Kapitel 6). Die historischen Entwicklungsstränge, Stärken und Schwächen der Bewegungsforschung, zeigen deutlich auf, wie gesellschaftliche Probleme erkannt und von Bewegungen thematisiert werden. Auch hier gilt, dass die Transnationalisierungsdynamiken globalisierungskritischer Bewegungen auch umweltrelevante Faktoren innerhalb ihrer Kommunikationen zunehmend integrieren. Hier zeichnen sich erste Veränderungen hinsichtlich ihrer Handlungsweisen ab, welche zunehmend auf Kompetenz und Aufklärung abstellen, was nicht selten auf Kosten der bewegungsinternen Identitätsbildung geht.

Bevor der Weg in die Richtung der Transnationalisierung neuer sozialer Bewegungen eingeschlagen wird, kommt eine ganz besondere – wenngleich auch komplexe – Perspektive zur Sprache: Die Beobachterperspektive neuer sozialer Bewegungen (Kapitel 7). Hier wird davon ausgegangen, dass es sehrwohl einen Unterschied macht, wer beobachtet und in welcher Anordnung (Beobachtung erster oder zweiter Ordnung) dies geschieht. Hierin wird begründet, dass eine Nichtbeachtung dieses Anordnungsprinzipes (angesichts der breiten Palette der Risiko- und Globalisierungsthematik) zu deutlichen theoretischen Schwierigkeiten führen könnte.

Das 8. Kapitel knüpft eng an die zuvor ausgearbeiteten gesellschaftlichen Wirkungsweisen neuer sozialer Bewegungen an. Die anleitende Frage innerhalb dieses Komplexes untersucht die Wirkungsweisen neuer sozialer Bewegungen hinsichtlich ihrer Transnationalisierungskomponenten im Bezug auf Problemstellungen der modernen Gesellschaft. Vergegenwärtigt man sich die tägliche Produktion von globalpolitischen (und massenmedial vorgetragenen) Problemkommunikationen wird verständlich, dass hier Einschränkungen vorgenommen werden müssen. Dennoch wird in diesem Abschnitt versucht, den Kreis in die Richtung Gesamtgesellschaft wieder zu schließen und anhand der Globalisierungskritik (siehe Pkt. 8.4), Risikogesellschaft (Pkt. 8.3) und Weltgesellschaft (Pkt. 8.2) das argumentativ aufzubereiten, was transnationale neue soziale Bewegungen für und innerhalb der Gesellschaft zu bewirken im Stande sind. Damit dies nicht in einem isolierten theoretischen Bezugsrahmen verbleibt, werden empirische Belege einer prominent gewordenen transnationalen (globalisierungskritischen) neuen sozialen Bewegung, namentlich ATTAC, anhand ausgesuchter Problemfelder diskutiert (siehe Pkt. 9ff).

2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN

„Der Weg zum Konkreten erfordert den Umweg über die Abstraktion.“

(Niklas Luhmann)[6]

Im Zentrum dieses Abschnitts steht die intensive Auseinandersetzung mit den maßgeblichen theoretischen Grundlagen und Begrifflichkeiten im Kontext des hier zur Verhandlung stehenden Themas. Die Diskussion über die jeweilige Leistungsfähigkeit einer Theorie kann nur an Stellen aufgegriffen und vertieft werden, soweit ihr für das hier gestellte Problemniveau Relevanz zugemessen wird. Da es sich bei den neuen sozialen Bewegungen[7] um eine Fragestellung innerhalb der modernen Gesellschaft handelt, wird dem intensiveren Teil der unterschiedlichen Theorieansätze über neue soziale Bewegungen, eine kurze Einführung in die Theorien der modernen Gesellschaft vorgeschaltet sein.[8] Dieser Abschnitt markiert sozusagen einen Ausgangspunkt und stellt die spannenden Schnittstellen zwischen gesellschaftstheoretischen Konzepten und politischer Theorie in den Vordergrund. Ziel der genauen Bestimmung der theoretischen Grundlagen soll es sein, von der theoretischen Makroebene, den genauen Ort der neuen sozialen Bewegungen innerhalb des politischen Systems[9] bestimmen zu können, um in Folge begrifflich geschärft fixieren zu können. Dabei handelt es sich um eine bewusst getroffene Entscheidung. Die Blickrichtung zuerst auf der Makroebene hinsichtlich Wandel und Modernisierung der Gesellschaft anzusiedeln, um zu diskutieren, wo sich das politische System bzw. die neuen sozialen Bewegungen auf dem Monitor der Gesamtgesellschaft befinden, um in Folge den daraus gewonnen Erkenntnisgewinn auf der Mesoebene (also Gruppen und ihr kollektives politisches Verhalten) aufzugreifen und vertiefen zu können.[10] Das Oszillieren zwischen Mikro- und Makroebene, ausgehend von einer bestimmbaren Mesoebene, formuliert der Deutsche Soziologe Dieter Rucht so:

„Bewegungen werden zu einer Gruppe von Handlungssystemen gerechnet, die analytisch am ehesten auf einer Mesoebene anzusiedeln sind. Hier liegt der typische soziale Aktionsradius von Bewegungen. Diese Mittellage ergibt sich daraus, dass Bewegungen gleichzeitig auf die Mikro- und Makroebene hin orientiert sind und darin eine Balance wahren müssen.“[11]

Nach einem kurzen Überblick über die wesentlichen Ansätze gesellschaftstheoretischer Konzepte, wird eine Einführung - in den zwar nicht alles dominierenden, aber doch sehr im Vordergrund stehenden - systemtheoretischen Ansatz folgen. Hier wird der Frage nachgegangen, wo und in welcher Form wir neue soziale Bewegungen innerhalb der Gesellschaft ansiedeln können, und welche Funktionen sie innerhalb des politischen Systems zu übernehmen im Stande sind. Die Wirkungen derartiger Widerspruchskommunikationen befinden sich dieser Annahme nach nicht außerhalb des politischen Systems, sondern werden in der politischen Öffentlichkeit formiert und in das politische Entscheidungszentrum transportiert. Der Anspruch dieser konzeptionellen Rekonstruktion kulminiert in erster Linie darin, sämtliche theoretische Bestimmungsfaktoren zu aggregieren, auf welche im Folgenden Bezug genommen wird.

Nach einer kurzen Einführung in die theoretischen Ansätze der modernen Gesellschaft[12] wird versucht anhand der funktional differenzierten Gesellschaft das politische System so zu beschreiben, wie es aufgrund seiner Struktur, Form und autopoietischen Geschlossenheit aus der Sicht der Systemtheorie bestimmbar geworden ist. Auf dieser Ebene hat sich aus den systemtheoretischen Grundlagen eine spannende (wenngleich auch diskussionswürdige) politische Theorie entwickelt, welche hier aufgegriffen wird und im Zusammenhang mit den neuen sozialen Bewegungen als „Protestkommunikation“ dargestellt wird. Die Darstellung des politischen Systems (als geschlossenes Funktionssystem der Gesellschaft) mit Zentrum, Peripherie und Binnendifferenzierung, leitet zu den theoretischen Bemühungen im Theorienkomplex der Bewegungsforschung über. Seit Ende der 80er bis Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts kam es zu einer regelrechten Forschungskonjunktur in diesem Bereich. Es ist daher nicht als Zufall zu bewerten, dass gerade in diesem Zeitraum in der Fachliteratur die begriffliche Ergänzung von den sozialen Bewegungen zu den so genannten neuen sozialen Bewegungen eingeführt wurde. Um diese begriffliche Trennschärfe etwas auszuleuchten wird es notwendig sein abzuklären, was denn die neuen sozialen Bewegungen eigentlich sind, bzw. welche theoretischen Angebote wir hinsichtlich ihrer Differenzierungskapazitäten vorliegen haben.

Wie alle verhältnismäßig jungen Forschungsansätze, liegt auch der gesamten Bewegungsforschung zu Grunde, dass es sehr divergierende Ansätze und Ausrichtungen gibt, welche zumeist auf Einzelfallstudien abstellen und einen größeren theoretischen Zusammenhang lediglich anskizzierten, jedoch selten vertiefen.[13] So standen anfänglich Handlungstheorien und Theorien kollektiven Verhaltens, sowie gesellschaftsstrukturelle Spannungsverhältnisse mehr im Vordergrund, als sie letztlich zu erklären im Stande waren. Nach einer Diskussion der unterschiedlichen theoretischen Modelle, welche unter der Überschrift Bewegungsforschung[14] firmieren, erfolgt eine wichtige begriffliche Auseinandersetzung, nämlich die der Beobachterperspektive. Hier wird folgender Frage nachgegangen: Wenn die neuen sozialen Bewegungen als Beobachter der Gesellschaft definiert werden, welche zusätzliche theoretische Leistungsfähigkeit uns dies für das Phänomen bzw. für die Erfassung des Gegenstandes bringen kann und welche deskriptiven Konsequenzen ergeben sich daraus?

Die Frage, wer beobachtet, ist eine nicht unwesentliche und wird selten ausreichend berücksichtigt. Dies führt nicht selten zu immanenten Schwierigkeiten in Empirie und Analyse. Oder anders gesagt: Wie kann überhaupt beschrieben werden, was gesehen wird, was andere nicht sehen, wenn wir nicht wissen wer beobachtet? Eine weitere Frage, welche schon ein gewolltes Naheverhältnis zu dem Untersuchungsgegenstand unterstreicht, ist jene, wie aufgrund der Beobachtungsoperationen so etwas wie motiviertes kollektives Handeln einsetzt. Nach Festlegung der Beobachterperspektive stehen drei Begrifflichkeiten im Vordergrund, welche in den letzten beiden Jahrzehnten eine beachtliche Prominenz erfahren haben: Risikogesellschaft[15], Weltgesellschaft[16] und Globalisierung[17]. Beim letzt genannten Begriff (Globalisierung) wird fast allen wissenschaftlichen Disziplinen vorgeworfen, dass sie etwas ratlos sind und keine Antworten finden und die Auseinandersetzung mit ihr gleich den Journalisten überlassen.[18] Hier gilt es die oben erwähnten Begrifflichkeiten derart auszuleuchten, damit die besondere Rolle der neuen sozialen Bewegungen als Reaktion darauf verständlich wird. Die theoretische Herangehensweise, Globalisierung als etwas Prozessuales darzustellen, wird seitens der Kritik an ihr, als etwas Beeinflussbares dargestellt. Der Prozess als solches, bleibt somit als etwas Kontingentes im globalen Netzwerk hängen. Der Prozessbegriff suggeriert einen Ausgang hinsichtlich seiner Zukunftsperspektiven. Risiken der Weltgesellschaft werden durch transnationale Bewegungen derart kommuniziert, dass es (für sie) klar scheint, wohin die Entwicklung steuert, und was geschehen wird. Gelesen wird dies anhand des Prozesses und seiner politischen, ökonomischen und ökologischen Entscheidungen. Die Prozessverhandlung ist somit eine Verhandlung um deren Ausgang Strittigkeit herrscht, obwohl es in der dynamischen gesellschaftlichen Entwicklung kein fixierbares Ziel gibt. Dies muss jedoch in konfligierenden Kommunikationen über Zukunftsfragen der modernen Gesellschaft entparadoxiert werden.

Die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit erheben somit den Anspruch, die moderne Gesellschaft als funktional differenzierte Gesellschaft zu beschreiben, um weiterhin zentrale Problemfelder begrifflich so zu bearbeiten, dass die besondere Rolle neuer sozialer Bewegungen als gesellschaftliches Korrektiv und Einflusskraft schlüssig wird. Die Frage der Kritik an der Globalisierung als ein weltgesellschaftliches Problem mobilisiert soziale Bewegungen über nationalstaatliche Problemzentren hinweg. Hier wird der Versuch unternommen, diese Wege theoretisch zu begründen, um dies als einen neuen netzwerkartigen Bewegungstypus darzustellen. Plausibel wird dies dadurch gemacht, indem zentrale historische Rekonstruktionen der Vorläuferbewegungen beschrieben, und innerhalb der Bewegungsforschung diskutiert werden.

Eine Dokumentationsreihe über den Begründer der modernen Systemtheorie, Niklas Luhmann, trägt den Titel: „Beobachter im Krähennest.“[19] Als Krähennest wird der oberste Ausguck am Schiffmast eines Segelschiffes bezeichnet. Hier oben ist der Ort, der dazu dient, um sich über nahende Gefahren oder andere Unwirtlichkeiten einen Überblick zu verschaffen. Das vor einem liegende Meer scheint unendlich, und das in den Tiefen Verborgene nahezu unkenntlich und bei oberflächlicher Betrachtung verschlossen. Bei allen Problemen, die eine derartige Metapher in sich birgt, scheint sich hier die Beobachterperspektive und das Blickfeld Gesellschaft nahezu aufzudrängen. Dieses Kapitel steht im Zeichen, vom Krähennest hinabzusteigen und in Anlehnung eines Zitates des Philosophen und Sozialwissenschaftlers, Karl R. Popper, ein engmaschiges „Netz“ auszuwerfen, welches groß genug ist, um eine sehr spannende Facette der Gesellschaft weitest möglich erfassen zu können.[20]

2.1 Die moderne Gesellschaft und ihre Theorien

„Soziale Bewegungen sind bewusste kollektive Anstrengungen zur

strukturellen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse.“

(Joachim Raschke)[21]

"Gesellschaft ist in Bewegung und es agieren Bewegungen in der Gesellschaft."

(Dieter Rucht)[22]

„Und für mich war bei dem Phänomen Gesellschaft immer entscheidend,

dass die Gesellschaft in der Gesellschaft konstruiert und beschrieben wird.“

(Niklas Luhmann)[23]

"Alle Interpretation der Gesellschaft sind geschichtlich bedingt. Sie sind Gegenstand einer historischen Semantik. Für die moderne Gesellschaft ist diese Semantik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geformt worden.“

(Niklas Luhmann)[24]

Überspitzt könnte man meinen, dass jede Theorie der modernen Gesellschaft einen Versuch darstellt, das Unfassbare fassbar zu machen. Hier soll der Frage nachgegangen werden, welche theoretischen Konzepte sich zu der Erfassung etwas derart Komplexen und Dynamischen, wie die moderne Gesellschaft beschaffen ist, entwickelten. Gehen wir beim Begriff der Gesellschaft als die größte soziale Einheit aus, so steigert dies den Komplexitätsgrad zusätzlich. Es ist in ihr alles integriert und es gibt keine andere und kein Draußen. Theoretisch handelt es sich dabei um eine gute Nachricht:

Wir wissen wenigstens wo wir suchen müssen. Empirisch bedeutet dies jedoch, wie Luhmann anmerkte, dass dies einem Flug über den Wolken gleichkommt, und die darunterliegende Wolkendecke ziemlich geschlossen ist.[25] Dennoch benötigt auch die Politikwissenschaft theoretische Ansätze und Erklärungsmodelle, um über die soziale Beschaffenheit der Gesellschaft Aussagen treffen zu können.[26] Gesellschaftstheorien treten demnach meist im Plural auf. So bezeichnet sich Gesellschaftstheorie (im Singular) als allgemeine Bezeichnung für ein Set an Theorien von der Gesellschaft. Um hier mehr Tiefenschärfe zu erzeugen, soll an dieser Stelle eine kurze lexikalische Erklärung der Theorien (Plural!) der Gesellschaft aus dem Lexikon zur Soziologie, einen kurzen Überblick verschaffen.

“(...) Die Marxsche T.d.G. gewinnt ihre Erkenntnisperspektive als Ideologiekritik aus der Konfrontation von gesellschaftlichem Anspruch und gesellschaftlicher Praxis; ihre dialektische Methode ist Ausdruck der inneren Widersprüche der Vergesellschaftung, die bestimmte historischen Struktur- und Entwicklungsgesetzen unterliegt. An die Marxsche T.d.G. knüpft die kritische Theorie (M. Horkheimer, T.W. Adorno, H. Marcuse, J. Habermas), wenn auch mit Modifikationen, Einschränkungen und Erweitungen, an. In beiden Ausprägungen der T.d.G. ist Grundthema: die durch herrschaftsvermittelte Gesellschaftsverhältnisse unterdrückte Selbstverwirklichung des Menschen. (...). Als T.d.G. ist auch die Systemtheorie N. Luhmanns zu begreifen, welche sowohl eine umfassende Theorie sozialer Systeme wie eine Theorie sozialer Evolution zu entwickeln sucht. Auch sie hält am Gedanken der `soziologischen Aufklärung` fest, wobei diese nicht vom Standpunkt des Subjekts, sondern von dem des sozialen Systems aus, als Steigerung der Möglichkeiten eines Sozialsystems, Weltkomplexität zu erfassen und zu reduzieren, begriffen wird.“[27]

Bei den erwähnten Gesellschaftstheorien kristallisieren sich jedoch sehr divergierende Ansätze heraus und erheben nicht selten den Anspruch die Theorie der Gesellschaft zu sein. Je nach Disziplin und Forschungsschwerpunkt - wie auch nach der jeweiligen Forschungsentwicklung - ergeben sich daraus unterschiedliche Ansätze, welche im Diskurs nicht selten kontroversiell und manchmal auch ideologisch abgehandelt wurden und werden.[28]

Die Etablierung und Herausbildung von Wissenschaftsdisziplinen steckten zwar ihre Terrains ab, jedoch mit dem negativen Effekt, dass es in der einen oder anderen Disziplin zu einer erheblichen Theoriendominanz gegenüber dem eigentlichen Untersuchungsgegen-stand kam. An dieser Stelle fällt der Politikwissenschaft eine besondere Rolle zu. Diese Rolle ist eine Chance sich bei aller Kritikfähigkeit eine für sie geeignete Theorie weiter zu entwickeln, welche sämtliche Kapazitäten bereit hält, die Komplexität des Politischen in der modernen Gesellschaft[29] in all ihren Erscheinungsformen erfassen zu können. Gemessen an der Traditionsgeschichte anderer wissenschaftlichen Disziplinen (bspw. Soziologie, Rechtswissenschaft, Philosophie, etc.) ergibt sich auf der Grundlage des Entwicklungsstandes theoretischer Konzepte ein ungemeiner Partizipationsprofit für die Politikwissenschaft. Dieser Sachverhalt macht die politikwissenschaftliche Forschung ebenso spannend wie auch komplex.[30] Nicht selten steht der Vorwurf im Raum, in fremden Gewässern zu fischen. Hier kam es bei gesellschaftlichen Schnittstellenphänomenen (wozu die sozialen Bewegungen durchaus gezählt werden können) dennoch zu sehr fruchtbaren und disziplinübergreifenden Auseinandersetzungen. Diese drangen nicht nur tief in Theoriefragen ein, sondern erwiesen der Forschung einen guten Dienst.

Nun drängt sich zwangsläufig die Frage auf, was die moderne Gesellschaft nun ist und welche Rolle die neuen sozialen Bewegungen in ihr spielen respektive welchen besonderen Stellenwert diese einnehmen. Ist die Grundlage der Wandel? Geht es um Werte, oder gar um Weltanschauungen oder sind es einfache Reaktionen auf (sozio-)politische Entwicklungsprozesse und Entscheidungen, welche erst über den nie still stehenden Motor der Massenmedien in unser Bewusstsein dringen und uns ab einem gewissen Grad zum kollektiven Handeln zwingen? Oder können wir die Beschreibung der Gesellschaft, in Anlehnung des hier zur Diskussion stehenden Themas, sogar als „Bewegungsgesellschaft“[31] festhalten, wie es der deutsche Soziologe Dieter Rucht versucht hat?

"Mit dem Stichwort Bewegungsgesellschaft, eingeführt mit einem Fragezeichen und nicht ohne eine gewisse argumentative Zurückhaltung, wurde von Neidhardt/Rucht die These vertreten, daß moderne westliche Gegenwartsgesellschaften zunehmend günstige Ausgangsbedingungen für die Entstehung und Stabilisierung sozialer Bewegungen bieten. Zugleich wurde aber auch vermutet, daß die heutigen Bewegungen nicht unbedingt die Dauer und Bindekraft historischer Bewegungen des 19. Jahrhunderts erreichen. Behauptet wurde eine Tendenz zur Bewegungsvielfalt, eine Herabsetzung der Schwelle, sich in Bewegungen zu engagieren.“[32]

Um die moderne Gesellschaft zu erfassen bleibt zu bestimmen, was unter der Moderne zu verstehen ist. Der Begriff Moderne wirft aufgrund seiner Vielseitigkeit[33] und seines eigentümlichen Facettenreichtums zahlreiche Fragen auf. Fragen, deren Beantwortung immer in der Gefahr der Unschärfe und themenbezogenen Verdichtung und Beliebigkeit stehen. Im Wissen um diese Gefahr sollen hier doch markante Daten erwähnt werden. Dies erscheint notwendig, um die bereits erörterte Vielschichtigkeit des Begriffes zu entfalten und gleichsam die Brisanz bis in die Rezeption heutiger Tage anzumerken. Dies erhebt auch Relevanz in entwicklungsgeschlichtlichen Fragestellungen zu den (neuen) sozialen Bewegungen.

Die Moderne hat per se kein Zentrum. Um sie aus einer systemtheoretischen Perspektive zu beschreiben, kann die Moderne in jedem Subsystem der Gesamtgesellschaft verortet werden.[34] Wir denken an die Politik der Moderne, die Kunst der Moderne, die Wissenschaft der Moderne, die Architektur der Moderne, die Wirtschaft der Moderne[35] und so weiter. Die Liste erscheint endlos. Der hier verhandelte Modernitätsbegriff zielt jedoch darauf ab, den Umbrüchen in der jeweiligen individuellen Lebensgestaltung als planbares Unterfangen nachzugehen[36] - und über diese Einsicht - die Etablierung sozialer Bewegungen als einen historischen Paradigmenwechsel erkennbar werden zu lassen.[37] Die Moderne, hier verstanden als Gegenbegriff zur Tradition, was ein wesentlicher Kern gesellschaftlicher Eruptionen nach sich zog.[38] Zentral ist eine eigentümliche Aufbruchstimmung, welche den Wandel der Zeit bereitwillig aufnahm und ein Sich-Oganisieren nach sich zog. Anders ausgedrückt:

„Der Aufbruch in die neue Zeiten ist getragen von sozialen Bewegungen, es besteht die Hoffnung auf ein glückliches Leben für alle Menschen; der beginnende Kapitalismus bedeutet eine ungeheure Erweiterung der Lebenschancen und Lebensperspektiven – nicht nur für eine Minderheit, sondern für die große Zahl, für die Masse der Menschen.“[39]

Die angesprochene Hoffung[40], und die greifbare Möglichkeit der Verwirklichung dieser Hoffnung, waren nicht nur auf der individuellen Ebene angesiedelt, sondern spielten auf der Ebene der Institutionalisierung von politischen Parteien eine ebenso bedeutende Rolle. Hinsichtlich der Abwendung von der Tradition, können wir den Übergang zur Zweiten Moderne[41] festhalten, dass ein Teil der transnationalen globalisierungskritischen Bewegungen im Bezug auf ökologische Problemfelder sehr traditionsbezogen antwortet.[42] Im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert ist es zudem genau der Kapitalismus im Mantel neoliberaler Radikalisierung, der sich als Hauptangriffsfeld globalisierungskritischer Bewegungen ausnehmen lässt. Was ehemals als innovativ galt, hat ihre Aura verloren und ist brüchig geworden.

„Die Erfahrung von gesellschaftlicher Modernität bestand nicht nur in der Beschleunigung gesellschaftlicher Verhältnisse und in der Erfahrung der kontingenten Gestaltbarkeit der Welt, sondern vor allem darin, dass sich dies in sozialen und territorialen Räumen ereignete, die in erster Linie politisch formiert wurden.“[43] Dies ist ein wesentliches Moment der Moderne. Die besondere Stellung der „Gestaltbarkeit“ erfährt im Theoriekonzept der (neuen) sozialen Bewegungen eine zusätzliche Ausleuchtung. Dieter Rucht sieht in den sozialen Bewegungen ein Produkt und Phänomen moderner Gesellschaften und meint bezüglich dieser Feststellung: "Dieser vielleicht überzogen anmutende Schluß ergibt sich, wenn man in Rechnung stellt, daß die Idee mit der Moderne ´menschgewollten´ und gezielt ´machbaren´ sozialen Ordnung erst mit der Moderne aufkam, ja eines ihrer zentralen Bestimmungsmerkmale ausmacht."[44] So verwundert es nicht, dass TheoretikerInnen, welche soziale Bewegungen ins Zentrum ihrer Forschung rückten, politische Diskurse[45] und die Komplexität der modernen Gesellschaft mit-fokussieren mussten, um ein gewisses Plausibilitätsniveau zu erreichen. Dieter Rucht formuliert dies so:

"Das revolutionäre Element der Moderne liegt bereits in der bloßen Idee umfassender Gestaltungsmacht unabhängig davon, in welchem Ausmaß diese Gestaltung gelingt und nicht beabsichtigte Folgen menschlichen Handelns vermieden werden können.“[46] Hier wurde bereits ein maßgebliches Element zur Situierung der neuen sozialen Bewegungen ob ihrer Kraft und Dynamik vorweggenommen. Der Konjunktiv: Etwas verändern zu können, ob es nun gelingt oder nicht, ist ein Indiz[47] der modernen Gesellschaft, in der Bewegungen und ihre Proteste und andere alarmierende Artikulationsformen Platz haben.

[...]


[1] Frei nach Anthony Giddens, der den Erzbischof Wulfstan in der Einleitung zu „Entfesselte Welt“ mit folgendem apokalyptischen Ausspruch zitiert: „Die Welt rast ihrem Ende entgegen.“ Wohlgemerkt stammt dieses Zitat bereits aus dem Jahre 1014. Vgl. Giddens 2001, S. 11.

[2] Spencer-Brown 1997.

[3] In der deutschen Übersetzung mit dem etwas sperrigen Titel „Dieses Spiel geht nur zur zweit“ veröffentlicht. Siehe Spencer-Brown 1994.

[4] So merkt ein ATTAC- Mitglied über „Ihre Bewegung“ hoffungsfroh und zielorientiert an: „Wir sind eine Bewegung im Aufbruch, die sich gegen eine Globalisierung von wenigen Gewinnern und massenhaft Verlierern wendet (...).“ Meinhold 2002, S. 9. Die Gewinner/Verlierer Spaltung findet sich in nahezu jeder Publikation über die (ökonomische) Globalisierung neoliberaler Ausprägung wieder. Eine sehr tiefreichende und detaillierte Begründung (bspw. über so genannte „low skill/low qualification“-Jobs) findet sich bei Altvater/Mahnkopf 2002, S. 352f.

[5] Darunter sind sämtliche Debatten rund um den Begriff der Entstaatlichung subsumiert. Unter anderen zahlreichen Annahmen, die davon ausgehen, dass internationale Kapitalismuslogiken die Politik und staatlichen Souveränitäten kontaminieren. Vgl. Hardt/Negri 2002, S. 10. Auch Ulrich Beck, der in diesem Zusammenhang anmerkt: „Die Denationalisierung, Entörtlichung und Transnationalisierung von Wirtschaft und Staat erzeugen und verschärfen den Legitimationsverfall von Herrschaft sowie das Demokratie-Dilemma im globalen Zeitalter.“ Beck 2002, S. 348. Über die bewusste Zersetzung der nationalen Sozialstaaten durch das neoliberale Dogma, siehe auch Bourdieu 1997, S. 12f und S. 17-19.

[6] Luhmann 1994, S. 10.

[7] Zum Begriff der so genannten neuen sozialen Bewegungen und die Differenzierung zu den (nur) sozialen Bewegungen, sowie eine Versammlung ausgewählter theoretische Ansätze zum Thema. Hier besonders hervorzuheben sind: Ahlemeyer 1995; Rucht 1994; Raschke 1985, Luhmann 1996, 1997 (2.Band), 2000; Japp 1987, 1993; Giddens 1999; Rammstedt 1978. Eine eingehende Auseinandersetzung erfolgt unter Pkt. 5.1.2 in dieser Arbeit.

[8] Dies erfordert im Zusammenhang mit einer politikwissenschaftlichen Arbeit eine Erklärung: Um das Phänomen der neuen sozialen Bewegungen in einem theoretischen Bezugsrahmen zu bringen, erscheint es notwendig, die moderne Gesellschaft ausreichend zu definieren und maßgebliche theoretische Ansätze kurz anzuführen. Vielleicht schon jetzt vorwegnehmend: „Die Arbeit an der Gesellschaftstheorie ist jedoch primär Aufgabe der Soziologie und – so weit ich sehen kann -, ist Luhmanns Theorie der funktional differenzierten Gesellschaft das am weitesten vorangetriebene Projekt auf diesem Gebiet. Entsprechend dieser Theorie ist das `Moderne´ an der modernen Gesellschaft nichts anderes als ihre Struktur oder ihre Differenzierungsform und eben dadurch unterscheidet sie sich von segmentären sowie von traditionalen, hierarchisch-stratifizierten Gesellschaften.“ Wimmer 2000, S. 116f [Hervorhebung im Original]. Etwas anders sieht die Arbeit an der Gesellschaftstheorie André Brodocz, wenn er wie folgt formuliert: “Die funktionale Differenzierung von politischer Theorie und Gesellschaftstheorie bedeutet in der sozialwissenschaftlichen Praxis jedoch keinesfalls eine klare Unterscheidbarkeit zwischen politischer Theorie und Gesellschaftstheorie“ Brodocz 2006, S. 4 (Vortragsunterlage). Dies würde uns zu der stark vereinfachten Conclusio führen, dass jede Arbeit an politischen Theorien auch gleichzeitig eine Arbeit an Gesellschaftstheorie ist.

[9] Zum Entwurf eines politischen Systems als autonomes Funktionssystem der Gesellschaft, siehe besonders Luhmann 2000. Niklas Luhmanns posthum veröffentlichter Text „Die Politik der Gesellschaft“ warf auch im Hinblick auf die politische Theorie einige Fragen auf, welche im Rahmen des Kongresses der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) im Jahr 2001 unter prominenter Teilnahme diskutiert wurde. Ein Auszug dieser spannenden Auseinandersetzung liegt seit 2002 in publizierter Form unter dem Titel „Theorie der Politik/Niklas Luhmanns politische Soziologie“ vor und wurde von Kai-Uwe Hellmann und Rainer Schmalz-Bruns zusammengestellt und herausgegeben.

[10] Über die Reichweitenebenen politischer Theorien, besonders der hier zur Diskussion stehenden Makro- und Mesoebene, siehe ausführlich u.a. von Alemann 1995, S. 80f. Über das Kräfteverhältnis zwischen politischer Theorie und Gesellschaftstheorie analog der Makro/Mesoebene-Konzeption, siehe auch Brodocz 2006, S. 1 (VU).

[11] Rucht 1994, S. 80 [Hervorhebungen im Original] .

[12] Hierbei handelt es sich nur um eine Auswahl, - eine mögliche Annäherung zu versammeln - um über die Tragfähigkeit etwaiger Gesellschaftstheorien überblicksartig zu verständigen. Das Schwerpunktinteresse befindet sich an Stellen, wo wir Gesellschaft so begreifen können, als wir sie im Weiteren hinsichtlich des hier vorliegenden Forschungsthemas als politisches Thema integrieren können.

[13] Besonders kritisch dazu: Hellmann 1999, S. 92-96 und S. 106f. Als Ausnahmen können die theoretisch und empirisch fundierten Arbeiten von Raschke 1985 und Rucht 1994 hervorgehoben werden.

[14] Siehe dazu ausführlich Kapitel 6 in dieser Arbeit.

[15] Zum Begriff der Risikogesellschaft, siehe Beck 1986, 1991 Japp 1996; Giddens 2001, S. 33-51; Nassehi 1997, S. 252-280. Zum Begriff des Risikos, siehe besonders Luhmann 1991b, S. 9-41.

[16] Zum Begriff der Weltgesellschaft, siehe unter anderen Altvater/Mahnkopf 2002; Luhmann 1984, 1991a, 1997, S. 145-171, und 2002; Stichweh 2000; Wimmer 2000, S. 10-25; Albert 2002; Schroer 2006, S. 145-149. Luhmann konkretisierte bereits 1984 den Begriff der Weltgesellschaft, indem er ihn folgend fixierte: “Ihre Grenzen [gemeint ist die Gesellschaft, Anmk. CV ] werden von Naturmerkmalen wie Abstammung, Bergen, Meeren unabhängig, und als Resultat von Evolution gibt es dann schließlich nur noch eine Gesellschaft: die Weltgesellschaft, die alle Kommunikationen und nichts anderes in sich einschließt und dadurch völlig eindeutige Grenzen hat.“ Luhmann 1984, S. 557. Die Betonung nichts anderes ist besonders hervorzuheben. Inwieweit die Gesellschaft von ihren Menschen selbst als „Sinneinheiten“ unabhängig bleibt, ist eine der heftigsten Kritikpunkte an der Systemtheorie. Luhmann begründet dies weiter: „Man kann nicht Menschen den Funktionssystemen derart zuordnen, daß jeder von ihnen nur einem System angehört, also nur am Recht, aber nicht an der Wirtschaft, nur an der Politik, aber nicht am Erziehungssystem teilnimmt. Das führt letztlich zu der Konsequenz, daß man nicht mehr behaupten kann, die Gesellschaft bestehe aus Menschen; denn die Menschen lassen sich offensichtlich in keinem Teilsystem der Gesellschaft, also nirgendwo in der Gesellschaft mehr unterbringen“ so, Luhmann 1997, S. 744. Kraft dieser Definition wird der Mensch in die Umwelt der Funktionssysteme verbannt. Luhmann räumt jedoch entschärfend ein: “Dies alles [gemeint sind Menschen und physische-chemische-organische Natur, Anmk. CV ] zählt zur Umwelt der Gesellschaft, wobei selbstverständlich ist, dass eine Gesellschaft ohne diese Umwelt nicht möglich wäre“ Luhmann 2005a, S. 52. Über die „Ortlosigkeit“ der Einzelperson in der funktional differenzierten Gesellschaft, siehe auch Luhmann 1994, S. 16.

Zu der Rolle der Menschen in der Gesellschaft aus dem Blickwinkel der Systemtheorie im Hinblick auf unser Thema, also die neuen sozialen Bewegungen, siehe Ahlemeyer 1995, S. 121-126.

[17] Dem Begriff der Globalisierung - bzw. der Kritik an ihr - wird in dieser Arbeit im Kontext transnationaler sozialer Bewegungen ein eigener Schwerpunkt gewidmet. Siehe dazu Kapitel 8.4, sowie 9f.

[18] Vgl. Reese-Schäfer 2000, S. 1.

[19] Niklas Luhmann 1989: „Beobachter im Krähennest“ aus der ARD-Reihe „Philosophie heute“ in Kooperation mit dem Westdeutschen Rundfunk, VHS, Köln.

[20] Vgl. Popper 1966, S. 31. Hier das Zitat im Original: „Die Theorie ist das Netz, das wir auswerfen, um die ´Welt´ einzufangen, sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen.“ Popper 1966, S. 31.

[21] Raschke 1985, S. 117.

[22] Rucht 1999, S. 21.

[23] Luhmann 2005b, S. 37.

[24] Luhmann 2005a, S. 33. Diesen Ansatz verfolgt Luhmann bezüglich der modernen Gesellschaft, als Unterscheidung von „Sozialstruktur“ und „Semantik“ ausführlich in Luhmann 1992, S. 11ff; auch Luhmann 1996, S. 81.

[25] Vgl. Luhmann 1984, S. 13.

[26] Hier Politikwissenschaft begriffen als Gesellschaftswissenschaft. Gemeint sind u.a. „die Wissenschaften, die sich mit den fundamentalen Strukturen des gesellschaftlichen Lebens befassen.“ Fuchs-Heinritz et al. 1995, S. 242. Hier kann sich die Politikwissenschaft als Sozialwissenschaft nicht ausnehmen.

[27] Fuchs-Heinritz et al. 1995, S. 678f. Oder um dies weiter zu präzisieren: Es gibt eben nur eine Gesellschaft und zu ihr mehrere Theorien, wobei die eine die andere nicht zwangsläufig ausschließen muss. Vielmehr das Mehr an Theorien kann die Kapazität bereithalten, den Erkenntnisgewinn zusätzlich anzureichern.

[28] Ein Schicksal, welches der Systemtheorie zuteil wurde. Durch die Rationalisierung und funktionalistische Radikalisierung des Systembegriffs wurde seitens der Kritischen Theorie und der marxistischen Gesellschaftskritik oftmals mehr ideologisch als inhaltliche Kritik an der Systemtheorie geübt. Jürgen Habermas unterstellte beispielsweise der Luhmannschen Systemtheorie (auch noch nach der autopoietischen Wende) ein „sozialtechnologisches“ und „konservatives Erkenntnisinteresse.“ Vgl. Kneer/Nassehi 2000, S. 186. Anders dazu, siehe Hellmann, der einige Gemeinsamkeiten zwischen Systemtheorie und Kritischer Theorie erkannt haben will. Er regt hiezu an: “Freilich müsste ein Vergleich Luhmann/Adorno erst noch systematisch und nicht bloß in polemischer Absicht in Angriff genommen werden (...).“ Hellmann 2002, S. 30.

[29] Oder wie sich Hellmann auf Luhmann in diesem Zusammenhang bezieht: "Gegenstand der Analyse ist bei Luhmann nämlich so gut wie niemals das Politische im allgemeinen, wie es in der Gesellschaftsform vorkommt, sondern vorrangig die Politik der modernen Gesellschaft, die im Vergleich mit vormodernen Gesellschaften als einzige behaupten kann, autonom zu sein.“ Hellmann 2002, S. 15.

[30] Über den „Beziehungsversuch“ der Soziologischen Systemtheorie und der Politikwissenschaft, siehe auch Kapitel 4.

[31] Luhmann äußert sich sehr kritisch über das „(...) hochziehen und für das Ganze verkaufen“ von einzelnen Gesichtspunkten der Gesellschaft: „(...) nämlich dass es nur darauf ankommt, und nicht auf etwas anderes.“ Siehe Luhmann 2005b, S. 38. Im Zusammenhang mit Informationsgesellschaft und Risikogesellschaft verweist Luhmann auch auf die problematische Form dieser Begriffe und folgert schlüssig: „Beachtet man die Form dieser Begriffe, also auch das, was sie als ´andere Seite´ mitführen, aber nicht bezeichnen, wird der Tiefgang, aber zugleich auch die Begrenztheit, dieser Selbstbeschreibungsformeln deutlich.“ Luhmann 1997, S. 1093.

[32] Rucht 1999, S 15. Ein paar Seiten weiter merkt Rucht sogar an, dass das Verschwinden des „Projektes der Gesellschaft“ von der historischen Tagesordnung aus guten Gründen stattfand, um den „Projekten in der Gesellschaft“ mehr Platz einzuräumen. Vgl. Rucht 1999, S. 24. Siehe dazu auch Klaus Eder, der in der vorangetriebenen Problemthematisierung und der Institutionalisierung von Issues das Indiz einer „Bewegungsgesellschaft“ sieht. Vgl. Eder 1999, S. 28. Über die Begriffsgeschichte der Bewegungsgesellschaft, ebenda S. 44 (Fn).

[33] Um diese besagte Vielseitigkeit etwas zu veranschaulichen, sei hier ein kurzer Auszug der lexikalischen Erörterung des Begriffes angeführt: „(...) Begriff, dessen unmittelbare Bedeutungen schwanken zwischen gegenwärtig´ (im Ggs. zu ´vorherig), ´neu´ (im Ggs. zu ´alt´) und ´vorübergehend´(...). 1. Was ´modern heißt, bestimmt sich in einem zeitlichen Rahmen; das qualitative Verhältnis von Alt und Neu scheint bes. wichtig. ´Modern´ kann heißen, (a) dem jeweils Neuen vor dem bisherigen Alten den Vorzug zu geben (s. die zeitlose Reihe der Moden), (b) das Neue als Fortsetzung des Alten und zugleich als Fortschritt über das Alte hinaus aufzufassen (so die moderni des 12. Jh.), (c) dann aber auch – gegen alles Alte – das Neue als Anfang überhaupt und von Grund auf zu begreifen (so das neuzeitliche Selbstbewußtsein seit dem 17. Jh.). Seit diesem epochalen Bruch entfaltet die M. eine Dynamik, die ihr zentrales Charakteristikum jenseits aller inhaltlichen Spezifik darstellt. Sie entwickelt Programme zu ihrer Gestaltung und wendet sich reflexiv auf sich selbst zurück, um daraus neue Modernitätsschübe zu gewinnen. Solche Selbstthematisierungen dienen einerseits der affirmativen Selbstvergewisserung; andererseits stellen sie das bisherige Modernisierungsniveau immer radikaler in Frage, wobei auch Rückgriffe auf ´vormoderne´ Positionen in das Kritikpotential einbezogen werden können. (...).“ Nohlen et al. 1998, S. 395f.

[34] Über den Modernitätsbegriff im Kontext „Individuum und Gesellschaft“ und den systemtheoretischen Ansatz dazu, siehe auch Kneer/Nassehi 2000, S. 158f.

[35] „(...) Karl Marx sah in der Gegensätzlichkeit oder `Naturwüchsigkeit` der kapitalistischen Wirtschaft den eigentlichen Skandal der Moderne (...).“ Wimmer 1996, S. 401f.

[36] Vgl. Dvořák 1997, S 14; 2005, S. 45.

[37] Um in diesem Zusammenhang eine Anmerkung über die Globalisierung vorwegzunehmen: „Die Globalisierungserzählung erweist sich damit als Fortsetzung der Modernisierungserzählung, da sie eine weitere Runde von Herauslösungsprozessen auslöst, die nun nicht mehr nur die lokalen Verbände und Beziehungen sprengt, sondern auch die nationalen Bezüge unterläuft und für globale Verbindungen öffnet.“ Schroer 2006, S. 27.

[38] "Die Radikalität sozialer Bewegungen in der historischen Moderne zeigt sich zum einen darin, daß ihnen die Tradition nicht länger als heilig gilt. Tradition ist nicht mehr eine in sich geschlossene und als Ganze legitime Ordnung, sondern wird entzaubert und verfügbar.“ Rucht 1999, S. 17.

[39] Dvořák 1997, S. 15.

[40] Über den Hoffnungsbegriff im Zusammenhang mit der Moderne schreibt der Wiener Philosoph Alfred Pfabigan: „Ein Amalgam von Untergangsgefühlen und großen Hoffnungen, eine auf beiden Pole `Ende` und ` Wende` bezogene Grundstimmung, stellt ein zentrales Merkmal der letzten Jahrhundertwende dar.“ Pfabigan 2000, S. 7. In der Ambivalenz in der kulturellen Selbstbeschreibung der Moderne sieht Nassehi eine „(...) titanische Selbstüberschätzung und die paralysierende Verunsicherung.“ Nassehi 2002, S. 39. Dies sind (für Nassehi) die zwei Wurzeln, welche die Selbstbeschreibung der modernen Kultur begleitet haben. Vgl. Nassehi 1999, S. 29.

[41] Wie Ulrich Beck das globale Zeitalter beschreibt. Vgl. Beck 2002.

[42] Hier kann schon auf eine im Anhang dieser Arbeit befindlichen Auflistung (Tabelle 5) der Slogans und Leitlinien unterschiedlichster globalisierungskritischer Bewegungen verwiesen werden.

[43] Nassehi 2002, S. 39 [Hervorhebung im Original].

[44] Rucht 1994, S. 77.

[45] Klaus Eder referiert in seinem Essay „Dialog und Kooperation“ im Zusammenhang mit den sozialen Bewegungen sehr eindrucksvoll über die oft wenig Berücksichtigung findende Diskurskomponente. Dazu: "Es ist auch für soziale Bewegungen rational, sich auf Diskurse einzulassen, und es ist für moderne Gesellschaften funktional, sich auf die dialogische Einbindung sozialer Bewegungen einzulassen.“ Eder 1999, S. 31.

[46] Rucht 1999, S. 17.

[47] Rucht spricht hier von Essenz: "Die Essenz der Moderne besteht - wie betont - darin, Gesellschaft nicht als Verlängerung der Tradition, als gegebene Wirklichkeit, sondern als hergestellte Wirklichkeit aufzufassen.“ Rucht 1999, S. 20. Diesen Ansatz vertiefend, siehe auch Rucht 1994, S. 77.

Ende der Leseprobe aus 171 Seiten

Details

Titel
Die Weltgesellschaft in Bewegung
Untertitel
Neue soziale Bewegungen auf dem Weg zur Transnationalisierung
Hochschule
Universität Wien  (Politikwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
171
Katalognummer
V80535
ISBN (eBook)
9783638841214
ISBN (Buch)
9783638841290
Dateigröße
1585 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Weltgesellschaft, Bewegung
Arbeit zitieren
Mag. Christoph Virgl (Autor:in), 2007, Die Weltgesellschaft in Bewegung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80535

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