Perspektiven der Demokratie in der Russischen Föderation


Magisterarbeit, 2007

134 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsübersicht

1. Einleitung

2. Politische Kultur nach Lenin – Charakteristika postkommunistischer Systemtransformation
2.1. Transformation der Sowjetunion
2.2. Stabilität politischer Systeme
2.2.1. Kongruenz von Struktur und Kultur
2.2.2. Politische Kultur und empirische Politikforschung
2.2.3. Spezifika postkommunistischer politischer Kultur
2.3. Politische Kultur als Determinante der Demokratisierung

3. Russlands „gelenkte Demokratie“ –
Theorie und Praxis russischer Innenpolitik
3.1. Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit
3.1.1. Die demokratische Verfassung Russlands
3.1.2. Das präsidentiell-parlamentarische Regierungssystem
3.1.3. Verfassungswirklichkeit unter dem Regime Putin
3.2. Demokratische Qualität in der Russländischen Föderation
3.2.1. Demokratie in Grauzonen
3.2.2. Messung der Demokratiequalität
3.3. Zusammenfassung: Die politische Struktur Russlands

4. Die politische Kultur der Russländischen Föderation
4.1. Subjektive Messung politischer Unterstützung
4.2. Politische Unterstützung in Russland
4.2.1. Werte und Prinzipien
4.2.2. Politische Institutionen
4.2.3. Performanz des Regimes Putin
4.3. Zusammenfassung: Politische Unterstützung in Russland

5. Perspektiven der Demokratie

6. Zusammenfassung

7. Literaturangaben

Anhang

1. Einleitung

Die gewaltsame Niederschlagung friedlicher Demonstrationen von Putin-Kritikern[1] hat im Frühjahr 2007 weltweite Aufmerksamkeit auf die Innenpolitik der Russländischen Föderation[2] gelenkt. Einerseits schien die harsche Reaktion der Staatsmacht auf öffentlich vorgetragene Regimekritik latente Zweifel an der Demokratiequalität zu bestätigen, die auf diplomatischer Ebene zuweilen verdrängt worden waren. Andererseits könnte die deutliche Reaktion auf diese Protestbewegung die Schwäche des politischen Regimes unter Putin offenbaren, das seine Stabilität nur im Falle völliger gesellschaftlicher Konformität gewährleistet sieht. Diese Einschätzung führte Beobachter zu einem Vergleich mit der Ukraine, wo sich Ende 2004 in Reaktion auf Wahlfälschungen und die autoritäre Herrschaftspraxis des Kučma-Regimes[3] eine Massenbewegung für Demokratie formte (vgl. Simon 2005). Eine Art „Revolution in Orange“ wolle die Kreml-Führung unter allen Umständen verhindern, sagte der ehemalige deutsche Botschafter in Moskau, Ernst-Jörg von Studnitz, in einem Radio-Interview. Das harte Durchgreifen gegen „doch marginale Regungen demokratischen Selbstbewusstseins“ sei insofern als präventive Maßnahme zu verstehen (Deutschlandfunk, 17.04.2007).

Hat die Kreml-Führung eine „bunte Revolution“ zu erwarten wie sie seinerzeit in der Ukraine stattfand? Ein erster Blick fällt skeptisch aus: In Kiev demonstrierten Hunderttausende für Demokratie, bei den russischen Frühjahrsdemonstrationen standen jeweils weniger als 2.000 Regimekritiker einer ungleich höheren Zahl polizeilicher Einsatzkräfte gegenüber (vgl. Siebert 2007). Während die Ukraine unter Präsident Kučma über ein instabiles Regime verfügte, das eine langjährige Stagnation der Wirtschaftsentwicklung zu verantworten hatte (vgl. Simon 2005), vermittelte das russische Regime unter Vladimir Vladimirovič Putin bis dahin den Eindruck einer relativ stabilen innenpolitischen Entwicklung. Vor allem vollzog sich seit Putins Eintritt in die russische Spitzenpolitik im August 1999 ein wirtschaftlicher Aufschwung, den die Kreml-Führung in ihrer Selbstdarstellung zu nutzen vermag: Das Bruttoinlandsprodukt ist von 1999 bis 2005 um 57 Prozent gewachsen, die Inflationsrate sank von über 80 Prozent im Jahr 1999 auf knapp über 10 Prozent in 2005 (vgl. Clement 2006: 20-21), das Realeinkommen stieg im Jahr 2006 wiederholt um etwa 10 Prozent (vgl. Schröder 2007: 2). Mehr als einen ersten skeptischen Eindruck hinsichtlich der Chancen für eine „bunte Revolution“ vermitteln diese Eckdaten allerdings nicht. Um zu einer wissenschaftlich tragfähigen Einschätzung des gesellschaftlichen Veränderungspotenzials zu kommen, müssen Einstellungsdispositionen innerhalb der Bevölkerung untersucht werden. Die sozialpsychologischen Einstellungen und Orientierungen innerhalb der Bevölkerung eines Landes werden als „Politische Kultur“ bezeichnet, die einen entscheidenden Einfluss auf Stabilität und Wandel eines jeweiligen politischen Systems ausübt (vgl. Almond/Verba 1963). Die Untersuchung der politischen Kultur in Russland steht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Dabei beziehen sich die politisch-kulturellen Einstellungsdispositionen auf die politische Struktur, die als Bezugsobjekt politischer Kultur sowohl in ihrer verfassungsrechtlichen, als auch in ihrer realen Ausgestaltung untersucht werden wird.

Zentrale Fragestellung dieser Arbeit ist jene nach den Perspektiven der Demokratie in der Russländischen Föderation. Dem Ansatz der politischen Kulturforschung folgend, müssen politische Kultur und politische Struktur eines Landes in einer Kongruenzbeziehung zueinander stehen, damit die implementierte Herrschaftsordnung als dauerhaft und stabil bezeichnet werden kann (vgl. Almond/Verba 1963; Fuchs 2002). In etablierten Demokratien müsste dies bedeuten, dass essenzielle Werte und Prinzipien demokratischer Ordnungen – so wie Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit oder Gewaltenteilung – mit den Wertepräferenzen der Bevölkerung weitgehend übereinstimmen. Doch die Russländische Föderation verfügt gegenwärtig über kein demokratisches Regime – diese Arbeitshypothese wird bereits im Titel der Arbeit implizit angedeutet, sie wird im dritten Kapitel empirisch nachgewiesen werden. In diesem Zusammenhang wird auch dargestellt, dass in Russland stattdessen ein autoritäres Regime regiert, dessen demokratische Verfassung lediglich zur Legitimierung des Machtanspruchs herangezogen und in der Regierungspraxis vielfach umgangen wird.

Theoretisch ist daher nicht nur die Frage nach der Stabilität der gegenwärtigen autoritären Regimeordnung von Bedeutung, sondern vielmehr deren Veränderungspotenzial. Perspektiven der Demokratie sind dann zu erwarten, wenn demokratische Einstellungen und Orientierungen der Bevölkerung einer nicht-demokratischen Regimestruktur inkongruent gegenüberstehen. Umgekehrt muss sich eine breite Unterstützung des aktuellen nicht-demokratischen Regimes negativ auf die Perspektiven der Demokratie auswirken. In der vorliegenden Untersuchung soll daher folgenden beiden Fragen nachgegangen werden: (1) Verfügt die politische Kultur über Einstellungen und Orientierungen, die eine demokratische Herrschaftsordnung ermöglichen könnten? (2) Wie stabil ist das gegenwärtig implementierte autoritäre Regime auf der Basis kongruenter Einstellungen und Orientierungen innerhalb der Bevölkerung? Die empirische Analyse beider Aspekte der politischen Kultur bildet die Grundlage einer soliden Einschätzung der Perspektiven der Demokratie in der Russländischen Föderation.

Ein stabiles Russland ist für die internationale Staatengemeinschaft von essenziellem Interesse. Es handelt sich um ein rohstoffreiches und ökonomisch wichtiges Land, das eng in die Weltwirtschaft integriert ist. Überdies verfügt Russland über das weltweit zweitgrößte Nuklearwaffenarsenal und besitzt als Regionalmacht ein beachtenswertes Konfliktlösungspotenzial im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Wiewohl kurzfristig eine wirtschaftlich stabile Entwicklung erreicht werden konnte (vgl. Clement 2006), ist langfristige Stabilität lediglich im Rahmen einer funktionierenden demokratischen Ordnung zu erwarten (vgl. Merkel 1999: 57-67). Demokratien zeichnen sich gegenüber autoritären Regimen durch eine höhere politische Produktivität, eine tendenziell leistungsfähigere Ökonomie, effektivere Gewährleistung politischer Rechte und individueller Freiheiten, Lern- und Anpassungsfähigkeit, ein hohes Problemlösungspotenzial, sowie Friedens- und auch Verteidigungsfähigkeit aus (vgl. u.a. Almond/Powell 1996; Huntington 1996; Schmidt 1998, 2000). In der Summe bezeichnet Diamond (1999) Demokratie als „generally a good thing“ (Diamond 1999: 2) – eine normative Bewertung, die auch dieser Arbeit zu Grunde liegt. Auf objektive Argumente für Demokratie muss gerade in Russland deutlich hingewiesen werden, denn die Notwendigkeit der Umsetzung demokratischer Reformen wird in diesem über Jahrhunderte autoritär und totalitär geführten Land auch in akademischen Diskursen keineswegs als selbstverständlich erachtet (vgl. u.a. Ševcova 2006: 3-4; Petuchov 2007: 73). Wiewohl Demokratie in der vorliegenden Untersuchung eine positive Konnotation erfährt, soll ein Demokratie-Determinismus vermieden werden. Die implizite Annahme in zahlreichen Demokratisierungsstudien, wonach eine stabile, konsolidierte Demokratie das nahezu zwangsläufige Resultat von Transformationsprozessen sei, erscheint angesichts einer Vielzahl formal demokratischer Systeme mit unübersehbaren demokratischen Defiziten unplausibel. Zu den zahlreichen Beispielen gescheiterter Demokratisierungen zählen im postsowjetischen Raum in erster Linie Belarus (vgl. Förster 1998) und Azerbajdžan (vgl. Babayev 2006). Dass auch in der Russländischen Föderation im Untersuchungszeitraum (2000 bis 2006) ein autoritäres Regime errichtet wurde, schließt keineswegs per se die Möglichkeit aus, dass sich in Zukunft eine demokratische politische Ordnung herausbildet. Basis einer solchen Entwicklung hin zur Demokratie müsste eine demokratisch gelagerte politische Kultur sein.

Der Hauptteil der vorliegenden Untersuchung wird in folgende Kapitel gegliedert. Im zweiten Kapitel wird das Konzept der politischen Kultur als theoretischer Rahmen vorgestellt und im Hinblick auf die Spezifika postkommunistischer Systemtransformationen diskutiert. Ein Zuschnitt auf die Besonderheiten der postkommunistischen Systemtransformation ist mit Blick auf Russland von entscheidender Bedeutung. Das Konzept der politischen Kultur nach Almond und Verba (1963) bezieht sich als Analyserahmen explizit auf sämtliche politische Systeme, findet aber meist zur Untersuchung demokratischer politischer Systeme Anwendung (vgl. Pickel/Pickel 2006: 52). Darum wird auf konzeptionelle Weiterentwicklungen zurückgegriffen, mit deren Hilfe der Ansatz der politischen Kulturforschung für eine empirisch-analytische Untersuchung der russländischen politischen Kultur anwendbar wird. Im Vordergrund des dritten Kapitels steht zunächst die Darstellung der Verfassungsnorm der Russländischen Föderation, die die Politik strukturieren und anleiten sollte. Im Anschluss daran wird deren faktische Umsetzung in der Realität betrachtet. Die Qualität der Demokratie in Russland wird mit Hilfe qualitativer Analysen der Organisation „Freedom House“ bewertet; auf der Basis dieser Ergebnisse kann der Regimetyp entsprechend einer Typologie nach Diamond (1999) ermittelt werden. Ergebnis soll eine möglichst objektive Darstellung der politischen Struktur Russlands sein, auf die subjektive Einstellungen und Orientierungen der politischen Kultur bezogen werden. In Kapitel 4 wird politische Unterstützung als zentrale Einstellungskomponente politischer Kultur untersucht. Dabei kann auf Umfragedaten des Moskauer Sozialforschungszentrum Jurij Levada zurückgegriffen werden. Im fünften Kapitel wird politische Kultur in Bezug auf die politische Struktur bewertet, um daraus Perspektiven einer demokratischen Entwicklung in Russland ableiten zu können. In dem inhaltlich abschließenden sechsten Kapitel wird eine Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse vorgenommen, der sich ein Ausblick auf weitere Forschungsperspektiven anschließt.

2. Politische Kultur nach Lenin – Charakteristika postkommunistischer Systemtransformation

2.1. Transformation der Sowjetunion

Infolge des Zerfalls der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) sind Anfang der 1990er Jahre über zwei Dutzend souveräner Staaten entstanden, die sämtlich mit der Herausforderung einer Systemtransformation konfrontiert wurden (vgl. Linz/Stepan 1996: 440-441; Parrott 1997: 1). So bezeichnet die politikwissenschaftliche Forschung „die Implementation eines umfassenden institutionellen Netzwerkes, das die Handlungsmöglichkeiten der Akteure unabhängig von deren Deutungszusammenhängen, Einstellungen und Kompetenzen sowie ungeachtet von Qualität und Quantität der stofflichen und finanziellen Ressourcen zwanghaft und dauerhaft strukturieren und keiner ernsthaften Revision unterliegen kann“ (Brie 1995: 48). Die heuristische Attraktivität des Begriffs „Systemtransformation“ liegt darin, dass darunter nicht allein politische, sondern u.a. auch ökonomische und kulturelle Transformationsprozesse subsumiert werden können (vgl. Merkel 1999: 73). Politische Unterstützung bezieht sich primär auf das politische System, das aber beispielsweise mit dem ökonomischen Teilsystem in einem strukturellen Zusammenhang steht (vgl. Easton 1965: 25). Der Systemebene untergeordnet ist ein politisches Regime, bezeichnet als „die formelle und informelle Organisation des politischen Herrschaftszentrums einerseits und dessen jeweils besonders ausgeformte Beziehungen zur Gesamtgesellschaft andererseits“ (Merkel 1999: 71). Regime definieren und strukturieren Herrschaftszugang, Machtbeziehungen und das Verhältnis zu den Herrschaftsunterworfenen (vgl. Merkel 1999: 71). Ihrem Handlungsrahmen sind auch Regierungen unterworfen, die in der Regel ohne schwerwiegende Erschütterung der Herrschaftsstruktur ausgewechselt werden können (vgl. Merkel 1999: 71).

Häufig wird der Transformationsbegriff mit „Demokratisierung“ verknüpft, wenn die Implementation und Stabilisierung einer demokratischen politischen Ordnung das normative Ziel einer Systemtransformation ist (vgl. u.a. Huntington 1991; Remington 1997; Rüb 1996; Merkel/Puhle 1999; Merkel u.a. 2003). Unterschieden werden im Wesentlichen zwei Phasen der Demokratisierung: Die Transitionsphase mit der Absetzung eines autoritären Regimes und der Einführung demokratischer Strukturen (vgl. O’Donnell/Schmitter 1986: 6), sowie die Phase demokratischer Konsolidierung, in deren Verlauf sich Einstellungen zur Demokratie tief in den Orientierungssystemen von Elite und Bevölkerung verankern und die Demokratie gegen autoritäre Rückentwicklungen abgesichert wird (vgl. Linz/Stepan 1996: 5-7; Schedler 1998: 91).[4] Allerdings sind die beiden idealtypischen Phasen analytisch schwer voneinander abzugrenzen. So kann Konsolidierung in einzelnen Dimensionen – etwa auf der Ebene des Parteiensystems – bereits fortgeschritten sein, bevor die Transitionsphase mit der Verabschiedung und Inkraftsetzung einer demokratischen Verfassung abgeschlossen ist (vgl. Merkel 1999: 143; Merkel u.a. 2003: 21). Deswegen wurde vorgeschlagen, Transition und Konsolidierung als ineinander übergreifende Phasen zu betrachten (vgl. Krennerich 2002; Jacobs 2004). Dies erscheint umso sinnvoller, als dass insbesondere im postsowjetischen Raum eklatante Unterschiede hinsichtlich des Fortschritts demokratischer Transition und Konsolidierung zu beobachten sind: Das autoritäre Regime Turkmenistans etwa scheint abgesehen von der kommunistischen Vergangenheit kaum Gemeinsamkeiten aufzuweisen mit jenen Ostmitteleuropas, die in der Regel als konsolidierte Demokratien betrachtet werden und in die Strukturen der Europäischen Union eingebunden sind (vgl. Linz/Stepan 1996: 235 ; Parrott 1997: 2). Und wie das Beispiel der postsowjetischen Republik Belarus verdeutlicht, ist selbst nach der Implementierung demokratischer Strukturen eine Rückentwicklung zu einer repressiven Form des Autoritarismus nicht auszuschließen (vgl. Förster 1998; Steinsdorff 2004). Insofern sollte die Entwicklungsrichtung der Transformationsprozesse undeterminiert bleiben. Bereits in der klassischen Transitionsstudie nach O’Donnell und Schmitter (1986) wurde die Richtung einer Transition offen gelassen, indem diese Phase sowohl mit der Installation von „some form of democracy“, als auch mit dem „return to some form of authoritarian rule“ als abgeschlossen betrachtet wurde (O’Donnell/Schmitter 1986: 6). Dass diese Formulierung der Abgrenzung der Transitions- von der Konsolidierungsphase sehr viel Interpretationsspielraum lässt, unterstreicht die Notwendigkeit der Betrachtung von Transition und Konsolidierung als komplexe und verschränkt verlaufende katalytische Prozesse der Systemtransformation (vgl. Rose u.a. 1998: 7).

Die Etablierung einer stabilen Demokratie anstelle eines nicht-demokratischen Regimes ist zweifellos das normativ wünschenswerte Ergebnis einer Systemtransformation. Doch Demokratisierung als „geschichtsnotwendige Einbahnstraße“ (Sandschneider 1995: 37) zu betrachten, wäre schon angesichts der demokratischen Realität im postkommunistischen Raum vermessen (vgl. Parrott 1997; Wiest 2006). Der angedeutete „democratizing bias“ (Levitsky/Way 2002: 51), die Zwangsläufigkeit der Entwicklung von Transformationsstaaten hin zu demokratischen Systemen, wurde zuweilen als teleologisch kritisiert (vgl. O’Donnell 1996: 38; Carothers 2002: 7). Denn die demokratietheoretische Substanz einer politischen Ordnung kann sich im Laufe einer Systemtransformation signifikant verändern (vgl. Mishler/Rose 2001: 304). Gerade deswegen ist eine präzise Bestimmung potenzieller Ergebnisse einer Systemtransformation zwingend erforderlich. Dabei geht es vor allem um eine Abgrenzung demokratischer von nicht-demokratischen politischen Regimen, die eine Minimaldefinition von Demokratie leisten kann. Nach Ansicht von Przeworski u.a. (1997: 59) meint Demokratie nach minimalen Kriterien „a regime in which governmental offices are filled as a consequence of contested elections“. Diese sparsame Definition steht in der Tradition der realistischen Schule Schumpeters. Die minimalistische Definition greift Wahlen als Kriterium auf, ohne diese aber in einen demokratischen Rahmen einzubinden. Dies wurde als Überbewertung von Wahlen mit dem Vorwurf der „fallacy of electoralism“ (Karl 1995: 73) kritisiert. Tatsächlich regieren in einigen Transformationsgesellschaften autoritäre Regime, die ihren Machtanspruch durch Wahlen legitimieren (vgl. Diamond 2002: 25; Levitsky/Way 2002: 52; Schedler 2002: 36). Insofern ist nicht allein die Durchführung von Wahlen an sich, sondern vielmehr deren demokratischer Charakter entscheidend für die theoretische Konzeption von Demokratie. Darum erweitert Diamond (1999: 10) die demokratietheoretischen Anforderungen an Wahlen, indem er „a civilian constitutional system in which the legislative and chief executive offices are filled through regular, competitive, multiparty elections with universal suffrage“ als Demokratie nach minimalen Kriterien – konkret als „electoral democracy“ – bezeichnet. Implizit wird damit die minimale Garantie essenzieller politischer Rechte und bürgerlicher Freiheiten wie das Versammlungsrecht und die Meinungs- und Informationsfreiheit vorausgesetzt, ohne die der kompetitive Charakter von Wahlen kaum realisierbar wäre (vgl. Diamond 2002: 21-22). Dies führt zu Überlappungen mit Dahls (1971; 1989) Konzept der „Polyarchy“ als der in der Realität vorstellbaren Demokratie, in der Freiheiten als charakteristische Institutionen explizit festgeschrieben sind.[5] Im Unterschied zu diesen minimalistischen Kriterien der Demokratie stellt Diamond (1999: 10-11-12) an eine idealtypische „liberal democracy“ hohe Anforderungen: Neben demokratischen Wahlen müssen rechtsstaatliche Verhältnisse, Grund- und Menschenrechte, sowie Gewaltenteilung garantiert werden. Letztere muss demokratisch nicht legitimierte Akteure von den Machtstrukturen kategorisch ausschließen und die Exekutivmacht institutionell beschränken (vgl. Diamond 1999: 10). Die Gegenüberstellung „schlanker“ und „robuster“ Demokratiedefinitionen, hier also von Wahldemokratien und liberalen Demokratien, ermöglicht die Betrachtung von Demokratie als ein sich entwickelndes Phänomen (vgl. Schedler 1998: 104; Diamond 1999: 18): So wie ein demokratisches Regime ein „Mehr“ an Demokratie etwa durch den Ausbau politischer Rechte und bürgerlicher Freiheiten erreichen kann, ist auch eine Negativentwicklung hinsichtlich der Demokratiequalität theoretisch möglich – etwa infolge des Zusammenbruchs demokratischer Institutionen. Insofern warnt Diamond (1999: 19): „There is no guarantee that democratic development moves in only one direction, and there is much to suggest that all political systems (including democracies, liberal or otherwise) become rigid, corrupt, and unresponsive in the absence of reform and renewal.“ Auf die Qualität der Demokratie in der Russländischen Föderation soll in Kapitel 3.2. eingegangen werden.

In den rund 20 postkommunistischen Transformationsstaaten sind und waren jeweils unterschiedliche Verlaufsformen, Dynamiken und Ergebnisse der Transformationsprozesse zu beobachten (vgl. Parrott 1997: 13). Doch die Ausgangslage wies in der Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion in den Nachfolgestaaten ähnliche Muster auf. Nach O’Donnell und Schmitter (1986: 6) können in der Modifizierung von Regeln und Verfahren durch die autoritären Machthaber die Zeichen für den Beginn einer Transition gesehen werden. Insofern sind die Reformprojekte Michail Gorbačëvs der Ausgangspunkt postkommunistischer Systemtransformation. Mit „perestrojka“ (Umbau) und später „glasnost'“ (Offenheit) versuchte der Parteichef auf die existenzielle Systemkrise der Sowjetunion zu reagieren, doch entwickelten die Reformen eine „dem Autor ungewollte systemsubversive Eigendynamik“ (Maćków 2005: 71, 75). Die unintendierte Folge war die Machterosion der sowjetischen Führung und schließlich Autonomie- und Unabhängigkeitsproklamationen in sämtlichen Staaten und Teilrepubliken des sowjetischen Einflussbereichs bis Ende 1991 (vgl. Maćków 2005: 71-75). Die Unterschiede der Transformationsprozesse in der Transitionsphase sind auf spezifische Akteurskonstellationen zurückzuführen, denn deren konkrete Ausgestaltung „is strongly influenced by the attitudes and strategies of elites and the character of the parties and other institutions through which they vie for power“ (Parrott 1997: 21). Aber auch die Stärke der Opposition, das Ausmaß politischer Partizipation oder die Rolle der alten Eliten wirkten sich auf die konkrete Gestaltung der Transition aus (Parrott 1997: 13-15; vgl. auch White u.a. 1993).

Nach dem Austritt aus der Sowjetunion erreichten viele der neuen postkommunistischen Regime mit der Inkraftsetzung einer demokratischen Verfassung ein wichtiges Etappenziel auf dem Weg zur Demokratie (vgl. Elster u.a. 1998: 63; Merkel 1999: 143; Maćków 2005: 93). Inwieweit aber in der Folge eine Stabilisierung der neuen politischen Systeme erreicht werden konnte, bleibt theoretisch schwer bestimmbar. Insofern ein Regime, das eindeutig einer Entwicklung hin zur liberalen Demokratie unterliegt, Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung ist, wird Stabilität[6] in der Regel mit dem Abschluss der Konsolidierung erwartet. Diese gilt als abgeschlossen, wenn Demokratie „only game in town“ (Linz/Stepan 1996: 5) ist. Nach einem Kriterium von Huntington (1991: 266-267) kann demokratische Konsolidierung nach zwei aufeinander folgenden gewaltfreien Regierungswechseln als erfolgreich betrachtet werden. Diamond (1999: 65) verknüpft Stabilität mit dem Begriff der Konsolidierung, welche er mit der tiefen Verankerung demokratischer Regeln und Verfahren sowohl auf der Ebene der Bevölkerung, als auch auf der Ebene der Eliten und intermediären Organisationen, als abgeschlossen bezeichnet. Wie „tief” diese Regeln und Verfahren in den Einstellungssystemen der Bevölkerung verankert sein müssen, damit von einer stabilen konsolidierten Demokratie gesprochen werden kann, vermag Diamond aber nicht zu konkretisieren. Bezogen auf demokratische Systeme mag eher eine graduelle Bestimmung von Konsolidierung weiterhelfen, wie sie von Fuchs und Roller (2006: 73) vorgeschlagen wurde: „The more the attitudes and the behaviour of political elites, organizations (in this case attitudes have to be replaced by programs), and citizens comply with the normative expectations of democracy, the more democracy is consolidated.“

Allgemein formuliert sind in der Konsolidierungsphase nach der Implementierung von institutionellen Spielregeln vor allem die Einstellungen von Bevölkerung und Eliten im Hinblick auf die Struktur eines neuen politischen Systems entscheidend (vgl. Maher 1997: 79; Parrott 1997: 22). Dies ist auch der Kerngedanke der politischen Kulturforschung, aus der viele Konsolidierungsstudien hervorgegangen sind. Dabei wird jedoch die Entwicklungsrichtung der Systemtransformation undeterminiert gelassen. In Anbetracht der Möglichkeit potenziell stabiler nicht-demokratischer politischer Regime (vgl. u.a. Pickel/Pickel 2006: 54; Carothers 2002: 9; Diamond 2002: 23) wird in dieser Arbeit der Ansatz politischer Kultur verwendet, der im folgenden Kapitel ausführlich vorgestellt wird.

2.2. Stabilität politischer Systeme

Im Rahmen der Systemtransformation werden neue politische Strukturen implementiert, die als „patterns of roles and rules (procedures) relating in differing ways to the production of collectively binding decisions“ (Fuchs/Roller 1998: 39) bezeichnet werden. Inwieweit diese Strukturen die funktionalen Erwartungen erfüllen, hängt jedoch von einer Vielzahl verschiedener Faktoren ab. Die Kohärenz und Effektivität der institutionellen Ordnung betonen die Institutionalisten (vgl. Lijphart/Waisman 1996; Elster u.a. 1998). Das Maß der auf deren Basis erreichten sozioökonomischen Leistungen spielt für die Vertreter der Modernisierungstheorie eine hervorgehobene Rolle für die Stabilität politischer Strukturen (vgl. Lipset 1983). Die „Demokratisierungsforscher“ der 1990er Jahre haben den Blick stark auf den Einfluss institutioneller Designs und deren spezifische Leistungen gelenkt. Dabei wurde einstweilen übersehen, dass ein funktionierendes demokratisches politisches System keineswegs ein „natural by-product of democratic practice or institutional design“ (Diamond 1993a: 7) ist. Entscheidend für die Stabilität eines politischen Systems sind vielmehr die wesentlichen auf eine Struktur bezogenen Einstellungen und Orientierungen innerhalb von Bevölkerung und Eliten, die unter dem Begriff „Politische Kultur“ subsumiert werden (vgl. Parrott 1997: 21). Dieses Forschungsfeld umfasst Versuche, kulturelle Faktoren zur Erklärung der Stabilität und des Funktionierens politischer Systeme heranzuziehen (vgl. Fuchs 2002: 28; Almond 1990: 145). Politische Kultur wird dabei als analytischer Begriff ohne normative Wertung zur Bezeichnung der subjektiven Dimension von Politik verstanden (vgl. Almond 1980: 26). Darunter ist ein „set“ psychologischer Einstellungen und Orientierungen gegenüber politischen Objekten und Prozessen zu verstehen (vgl. Almond/Verba 1963: 13), die kumuliert einen jeder Gesellschaft unterschiedlichen politisch-kulturellen Orientierungsrahmen formen: „Political culture is the set of attitudes, beliefs, and feelings about politics current in a nation at a given time“ (Almond/Powell 1978: 25). Dieser subjektiv-psychologischen Dimension der Politik wird ein Einfluss auf Stabilität und Wandel des politischen Systems zugestanden (vgl. Almond/Verba 1963: 14). Dieser Kerngedanke der politischen Kulturforschung soll in den kommenden Kapiteln ausführlich dargestellt und für die vorliegende Untersuchung anwendbar gemacht werden.

Zunächst wird das Konzept der Politischen Kultur einschließlich zielführender Weiterentwicklungen und Präzisierungen vorgestellt und diskutiert (Kapitel 2.2.1.). Anschließend wird die Verwendbarkeit des Konzepts als theoretischer Rahmen für empirisch-analytische Arbeiten dargestellt. Als Weiterentwicklung ist das Konzept von Fuchs (2002) zu verstehen, dessen Drei-Ebenen-Modell politischer Kultur dieser Arbeit zu Grunde liegt und ausführlicher vorgestellt werden wird (Kapitel 2.2.2.). Dass die politische Kultur in postkommunistischen Staaten wie der Russländischen Föderation spezifischen Restriktionen unterliegt, die theoretische Konsequenzen nach sich ziehen, ist Thema des Kapitels 2.2.3. Im abschließenden Kapitel 2.3. wird die Bedeutung politischer Kultur als Determinante der Demokratisierung zusammenfassend dargestellt.

2.2.1. Kongruenz von Struktur und Kultur

Die Stabilität eines politischen Systems hängt maßgeblich davon ab, ob sich innerhalb einer Bevölkerung bestimmte Einstellungen und Orientierungen gegenüber einem politischen System herausgebildet haben, die mit dessen institutioneller Struktur kongruent sind (vgl. Almond/Verba 1963: 21, 34, 473, 498). Dieses Kongruenzpostulat wurde mit der Pionierstudie über die „Civic Culture“[7] in die Forschung eingebracht und gilt als der „paradigmatische Kern“ der politischen Kulturforschung (Fuchs 2002: 30). Politische Kultur wird dabei als „distribution of patterns of orientation toward political objects among the members of the nation“ (Almond/Verba 1963: 14-15) bezeichnet und somit direkt auf die Struktur bezogen. Denn strukturelle Merkmale charakterisieren analytische Objekte, auf die sich die politisch-kulturellen Einstellungen beziehen. Diese Bezugsobjekte werden in verschiedene Klassen eingeordnet und bezeichnen (1) spezifische Rollen und Strukturen, darunter Legislativ- und Exekutivorgane, (2) Inhaber von Rollen, also etwa die Träger von Exekutive und Legislative, sowie (3) die auf der Basis von Strukturen entstandenen politischen Entscheidungen und deren Träger. Als weiteres Objekt kommt (4) das Individuum als Teilnehmer im politischen Prozess hinzu (vgl. Almond 1990: 143). Die psychosozialen Beziehungen zu diesen Objekten sind internalisiert und beruhen im Wesentlichen auf Sozialisationserfahrungen und Performanz (vgl. Almond 1980: 29). „When we speak of the political culture of a society, we refer to the political systems as internalized in the cognitions, feelings, and evaluations for the population“ (Almond/Verba 1963: 14). Dabei werden drei Modi psychologischer Orientierungen unterschieden (vgl. Almond/Verba 1963: 15): (1) Kognitive Orientierung beruht auf generierten Kenntnissen über und dem Glauben ein politisches System einschließlich der diesem zugrunde liegenden Rollen und deren Inhaber, sowie dessen „Inputs“ und „Outputs“[8] ; (2) affektive Orientierung bezeichnet „feelings“ gegenüber einer politischen Ordnung und dessen Rollen, Akteuren und Leistungen; (3) evaluative Orientierungen sind Meinungen über politische Objekte als Ergebnisse von Evaluationsprozessen. Die Verbindung von individuellen psychosozialen Einstellungen und politischen Objekten bedeutet den Sprung von der Mikro- auf die Makroebene, wo eine politische Ordnung strukturiert ist. Denn politische Objekte sind Makrophänomene eines politischen Systems, für die auf der Mikroebene aggregierte Einstellungsmuster stabilitätsrelevant werden (vgl. Pickel/Pickel 2006: 62).

Auf der Makroebene stellt sich die Frage der Kongruenz von politischer Struktur und politischer Kultur, die erreicht ist, „where political cognition in the population would tend to be accurate and where the affect and evaluation would tend to be favorable“ (Almond/Verba 1963: 21).[9] Die Einstellungen und Orientierungen[10] der Bürger müssen also mit der implementierten Struktur, deren Leistungen und den ihr zugrunde liegenden Werten in Einklang stehen. Ist dies nicht der Fall, droht die Destabilisierung der implementierten politischen Struktur. Almond und Verba (1963: 22) nennen drei potenzielle Einstellungsformen gegenüber einer politischen Struktur: „Allegiance“ bezeichnet positive Einstellungen, was auf die Kongruenz von Struktur und Kultur schließen lässt und die Stabilität gewährleistet. Demgegenüber stellt „alienation“ eine Gefahr für die Systemstabilität dar, indem eine Inkongruenz zwischen politischer Struktur und den Einstellungen der Individuen diagnostiziert wird. Die Bevölkerung mag zwar über Wissen bezüglich der Prozesse und Strukturen verfügen, verbindet dies aber mit einer affektiven Abneigung gegenüber dem politischen System. Der Zustand der „apathy“ ist weder durch positive, noch durch negative Haltungen in Bezug auf eine politische Struktur gekennzeichnet. Die damit verbundene Gleichgültigkeit gegenüber einer politischen Ordnung sollte sich theoretisch weder stabilisierend, noch destabilisierend auf diese auswirken (vgl. Almond/Verba 1963: 20-23). Eine starke Inkongruenz-Beziehung muss nicht zwingend eine Strukturveränderung zur Folge haben. Politische Struktur und Kultur stehen in einer wechselseitigen Einflussbeziehung. Almond (1980: 29) verweist auf eine „(…) relatively open conception of political culture, viewed as causing behavior and structure, as well as being caused by them (…)”. So wie politische Strukturen entlang der Orientierungsmuster der Bevölkerung verändert werden können, ist auch ein Wandel politisch-kultureller Dispositionen etwa auf Grund der Evaluation von Outcomes denkbar. Politische Kultur ist somit „both effect and cause“ (Diamond 1993b: 423) politischer Entwicklung. Darüber hinaus bewirken Einstellungen und Orientierungen nicht unmittelbar Stabilität oder Wandel politischer Strukturen, sondern stellen über politisches Handeln vermittelte Prädispositionen dar (vgl. Almond 1980: 29; Fuchs 2002: 30, 33-34). In umgekehrter kausaler Richtung beeinflussen strukturelle Faktoren die politische Kultur über die Performanz, also die bewerteten Ergebnisse der politischen Prozesse (vgl. Fuchs 1998: 151).

Zur weiteren Präzisierung der Struktur-Kultur-Beziehung unterscheiden Almond und Powell (1978) als Subebenen Politischer Kultur zwischen Policy-, Prozess- und Systemkultur. Almond (1980: 28) definiert letztere wie folgt:

„The system culture of a nation would consist of the distributions of attitudes toward the national community, the regime, and the authorities, to use David Easton’s formulation. These would include the sense of national identity, attitudes toward the legitimacy of the regime and its various institutions, and attitudes toward the legitimacy and effectiveness of the incumbents of the various political roles.”

Diese eng definierte Systemkultur ist für Stabilität und Wandel von Transformationsstaaten von besonderer Relevanz (vgl. Fuchs/Roller 1998: 39). Die Prozessebene bezieht sich im Wesentlichen auf Möglichkeiten politischer Partizipation. Auf die Policy-Ebene fallen Erwartungen insbesondere an politische Autoritäten und deren Leistungen (vgl. Almond/Powell 1996: 44). Vor allem wird mit der Systemkultur explizit die Anbindung an systemtheoretische Überlegungen nach Easton (1965, 1975) ermöglicht, die eine wesentliche theoretische Weiterentwicklung und sinnvolle Präzisierungen für die politische Kulturforschung darstellen.

Easton nimmt die Objekte politischer Kultur auf und schlägt eine präzisere Abgrenzung der Ebenen Gemeinschaft, Regime und Autoritäten vor. Erstere umfasst die der Herrschaftsordnung zugrunde liegenden Werte und Prinzipien. Der Regimeebene werden die institutionellen Strukturen einschließlich ihrer Ressourcen zugeordnet, der Ebene der Autoritäten wird die Verantwortung für die Umsetzung der „Outputs“ zugeschrieben (vgl. Easton 1965: 171, 190, 212). Nicht berücksichtigt wurde damit die Ebene des „self as object“ (Almond/Verba 1963: 16), welche in der engen Definition von Systemkultur keine autonome Rolle spielt. Auf die drei genannten Objektebenen bezieht sich politische Unterstützung, die Easton (1975: 436) definiert als „(…) an attitude by which a person orientates himself to an object either favourably or unfavourably, positively or negatively”. Unterschieden werden spezifische und diffuse Unterstützung. Erstere bezeichnet Orientierungen gegenüber den „Outputs“ eines politischen Systems, wobei diese mit den individuellen Erwartungen verglichen und bewertet werden (vgl. Easton 1975: 438). Die im Sinne der Persistenz[11] theoretisch wichtigere Unterstützungskomponente stellt diffuse Unterstützung dar, die weitgehend unabhängig von „Outputs“ ist und langfristig determinierte Werte und Bindungen an ein politisches System umfasst (vgl. Fuchs 2002: 31). Im Idealfall ist diffuse Unterstützung ein „(...) reservoir of favourable attitudes or good will that helps members to accept or tolerate outputs to which they are opposed or the effects of which they see as damaging to their wants“ (Easton 1965: 273). Diese diffuse Unterstützung beruht erstens auf Vertrauen, das aus der Generalisierung von Output-Erfahrung erwächst (vgl. Easton 1975: 449; Fuchs 2002: 31). Zweitens ist Legitimität eine Quelle diffuser Unterstützung: „It reflects the fact that in some vague or explicit way [the individuum, F.W.] sees these objects as conforming to his own moral principles, his own sense of what is right and proper in the political sphere“ (Easton 1965: 278). Legitimität bedeutet also die Kongruenz des Wertesystems der Individuen mit den der politischen Struktur zugrunde liegenden Werten, was theoretisch zur Unterstützung eines politischen Systems „for its own sake“ (Easton 1975: 444) führt. Insbesondere Faktoren der Sozialisation können diese für die Legitimitätsüberzeugung notwendigen Wertesysteme beeinflussen. Zusammen genommen mit der Vertrauenskomponente entsteht diffuse Unterstützung, die für Stabilität oder Wandel eines politischen Systems von existenzieller Bedeutung sein kann. Allgemein wird Unterstützung als Einstellung betrachtet, die im Sinne der politischen Stabilität mit der Struktur des politischen Systems kongruent sein muss (vgl. Fuchs 2002: 31). Damit knüpft der Ansatz von Easton sinnvoll an die Konzeption Politischer Kultur an. Inzwischen wurde die politische Kulturforschung verstärkt in Forschungsdesigns der empirischen Politikforschung integriert, was im folgenden Kapitel im Anschluss an eine kritische Würdigung des Konzepts der politischen Kultur nach Almond und Verba (1963) dargestellt wird. Mit den Arbeiten von Fuchs (1989, 1998, 1999a, 1999b, 2002) wird das empirisch-analytische Konzept vorgestellt, das dieser Studie zugrunde liegt.

2.2.2. Politische Kultur und empirische Politikforschung

Vor allem in Rekurs auf das Ursprungskonzept der politischen Kulturforschung wurde in den vergangenen Jahren eine Reihe an Kritikpunkten vorgetragen, die hier nur ansatzweise aufgegriffen werden können. Grundsätzlicher Art sind die Einwendungen aus handlungstheoretischer sowie kulturalistischer Perspektive, die das Erklärungspotenzial kultureller gegenüber rationalen Aspekten generell in Frage stellen bzw. eine Reduzierung des Kulturbegriffs auf politische Einstellungen ablehnen (vgl. Pickel/Pickel 2006: 101-107). Vertreter beider Schulen bemängeln mit einiger Berechtigung die begriffliche Unbestimmtheit des Konzepts der politischen Kultur (vgl. Elkins/Simeon 1979: 137; Reisinger 1995: 329). Zweifellos sind präzise Begriffe und klare Abgrenzungen zwingend notwendig. Dies gilt umso mehr, wenn politische Kultur – wie auch in der vorliegenden Arbeit – als theoretischer Rahmen empirisch-analytischen Untersuchungen zugrunde gelegt wird. Ein solcher Trend ist in der politikwissenschaftlichen Forschung zu beobachten (vgl. Pickel/Pickel 2006: 56); gerade in Studien über die Transformation postkommunistischer Systeme wird häufig auf den politischen Kulturansatz zurückgegriffen (vgl. Fuchs 2002: 28). Die Attraktivität des Konzepts liegt offenbar in der Verknüpfung von Mikro- und Makroebene über den methodischen Zugang der quantitativen Umfrageforschung (vgl. Kaase 1983: 155). Durch den Schluss von der Mikro- auf die Makroebene lassen sich empirisch gestützte Prognosen bezüglich Stabilität und Wandel politischer Systeme begründen (vgl. Fuchs 2002: 27). Mit der Erfassung der Einstellungsstrukturen von Individuen als psychosozial-kulturelle Komponente sozialer Wirklichkeit über quantitative Umfragedaten nimmt die politische Kulturforschung einen behavioristischen Charakter an.

Eine erfolgreiche Umsetzung des Konzepts der Politischen Kultur schien jedoch fraglich, solange die Probleme der präzisen Definition mit dem Ziel der Operationalisierung politischer Kultur nicht gelöst werden konnten. In Anbetracht dessen resümierte Reisinger (1995: 329) kritisch: „Political Culture remains not more than a rubric under which different authors focus on different individual orientations, employ different measures and different methods of aggregating the orientations, then test different propositions about the links between those individual orientations and politics.“ Abgrenzungsprobleme sind vor allem mit der Ursprungskonzeption verbunden. Almond und Verba (1963: 16) spezifizieren vier Objektebenen, auf die sich drei Arten der Orientierung beziehen. Daraus formt sich eine Matrix mit zwölf Zellen unterschiedlicher Einstellungskategorien, die sich kaum analytisch differenzieren ließen (vgl. Fuchs 2002: 29-30). Als analytisches Raster für die empirische Untersuchung ist die Objektkategorisierung folglich wenig geeignet. Die von Easton (1965) vorgeschlagene Klassifizierung in Gemeinschaft, Regime und Autoritäten erscheint zwar trennschärfer. Doch indem der Autor der Regimeebene über institutionelle Merkmale hinaus auch die ihnen zugrunde liegenden Wertestrukturen per definitionem zur Evaluation stellt (vgl. Easton 1965: 193), wird die strikte Zuteilung von Orientierungen gegenüber Werten auf der einen und Institutionen[12] auf der anderen Seite unscharf (vgl. Westle 1989: 75; Fuchs 2002: 30).

Um eine Weiterentwicklung des Konzepts politischer Kultur hat sich insbesondere Dieter Fuchs (1989, 1998, 1999a, 1999b, 2002) bemüht (vgl. Pickel/Pickel 2006: 112). Dessen Vorschlag eines Drei-Ebenen-Modells politischer Kultur liegt auch der vorliegenden Untersuchung zugrunde. Fuchs nimmt zunächst den oben angesprochenen Kritikpunkt der kaum operationalisierbaren Objektklassifizierung auf. Als Objektebenen Politischer Kultur schlägt er die Dimensionen Kultur, Struktur und Prozess vor (vgl. Fuchs 1999b: 165; Fuchs 2002: 36-38). Die der Hierarchie nach höchste Objektebene der Kultur umfasst die einem politischen System zugrunde liegenden politischen Werte. Auf die mittlere Strukturebene konzentrieren sich Einstellungen gegenüber dem politischen Regime, das durch die zugrunde liegende institutionelle Struktur bestimmt wird. Die Prozessebene besteht aus Einstellungen gegenüber den politischen Entscheidungsträgern und deren faktischem Handeln. Auffällig ist die Analogie zur Easton’schen Klassifizierung, doch die Objekt-Differenzierung ist dank einiger Modifizierungen präziser als die von Easton vorgenommene. Auf Grund einer engen institutionalistischen Betrachtung der Strukturebene werden Werte und Prinzipien ausschließlich der Kulturebene zugeordnet, was in Eastons Klassifizierung unscharf blieb. Vor allem verknüpft Fuchs die drei Ebenen über Kausalbeziehungen und stellt deren systemische Konsequenzen dar. Demnach wirken sich sowohl Werte eines politischen Systems in Form von Legitimität, als auch die prozessorientierte Evaluation der Leistung politischer Entscheidungsträger über Vertrauen mittels generalisierter Output-Erfahrung auf die Unterstützung eines politischen Regimes aus (vgl. Fuchs 2002: 37-39). Umgekehrt können Einstellungen gegenüber einem politischen Regime jene auf der Kultur- und auch der Prozessebene beeinflussen.

Wie vorstehend bereits erwähnt wurde, wirkt sich politische Kultur nicht direkt auf die politische Struktur aus, sondern lediglich vermittelt über politisches Handeln aus. Eine inkongruente Struktur-Kultur-Beziehung, die sich durch fehlende politische Unterstützung äußert, führt demnach nicht unmittelbar zum Regimezusammenbruch. Stattdessen sind systemkritische Handlungen erforderlich, die wiederum von situativen strukturellen Zwängen beeinflusst werden (vgl. Fuchs 2002: 39). Auswirkungen solcher vermittelter Effekte sind theoretisch auch auf der Kulturebene möglich, was die Persistenz des politischen Systems in Frage stellen könnte (vgl. Fuchs 2002: 37). Allerdings gelten die Einstellungen auf dieser höchsten Ebene, die sich aus den grundlegenden Werten der Gesellschaft konstituiert, als stabilstes Konstrukt (vgl. Fuchs 1999b: 155). Dem steht die unterste Ebene, jene des politischen Prozesses, gegenüber, als deren systemische Konsequenzen in demokratischen politischen Systemen die Abwahl der Entscheidungsträger genannt werden können (vgl. Fuchs 2002: 38-39). Diese Ebene ist damit die einzige im Modell von Fuchs, auf der Einstellungen in einem direkten Kausalzusammenhang mit systemischen Konsequenzen stehen – jedenfalls, wenn eine demokratische Ordnung als Untersuchungsgegenstand vorliegt.

[...]


[1] Aus Gründen der Übersichtlichkeit und der sprachlichen Vereinfachung werden in der Arbeit ausschließlich männliche Geni verwendet.

[2] „Russländische Föderation“ (russisch: „Rossijskaja Federacija“) ist die offizielle Bezeichnung des Staates. Die Bezeichnung „Russland“ („Rossija“) kann hierzu laut Verfassung (Art. 1 Abs. 2) synonym verwendet werden. Die in deutscher Übersetzung häufig vorzufindende Bezeichnung „Russische Föderation“ wird abgelehnt, zumal eine semantisch vorstellbare wörtliche Entsprechung („Russkaja Federacija“) im russischen Sprachgebrauch nicht üblich ist.

[3] Die Transliteration folgt dem internationalen wissenschaftlichen Standard (ISO). Bei Autorennamen und in Zitaten wird die jeweils vorgegebene Form berücksichtigt.

[4] Ein weiter gefasster Begriff der „Transition“, der insbesondere in der englischsprachigen Literatur Anwendung findet (vgl. u.a. Elster u.a. 1998; Fuchs/Roller 1998; Lijphart/Waisman 1996), schließt die Konsolidierungsphase ein und kann folglich komplementär zu der hier favorisierten Bezeichnung „Systemtransformation“ verwendet werden.

[5] Eine Polyarchie umfasst die prozeduralen Elemente „participation“ und „contestation“. Diese sind konkret durch folgende sieben Merkmale gekennzeichnet: (1) Kontrolle der Exekutive durch gewählte Vertreter, (2) freie und faire Wahlen mit prinzipiell offenem Ausgang, (3) inklusives und (4) passives Wahlrecht, (5) Meinungsfreiheit, (6) Informationsfreiheit und (7) Assoziationsfreiheit (Dahl 1989: 221).

[6] Allgemein formuliert wird unter Stabilität die Beibehaltung der institutionellen Grundlagen einer implementierten politischen Ordnung verstanden (Westle 1989: 21-31).

[7] In der „Civic Culture“-Studie wurden die politischen Kulturen der Länder USA, Großbritannien, Mexiko, Italien, sowie der Bundesrepublik Deutschland untersucht. Dabei wurden unterschiedliche Formen politischer Kultur identifiziert, die jeweils unterschiedliche Schlüsse auf die Stabilität des demokratischen politischen Systems implizierten. Während die USA und Großbritannien als stabile Demokratien bezeichnet werden konnten, wurde dies für die übrigen drei untersuchten Gesellschaften in Zweifel gezogen (vgl. Almond/Verba 1963).

[8] „Inputs“ bezeichnen nach Almond und Verba (1963: 15) „the flow of demands from the society into the politcy and the conversion of these demands into authoritative policies“. Zu den „Input”-Strukturen werden z.B. politische Parteien, Medien und Interessenorganisationen gezählt (vgl. Almond/Verba 1963: 15-16). „Output“ bezeichnet „that process by which authoritative policies are applied or enforced“ (Almond/Verba 1963: 16).

[9] Basierend auf den Verteilungsmustern unterschiedlicher Orientierungen gegenüber den Zielobjekten klassifizieren Almond und Verba (1963: 16-17) drei „reine“ Typen politischer Kultur, die selten in idealtypischer Ausformung existieren: (1) Partizipatorische Kulturen stützen sich auf den „mündigen Bürger“, der aktiv am politischen Geschehen teilnimmt und politische Prozesse mitgestaltet. (2) Subjekt-Kulturen beruhen auf relativ unpolitischen Bürgern, die ein politisches System positiv oder negativ auf der Basis von Leistungen der Herrschenden und des Systems in seiner Gesamtheit beurteilen. (3) Parochiale Kulturen, in denen weder politisches Wissen existiert, politische Prozesse weder evaluativ, noch affektiv bewertet werden. Als den mit liberalen Demokratien wünschenswerten Kulturtyp wird die „Civic Culture“ bezeichnet, die Elemente all jener Kulturtypen in ausgewogener Relation beinhaltet (Almond/Verba 1963: 31).

[10] Einstellungen und Orientierungen werden bei Almond und Verba (1963) nicht explizit unterschieden. Eckstein (1988: 790) schlägt eine solche Differenzierung vor: „Orientations are not ‚attitudes’: the latter are specific, the former general, dispositions. Attitudes themselves derive from and express orientations; though attitudes may, through their patterning, help us to find orientations.“ Sofern keine eindeutige Identifizierung von generellen Orientierungen möglich ist, werden in dieser Arbeit die allgemeinen Bezeichnungen „Einstellungen“ bzw. „Einstellungen und Orientierungen“ verwendet.

[11] Easton verwendet anstelle des Begriffs „Stabilität“ den der „Persistenz“ politischer Systeme, um deren Wandlungspotenzial zu unterstreichen und dem Vorwurf der Starrheit des Systembegriffs zu umgehen (vgl. Fuchs 2002: 31). Beide Begriffe werden komplementär gebraucht.

[12] Institutionen werden hier als politische Institutionen verstanden und bezeichnen „(…) Komplexe von rechtlich kodifizierten Handlungs-Regeln (generalisierten Verhaltenserwartungen), die eine strategisch bedeutsame Funktion im Rahmen der allgemeinen Funktion des politischen Systems erfüllen. Diese allgemeine Funktion beruht in der Herstellung und Durchsetzung von Entscheidungen, die für die gesellschaftliche Gemeinschaft bindend sind“ (Fuchs 1999b: 164).

Ende der Leseprobe aus 134 Seiten

Details

Titel
Perspektiven der Demokratie in der Russischen Föderation
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Institut für Politikwissenschaft)
Note
1,7
Autor
Jahr
2007
Seiten
134
Katalognummer
V80605
ISBN (eBook)
9783638821872
ISBN (Buch)
9783638822886
Dateigröße
1581 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Auszüge aus dem Gutachten der Erstgutachterin, Uni Mainz (...) Das Ergebnis der Analyse wird nachvollziehbar herausgearbeitet und der Autor setzt souverän das Politische-Kultur-Konzept zur Analyse und Interpretation der empirischen Befunde ein. (...) Mit dieser Arbeit hat Herr Willershausen gezeigt, dass er eine aktuelle und strittige politische und politikwissenschaftliche Frage eigenständig mit dem theoretischen und empirischen Instrumentarium der Politikwissenschaft auf einem für Magisterarbeiten überdurchschnittlichen Niveau bearbeiten kann. (...)
Schlagworte
Perspektiven, Demokratie, Russischen, Föderation
Arbeit zitieren
Magister Artium Florian Willershausen (Autor:in), 2007, Perspektiven der Demokratie in der Russischen Föderation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80605

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Perspektiven der Demokratie in der Russischen Föderation



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden