1. Einleitung
Anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1977 äußert Heinrich Böll in seiner Laudatio des Preisträgers Reiner Kunze: „[…] sicher möchten auch Sie gewissen und bestimmten Leuten das Lesen beibringen.“1 Wie kommt der Schriftstellerkollege Kunzes zu dieser Aussage? Diese Vermutung, die Böll über die dichterische Motivation Reiner Kunzes anstellt, hat im metaphorischen Sinne durchaus ihre Berechtigung. „Leuten das Lesen bei[zu]bringen“2 muss in einem in BRD und DDR geteilten Deutschland der siebziger Jahre eine andere Alphabetisierung, als die im herkömmlichen Sinne meinen. Vielmehr geht es um ein ‚richtiges Lesen’, das als hermeneutischer Prozess einem ‚Lesen’ gegenübersteht, das nicht wirklich versteht und das nicht oder falsch entschlüsselt. Böll spricht Reiner Kunze das Anliegen zu, Verstehensprozesse im Leser auslösen zu wollen.
Auch Heiner Feldkamp unterstellt wie Böll dem Werk Reiner Kunzes eine paradigmatische Orientierung auf ein Gegenüber, indem er in seiner Arbeit zum Gesamtwerk Kunzes dessen „Poesie als Dialog“3 bestimmt und dies als Grundzug vor allem des lyrischen Schaffens Kunzes herausstellt. „Das gedicht als stabilisator, als orientierungspunkt eines ichs“4 ist für den Autor, wie Feldkamp richtig herausstellt, zunächst „Selbstvergewisserung im Monolog“5 und doch damit auch „Selbstgespräch für andere“.6 Im Gespräch mit Bernd Kolf führt Reiner Kunze dazu aus: „Indem Gedichte aber Versuche sind, Wirklichkeit zu bewältigen und Haltungen zu gewinnen, besteht die Möglichkeit, daß sie auch jenen, die sie nachvollziehen, helfen, zu sich selbst zu finden und sich im Leben zu orientieren.“7
Diese mögliche Selbstfindung oder -erkenntnis und die genannte Lebensorientierung im Nachvollzug des Gedichts, die für den Leser in der Rezeption Kunzescher Gedichte möglich sein soll, lässt die Frage nach deren Genese aufkommen. Auf welche Weise kommt es zu Prozessen im Bewusstsein des Lesers, die die Ausbildung einer Haltung der Bewältigung und Orientierung ermöglichen? Diese Frage ist nicht zu beantworten, ohne eine ihr übergeordnete Frage zu stellen: [...]
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Der unfreie Leser - Das Frühwerk Reiner Kunzes
- 2.1 „Die Zukunft sitzt am Tische“
- 2.1.1 „Am Rande bemerkt“ – Optimistische Parteilichkeit
- 2.1.2 Der bevormundete Leser
- 2.1.3 „Vom Zarten“ – Der unterschätzte Leser
- 2.2 „Vögel über dem Tau“
- 2.2.1 „Antwort“ – Vorzeichen eines freieren Lesers
- 2.3 „Aber die Nachtigall jubelt“
- 2.3.1 „Prolog“ – Die selbst gewählte Finsternis des dogmatischen Lesers
- 2.1 „Die Zukunft sitzt am Tische“
- 3. Der freie Leser in unfreier Welt - Reiner Kunzes Werke bis zur Übersiedlung in die BRD (1959 – 1977)
- 3.1 „Widmungen“
- 3.1.1 „Horizonte“ – Selbstfindung in der Deutungspluralität
- 3.1.2 Poetische Verteidigung des Ich
- 3.2 „Sensible Wege“
- 3.2.1 „Am Briefkasten“ – Dialektik des Mitteilens und Verschweigens
- 3.3 „Zimmerlautstärke“
- 3.3.1 „Angeln an der Grenze“
- 3.3.2 Der Leser als Angler - Rezeption als Grenzüberschreitung
- 3.1 „Widmungen“
- 4. Übersiedlung in die BRD – Die Rolle des Lesers in der Lyrik Reiner Kunzes nach 1977
- 4.1 Die Übersiedlung – Biographischer Bruch und dichterische Kontinuität
- 4.2 „Auf eigene Hoffnung“
- 4.2.1 „Politiker, eines meiner Bücher lobend“
- 4.2.2 Der gegen Ideologie immunisierte Leser
- 5. Die Rolle des Lesers in der Lyrik Reiner Kunzes – Eine Zusammenfassung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Rolle des Lesers in der Lyrik Reiner Kunzes. Sie zielt darauf ab, den Leser nicht als passiven Rezipienten einer im Text enthaltenen Botschaft zu betrachten, sondern seine aktive Rolle bei der Rezeption des Gedichts herauszuarbeiten.
- Die Entwicklung des Lesers in der Lyrik Reiner Kunzes
- Der Einfluss von politischen und gesellschaftlichen Kontext auf die Rolle des Lesers
- Der Dialogische Charakter der Lyrik Reiner Kunzes
- Die „Wirkungsstrukturen“ in den Gedichten, die den Leser zur Aktivität anregen
- Die Anwendung von Wolfgang Isers Konzept des impliziten Lesers
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Relevanz des Themas „Die Rolle des Lesers in der Lyrik Reiner Kunzes“ heraus und skizziert die zentrale Fragestellung der Arbeit. Sie führt den Leser anhand von Zitaten von Heinrich Böll und Heiner Feldkamp in die Thematik ein und verweist auf die Bedeutung des Lesers als aktiven Rezipienten.
Kapitel 2 analysiert das Frühwerk Reiner Kunzes, das vom Einfluss der DDR-Gesellschaft geprägt ist. Hier wird die Rolle des „unfreien“ Lesers untersucht, der durch ideologische Vorgaben und Erwartungen beeinflusst wird.
Kapitel 3 befasst sich mit der Lyrik Reiner Kunzes während seiner Zeit in der DDR, die durch den Kontext der politischen Teilung Deutschlands gekennzeichnet ist.
Kapitel 4 untersucht die Lyrik Reiner Kunzes nach seiner Übersiedlung in die BRD.
Schlüsselwörter
Reiner Kunze, Lyrik, Leser, Rezeption, Dialog, Wirkung, impliziter Leser, DDR, BRD, politische Teilung, Ideologie, Selbstfindung, Lebensorientierung, Grenzüberschreitung.
- Arbeit zitieren
- Magister Artium Christoph Hartmann (Autor:in), 2007, "Für alle die im Herzen Barfuß sind" - Die Rolle des Lesers in der Lyrik Reiner Kunzes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80660