Leseprobe
Gliederung
1 Aufbau
2 Kommunikationsstrukturen
2.1 Perspektive
2.1.1 Textsubjekt und erste Person
2.1.2 Die zweite Person
2.1.3 Die dritte Person
2.2 Zeit
2.3 Raum
3 Metrische Analyse
3.1 Versform
3.2 Reimschema
3.3 Versenden
4 Syntaktische Analyse
5 Rhetorische Analyse
5.1 Der Fluss
5.2 Die Tiere
5.3 Die Farben
5.4 Die Wasserleiche
5.5 Die Stadt
5.6 Die Naturlandschaft
6 Literatur- und Quellenverzeichnis
6.1 Primärtext
6.2 Monographien
6.3 Herausgeberschriften
6.4 Aufsätze
6.5 Lexikonartikel
6.6 Titel
I. Einleitung
Die vorliegende Arbeit soll Georg Heyms Gedicht Ophelia nach den Kategorien der formalen Gedichtanalyse beschreiben und erläutern. Dies geschieht unter Berücksichtigung des Paratextes Hamlet von William Shakespeare. Wie sich an späterer Stelle zeigen wird, hat jener Text eine wesentliche Funktion für das vorliegende Werk. Eventuell vorstellbare Analogien zwischen beiden Werken sollen aufgezeigt, in ihrer Wirkung beurteilt und schließlich das Für und Wider abgewogen werden. Weiterhin werden die im Verlaufe dieser Arbeit näher beschriebenen Oppositionsbildungen innerhalb der Ophelia näher untersucht. Abschließend soll eine Zusammenfassung zeigen, welche Charakteristika das Werk Heyms prägen und wie sich deren Wirkung gestaltet.
II. Hauptteil
1 Aufbau
Hinsichtlich des Aufbaus ist zunächst festzustellen, dass sich die zwölf Strophen, die aus insgesamt achtundvierzig Versen bestehen, in Abschnitte teilen, die mit den römischen Ziffern I und II markiert sind. Diese äußere Zweiteilung korrespondiert mit dem inhaltlichen Aufbau: Der erste Abschnitt beschreibt, wie Ophelia durch eine ursprüngliche und natürliche Umgebung treibt. Der zweite Abschnitt hingegen gestaltet sich wesentlich aktiver und spiegelt einen Vorgang wider: Der Leichnam Ophelias treibt zunächst durch ein ländliches Umfeld zur Mittagszeit, dann durch eine industriell entwickelte Stadt zur Abendzeit und zuletzt wiederum durch eine eher beschauliche Landschaft in einer idyllischen Abendstimmung. Die formale Ausgestaltung innerhalb der Abschnitte stellt sich sehr konsequent dar: Die vier Strophen des ersten Abschnitts sind, genau wie die acht Strophen des zweiten Abschnitts jeweils aus vier Versen zusammengesetzt. Innerhalb der Strophen des zweiten Abschnittes fällt aber auf, dass die Übereinstimmung zwischen „äußerem Aufbau“[1] mit „innerem Aufbau“[2] aufgelöst wird: Die strophische Gliederung wird überspielt, indem sich die inhaltlichen Zusammenhänge über die Strophengrenzen hinweg entfalten. Dieses Spannungsverhältnis kann als erstes Indiz für eine Entfremdung des Ophelia-Motivs von ihrer literarischen Vorgängerin gesehen werden. Mithin dient dieser Umstand als Vorbote der nachfolgend aufgezeigten permanenten Oppositionsbildung auf motivischer Ebene.
2 Kommunikationsstrukturen
Der shakespearesche Paratext hat eine wesentliche Funktion für das vorliegende Werk: Ophelia lässt sich nicht mehr unbefangen lesen, da der literaturhistorisch vorgeprägte Titel sofort auf die Gestalt der Ophelia aus Hamlet verweist und das Gedicht Heyms hierdurch eine deutliche Tiefendimension und -funktion erhält. Die Rezeption verläuft faktisch unter einer ständigen Ermahnung zum Vergleich. Im Folgenden soll nun überprüft werden, an welchen Stellen eine Analogie zwischen der vorliegenden Ophelia und ihrer literarischen Vorgängerin angezeigt ist und welche Argumente für und gegen eine solche Hochrechnung sprechen könnten.
2.1 Perspektive
2.1.1 Textsubjekt und erste Person
Explizite Anzeichen eines „artikulierten Ich“[3], wie Pronomen oder Ausrufe, sind in Ophelia nicht auszumachen, jedoch lässt sich anhand der Fragen in Strophe zwei auf ein „fragendes Ich“[4] schließen. Generell ist der Sprecher aber verborgen und ins Unpersönliche zurückgezogen, es werden Erscheinungen der Natur und des Menschenlebens, scheinbar losgelöst von einem Ich beschrieben. In Shakespeares Paratext hingegen ist es unzweifelhaft die Königin, die über den Tod ihrer Tochter Ophelia berichtet.[5] Da es scheint, als seien einige Motive – „Bach“[6] und „Gewässer“[7] als Entsprechung von „Wasser“ [Verse 4, 8, 11][8], „Wasserlauf“ [V. 12] und „Strom“ [V. 27, 36, 45], „Laub“[9] als Entsprechung von „Urwald“ [V. 4], „Hahnfuß, Nesseln, Maßlieb, Kuckucksblumen“[10] von „Farn und Kraut“ [V. 8] und natürlich das Weidenmotiv, das explizit in beiden Werken genannt wird – aus Hamlet in Ophelia übernommen worden, könnte man nun die Überlegung anstellen, ob es nicht die Königin ist, die auch im vorliegenden Werk spricht. Neben den motivischen Verknüpfungen sprechen vor allem die dargebotenen Innenansichten Ophelias für diese Annahme. Wenn etwa beschrieben wird, dass sie „entschlafen will“ [V. 19] oder sie „von eines Kusses Karmoisin“ [V. 23] träumt, wird deutlich, dass die Textinstanz in Ophelia hineinschaut und sie sehr intime Kenntnisse besitzt, wie sie etwa eine Mutter von ihrem Kind hat. Diese Verbundenheit lässt sich allerdings zugleich als Argument gegen die obige Annahme verwenden. Betrachtet man diese Gefühlsbeschreibungen im Kontext des gesamten Gedichts, das sich ansonsten durch eine große Unpersönlichkeit auszeichnet, so verdeutlichen diese die Entfremdung umso mehr. Es lassen sich jedoch noch weitere Einwände gegen ein mögliches Hochrechnen der Textinstanz auf die Königin anführen: Über ihr Schicksal und ihre Todesursache kann man allenfalls mutmaßen, konkrete Hinweise lassen sich nicht finden. Außerdem ist sie in Heyms Werk bereits tot, während sie in Hamlet erst am Ende des vierten Aktes stirbt. Deutlichstes Indiz für die Herauslösung Ophelias aus ihrem ursprünglichen Kontext ist aber das Stadtbild, das deutlich macht, dass sie aus dem shakespeareschen Kontext gelöst wurde und eine deutliche Entindividualisierung erfahren hat[11].
2.1.2 Die zweite Person
Die gerade beschriebene Herauslösung der Ophelia aus ihrem ursprünglichen Kontext schließt an dieser Stelle die Vermutung aus, dass hier mit Laertes und dem König jene Adressaten angesprochen werden, die auch in Hamlet als angesprochene Instanzen auftreten. Eine im Text konstituierte, oder gar namentlich genannte Person wird in Ophelia gerade nicht angeredet. Dieses Fehlen eines textimmanenten Adressaten führt dazu, dass wohl ausschließlich auf einen intendierten Leser Bezug genommen wird.[12] Bei diesem dürfte es sich um die Gesellschaft im Allgemeinen handeln: „Ophelia wird zur Integrationsfigur menschlicher Leiden, zur Symbolgestalt des entstellten Humanen, des zerbrochenen Traums von Freiheit“.[13]
2.1.3 Die dritte Person
Es wird nur die dritte Person gebraucht, das heißt, es tritt keine angesprochene Instanz an die Textoberfläche, sondern es ist nur von Personen oder Dingen die Rede, die nicht in die Kommunikationssituation einbezogen sind. Diese Bevorzugung der dritten Person, die einer objektivierenden Darstellung dient,[14] verdeutlicht die bereits genannte Unpersönlichkeit und die Entindividualisierung der Ophelia.
2.2 Zeit
Der erste Abschnitt stellt sich eher zeitlos dar, allein die Ausdrücke „Die letzte Sonne“ [V. 5] und „Wie Nachtgewölk“ [V. 13] lassen vage Schlüsse auf eine zeitliche Dimension zu. An dieser Stelle wäre eine Analogie zu Hamlet durchaus vorstellbar, da diese Zeitlosigkeit die gerade erst durch den Titel initiierte Hochrechnung der Szenerie auf den shakespeareschen Kontext nahe legt. Dagegen enthält der zweite Abschnitt deutliche Hinweise auf die Zeit und verwischt somit eine vorstellbare Analogie der Ophelia mit ihrer Vorgängerin: Ausgehend von „Mittags“ [V. 17] geht es über „Abendrot“ [V. 31] bis „Abends“ [V. 44]. Die Erzählzeit ist also deutlich kürzer als die erzählte Zeit. Diese „Raffung“[15] verstärkt die erwähnte Unpersönlichkeit noch weiter. Aber nicht nur durch Angaben zur Tageszeit wird die Zeitlichkeit eines Gedichts ersichtlich:[16] Aufschlussreich sind mithin die Tempora der Verben, die im vorliegenden Text grundsätzlich im Präsens sind. Eine Ausnahme liegt nur bei „starb“ [V. 7] vor, wodurch schonungslos vor Augen geführt wird, dass Ophelia bereits tot ist.
[...]
[1] Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Stuttgart/Weimar 1997, S. 128.
[2] Burdorf, Einführung in die Gedichtanalyse, S. 128.
[3] Rainer Nägele: Der Diskurs des andern. Hölderlins Ode »Stimme des Volks« und die Dialektik der Aufklärung. In: Le pauvre Holterling. Blätter zur Frankfurter Ausgabe 4/5. Frankfurt am Main 1980, S. 61-76.
[4] Horst Joachim Frank: Wie interpretiere ich ein Gedicht ? 6. Auflage. Basel/Tübingen 2003, S. 83.
[5] Walter Hinck: Integrationsfigur menschlicher Leiden. Zu Georg Heyms „Ophelia“. In : Gedichte und Interpretationen, Bd. 5: Vom Naturalismus bis zur Jahrhundertmitte. Hrsg. von Harald Hartung . Stuttgart 1983, S. 128.
[6] William Shakespeare: Hamlet. Prinz von Dänemark. In: Shakespeare in deutscher Sprache. Neue Ausgabe in sechs Bänden. Hrsg. und Schlegels Übersetzung durchgesehen von Friedrich Gundolf. 5. Bd. Berlin 1921,
S. 87, IV. Aufzug, 7. Szene, Vers 1.
[7] Shakespeare: Hamlet, IV, 7, V. 11.
[8] Georg Heym: Ophelia. In: Georg Heym: Gesammelte Gedichte. Mit einer Darstellung seines Lebens und Sterbens. Hrsg. von Carl Seelig. Zürich 1947, S. 61-62.
[9] Shakespeare: Hamlet, IV, 7, V. 2.
[10] Shakespeare: Hamlet, IV, 7, V. 4.
[11] Hinck, Integrationsfigur menschlicher Leiden, S. 129.
[12] Burdorf, Einführung in die Gedichtanalyse, S. 210.
[13] Hinck, Integrationsfigur menschlicher Leiden, S. 137.
[14] Burdorf, Einführung in die Gedichtanalyse, S. 210.
[15] Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 5. Auflage. München 2003, S. 44.
[16] Frank, Wie interpretiere ich ein Gedicht ? S. 93.