Wassily Kandinsky - Orientalische Themen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

23 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


I. Einleitung

Der Orient als Thematik ist eine Erscheinung, die sich wie ein Faden durch das künstlerische Werk Wassily Kandinskys zieht. Dieser Faden ist zwar nicht immer rot und dominant, jedoch ständiger Bestandteil des Gewebes der Kunst Kandinskys. Die Momente, an denen dieser Faden sich verdickt bzw. gehäuft sichtbar wird, sollen Themen dieser Arbeit sein. Dabei wird anhand vom zwei exemplarischen Werken Kandinskys, Arabische Stadt und Orientalisches versucht werden, die Charakteri­stika seiner orientalischen Themen heraus zu arbeiten. Diskutiert werden soll in diesem Rahmen jedoch nicht nur die thematische, sondern auch die stilistische Be­einflussung durch den Orient, besonders im Hinblick auf die Entwicklung in Richtung der Abstraktion.

I.1. Der Orient und seine Kunst

Als Voraussetzung für den Einstieg in die Thematik erscheint mir eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Orients unabdingbar. Neben Assoziationen aus „Tausend und einer Nacht“, Bildern von Wüsten und Karawanen, Basaren und Moscheen verfügen die wenigsten Europäer über konkretes Wissen über den Orient.[1] Und tatsächlich ist sowohl die räumliche Abgrenzung als auch der Sprachgebrauch nicht einheitlich. Im allgemeinen wird der Orient zurückgehend auf die aus dem Lateinischen stammenden Bedeutung aufgehende Sonne, Morgen(gegend), und Osten dem westlichen Abendland, dem Okzident gegenübergestellt. Unter dem Begriff Orient werden damit die Vorderasiatischen Hochkulturen - auch als Alter Orient bezeichnet - die islamischen Länder im Nahen Osten und ganz Nordafrika zusammengefaßt. Als verbindendes Moment aller Gebiete zeigt sich der Islam, dessen prägende und vereinheitlichende Wirkung auf Gesellschaft, Kultur und Kunst aus diesem Grund nicht unterschätzt werden darf.

Eine wichtige Erscheinungsform der orientalischen Kunst, die Nichtfiguralität begründet sich in dem islamischen Glauben. Nach den Hadithen, den mündlichen Überlieferungen des Propheten Mohammed ist es dem Künstler verboten, Lebewesen darzustellen, da er sich sonst anmaßend mit Gott auf eine Stufe stellt; nur Gott allein kann Leben verleihen. Der Versuch, diesem Vorwurf von vornherein aus dem Weg zu gehen, äußert sich in zweierlei Phänomenen: Zum einen in einer Erscheinung, die Alexandre Papadopoulo als „Prinzip der Unwahrscheinlichkeit“ benennt. Maler und Künstler entzogen sich der „sichtbaren Erscheinungswelt“, indem sie „Perspektive, Tiefe, Licht und Schatten, durch Entfernung bedingte Verkleinerung“ aufgaben und „offensichtlich Unwahrscheinliches und Unmögliches in die Details [...]“ ihrer Arbeiten mischten.[2] Zum anderen „entbehren islamische Kunstwerke daher des persönlichen, aus dem Mitleben des einzelnen Künstlers sich ergebenden Stimmungsgehaltes“. Ausdruck dieser „Scheu vor gestaltlicher Individualität“ ist u.a. die Bevorzugung strenger geometrischer statt organischer Formen.[3]

So liegt der Schwerpunkt der islamischen Kunst auf dem Ornament, auf dem Nichtfigürlichen, dem jedoch nicht wie häufig in der europäischen Kunst der Rang des Dekorativen und Zweitrangigem zugesprochen wird. Ganz im Gegenteil bekommt die nichtfigurale, abstrakte Kunst einen exponierten, selbständigen Status, da nur ihr die Dekoration des Korans und der Moscheen vorbehalten war. Diese Stellung führte jedoch nicht zu einer Verfeinerung der Details, sondern es wurde eher die Klarheit von reinen Formen und Farben geachtet, um den Kompositionen einen tiefen und autonomen Sinn zu geben.[4] So erhielt die abstrakte Kunst auch Einzug in andere Gebiete der Kunst, u.a. auch in die figürliche Kunst der Miniaturen. In diesen hat sie die Aufgabe mit der Klarheit ihrer Formen und Farben die Klarheit des figural Dargestellten zu unterstreichen.

Die anerkannte und exponierte Position der Abstrakten Malerei in der Kunst des Orients ist mit Sicherheit ein Grund für Kandinskys Neigung zur Orientalen Kunst und Orientalen Thematik und soll im Laufe dieser Arbeit weiterhin berücksichtigt werden.

I.2. Kandinskys Kontakte zum Orient

Kandinsky hat auf seinen zahlreichen Reisen orientalische Länder nur zweimal besucht. Von Dezember 1904 bis April 1905 hält er sich zusammen mit Gabriele Münter in Tunesien auf, wo er gleich Macke, Moilliet und Klee auf ihrer berühmten, jedoch erst 10 Jahre späteren Tunisreise das Licht und die Farbigkeit Nordafrikas auf sich wirken läßt. Die zweite Reise führt ihn erst im Jahre 1931 u.a. nach Ägypten, Palästina, Syrien und in die Türkei, und ist durch das späte Datum für diese Untersuchung unerheblich.

Beachtet man jedoch die kontinuierlichen Einfluß des Orients auf Kandinsky, stellt sich die Frage, ob er dabei ständig die Erfahrungen seines Tunesienaufenthalts reflektiert. Diese Frage drängt sich besonders auf, je weiter sich die Entstehungsdaten der Werke von dem Zeitpunkt der Reise entfernen, so z.B. bei Werken der Jahre 1909/10, die schon durch ihren Titel auf einen Bezug zum Orient verweisen, wie Improvisation 6 (Afrikanisches), Orientalisches, Araber etc.

Selbst wenn man den Rückgriff auf tunesische Erinnerungen als Argument in diesem Zusammenhang zuläßt, besonders wenn man sein fotografisches Gedächtnis beachtet[5], so ist es doch wahrscheinlich, daß ihn bestimmte Ereignisse, wie Ausstellungsbesuche, Reiseberichte von Freunden Anlaß zum Aufgreifen dieser Erinnerungen gegeben haben. In der Literatur zu diesem Thema gibt es viele Spekulationen und nur wenig gesicherte Informationen, wie auch der Titel des entsprechenden Kapitels „What Kandinsky could have seen“ in Feresthteh Daftaris Dissertation zur Beeinflussung Kandinskys durch die Persische Kunst verdeutlicht.[6] Aus diesem Grund möchte ich hier nur auf zwei große Ausstellung islamischer Kunst hinweisen, die Kandinsky nachweislich besucht hat:

Da wäre auf der einen Seite die große Ausstellung islamischer Kunst in München im Sommer 1910. Kandinskys „Briefe aus München“, die im Herbst 1910 in der Zeitschrift Apollon veröffentlicht wurden, enthalten eine ausführliche Rezension dieser Ausstellung, in der er sein besonderes Interesse Persischen Miniaturen zuwendet. In diesem Kontext verweist er auf seinen ersten Kontakt mit Persischen Miniaturen im Kaiser Friedrich Museum in Berlin, und damit auf den zweiten, gesicherten Ausstellungsbesuch. Leider gibt er nicht an, zu welchem Zeitpunkt er die am 19. Oktober 1904 eröffnete neue Abteilung für islamische Kunst des Kaiser Friedrich Museums in Berlin gesehen hat.

Nach der genauen Chronologie von Peg Weiss ergeben sich zwei mögliche Zeitpunkte[7]. Möglich wäre ein Besuch Kandinskys im Herbst 1904, als er von Odessa über Berlin nach München reist. Die Alternative wäre Kandinskys nächster Berlinaufenthalt von September 1907 bis April 1908. Wäre der erste Zeitpunkt zutreffend, wäre dieser Kontakt zum Orient zeitlich noch vor die Tunesienreise einzuordnen, der zweite Termin würde die Kontinuität des Themas unterstreichen.

Man kann jedoch davon ausgehen, daß Kandinsky auch auf seinen anderen Reisen Möglichkeiten wahrgenommen hat, berühmte Sammlungen zu besichtigen und sich so durch den Orient indirekt hat beeinflussen lassen.

Zu beachten sind weiterhin, Rußlands Verbindungen mit dem Orient, besonders mit Persien im Laufe des 19. Jahrhunderts. Es ist also zu vermuten, daß bereits während seiner Jugend orientalische Einflüsse dort faßbar waren, so u.a. in den großen privaten und öffentlichen Kunstsammlungen des Landes, wie z.B. der Sammlung Peter I. Shchukins.[8]

Bei der Beschäftigung mit Kandinskys orientalisch geprägten Werken ist es also wichtig, nicht von einem kompakten, durch den Tunesienaufenthalt geformten Orientbild bei Kandinsky auszugehen, sondern sich bewußt zu machen, daß seine Orientvorstellungen auf den unterschiedlichsten Erfahrungen beruhen.

II. Kandinskys Orientbilder

Im Folgenden soll die genaue Analyse von Kandinskys Orientbildern im Mittelpunkt stehen. Dabei wird der Schwerpunkt einerseits auf die Tunesienbilder der Jahre 1904 und 1905 und andererseits auf die Orientbilder der Jahre 1909-11 gesetzt. Ein abschließender Vergleich soll die Einzelbeobachtungen zusammenfassen.

II.1. Tunesienbilder

Kandinskys erste tiefe Auseinandersetzung mit dem Orient ist während und nach seiner Reise mit Gabriele Münter nach Tunesien zu beobachten. Schon in seinen frühen russischen Bildern finden sich orientalische Anklänge, besonders in der architektonischen Gestaltung, diese weiten sich jetzt jedoch bei der Arbeit an der Natur deutlich aus.

Die Reise, die Kandinsky Münter in einem Brief vom 12.November vorschlägt[9], beginnt am 06. Dezember 1904 in Bonn. Sie erreichen Tunis am ersten Weihnachtstag und bleiben dort bis zum 05. April 1905. In dieser Zeit entstehen ungefähr dreißig Temperazeichnungen und ca. acht Ölstudien auf der Basis von Skizzenbucheinträgen und wahrscheinlich auch von Photographien Gabriele Münters.[10] Einen Teil der Werke dieses über drei Monate dauernden Tunesienaufenthaltes präsentiert Kandinsky der Öffentlichkeit im Oktober 1905 im Salon D’Automme in Paris.[11]

II.1.1. Arabische Stadt

Aus der Gesamtheit des in Tunesien entstandenen Werke habe ich eines ausgewählt, in dem meiner Meinung nach die Farb- und Lichtintensität des Landes, die immer wieder Künstler nach Nordafrika gezogen hat, besonders gut zum Ausdruck kommt.[12] Es handelt sich um das 67,3 x 99,5 cm große Temperabild auf hellbraunem Karton mit dem Titel „Arabische Stadt“, das sich heute als Vermächtnis Nina Kandinskys im Centre George Pompidou in Paris befindet.[13]

[...]


[1] Zu den folgenden Ausführungen vgl.: Artikel zu „Orient“, „Alter Orient“, „Naher Osten“, „Mittlerer Osten“, „Ferner Osten“, „Islam“ und „Islamische Kunst“. In: Brockhaus. Die Enzyklopädie in 24 Bänden. 19., völlig neu bearb. Auflage. Leipzig, Mannheim 1993, und in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden. 9., völlig neu bearb. Auflage. Mannheim 1976.

[2] Papadopoulo, Alexandre: Islamische Kunst. (Reihe: Große Epochen der Weltkunst. Ars Antiqua) Freiburg 1977, S. 57. (Künftig zitiert: Papadoupolo)

[3] Glück, Heinrich und Ernst Diez: Propyläen-Kunstgeschichte. Bd. 5, Die Kunst des Islam. Berlin 1925, S. 11. (Künftig zitiert: Propyläen-Kg)

[4] Vgl. Papadopoulo, S. 170.

[5] „So konnte ich schon als Knabe Bilder, die mich in Ausstellungen besonders fesselten, zu Hause auswendig malen [...]. Später malte ich manchmal eine Landschaft ‚nach der Erinnerung‘ besser, als nach der Natur. So habe ich ‚Die alte Stadt‘ gemalt und viel später viele holländische, arabische farbige Zeichnungen gemacht“, in: Kandinsky, Wassily: Rückblicke. Berlin 19131, Neuauflage Baden-Baden 1955, S. 22.

[6] Daftari, Fereshteh: The influence of Persian Art on Gauguin, Matisse, and Kandinsky. New York, London 1991. (Künftig zitiert: Daftari)

[7] Vgl. Weiss, Peg: Zeittafel. In: Zweite, Armin (Hrsg.): Kandinsky und München. Begegnungen und Wandlungen. 1896-1914. Ausstellungskatalog München, Städtische Galerie im Lenbachhaus 1982. München 1982.

[8] Vgl. Daftari, S. 262 ff.

[9] Vgl. zum genauen Wortlaut des Briefes: Kleine, Gisela: Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Frankfurt a.M. 1990, S. 212.

[10] Vgl.: Moeller, Magdalena M. (Hrsg.): Der frühe Kandinsky. 1900-1910. Ausstellungskatalog Berlin, Brücke-Museum / Tübingen, Kunsthalle 1994/95. München 1994, Kat.Nr. 65. (Künftig zitiert: Moeller) – Vgl. Roethel, Hans K. und Jean K. Benjamin: Kandinsky. Werkverzeichnis der Ölgemälde. Bd.1: 1900-1915. München 1982. – Vgl. Hanfstaengl, Erika: Wassily Kandinsky. Zeichnungen und Aquarelle im Lenbachhaus München. Katalog der Sammlung in der Städtischen Galerie. München 19741,19822.

[11] Vgl. Moeller, Kat.Nr. 68.

[12] Vgl.: Strömung des Orientalismus besonders im 19. Jahrhundert, u.a. in: MacKenzie, John M.: Orientalism. History, theory and the arts. Manchester, New York 1995.

[13] Kandinsky, Wassily: Arabische Stadt. 1905. Tempera auf Karton. 67,3 x 99,5 cm. Signiert unten links: KANDINSKY. Musée National d’Art Moderne, Centre George Pompidou, Paris.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Wassily Kandinsky - Orientalische Themen
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Kunstgeschichte)
Veranstaltung
Hauptseminar: Wassily Kandinsky - Der Weg in die Abstraktion
Note
2,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
23
Katalognummer
V8096
ISBN (eBook)
9783638151696
Dateigröße
568 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wassily, Kandinsky, Orientalische, Themen, Hauptseminar, Wassily, Kandinsky, Abstraktion
Arbeit zitieren
Ines Isermann (Autor:in), 2000, Wassily Kandinsky - Orientalische Themen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8096

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Wassily Kandinsky - Orientalische Themen



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden