Im Mittelpunkt dieser Hausarbeit steht nicht eine Kritik an französischen Orthographiefehlern, sondern eine funktionelle Betrachtungsweise sowie die Frage nach den Motivationen und Funktionen der Fehlleistungen. Der Begriff Fehlleistung ist hier absichtlich gewählt, um deutlich zu machen, dass es wünschenswert wäre, den Orthographiefehlern in Zukunft positiver und offener zu begegnen. Im Verlauf der Arbeit soll dem Ausdruck „Fehler“ daher keine negative Konnotation beigemessen werden.
Es sollen insbesondere zwei Modelle zur Typologisierung und Beschreibung von Orthographiefehlern vorgestellt werden: die von Artur Greive vorgenommenen Kategorisierungen nach System- und Normverstößen sowie das Modell der Psychologie des populärfranzösischen Sprechers nach Henri Frei.
Für diese Fragestellungen ist auch eine Auseinandersetzung mit den Charakteristika der französischen Graphie erforderlich. Hierbei gilt ein besonderes Interesse den Phänomenen Phonographie, Mehrmehrdeutigkeit, Systematik und Idiographie. In diesem Zusammenhang sollen neben dem Aufsatz von Artur Greive auch ein Aufsatz von Albert Valdman mit dem Titel „Besser als ihr Ruf: die französische Orthographie“ sowie das Kapitel zur französischen Graphie aus „La Grammaire Méthodique du Français“ von Pellat, Riegel und Rioul herangezogen werden.
Im Anschluss sollen die Orthographiefehler aus zwei Briefen von französischen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs analysiert und typologisiert werden. Um die andauernde Gültigkeit der Modelle Greives und Freis zu überprüfen und einen Einblick in die Orthographiefehler der Gegenwart zu bekommen, sollen auch einige Einträge von Jugendlichen aus französischen Internetforen analysiert werden.
Inhalt
1. Einleitung
2. Allgemeines zur französischen Orthographie
2.1. Phonographie und Mehrmehrdeutigkeit
2.2. Systematik und Idiographie
3. Beschreibung und Typologisierung von Fehlleistungen
3.1. System- und Normverstöße, assimilation, différenciation, brièveté und invariabilité
3.2. Überprüfung der andauernden Gültigkeit der Klassifikations- modelle
4. Fazit
Literaturverzeichnis
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
1. Einleitung
« […] On ne fait pas des fautes pour le plaisir de faire des fautes. Leur apparition est déterminée, plus ou moins inconsciemment, par les fonctions qu’elles ont à remplir […] »[1]
Im Mittelpunkt dieser Hausarbeit steht nicht eine Kritik an französischen Orthographiefehlern, sondern eine funktionelle Betrachtungsweise sowie die Frage nach den Motivationen und Funktionen der Fehlleistungen. Der Begriff Fehlleistung ist hier absichtlich gewählt, um deutlich zu machen, dass es wünschenswert wäre, den Orthographiefehlern in Zukunft positiver und offener zu begegnen. Im Verlauf der Arbeit soll dem Ausdruck „Fehler“ daher keine negative Konnotation beigemessen werden.
Es sollen insbesondere zwei Modelle zur Typologisierung und Beschreibung von Orthographiefehlern vorgestellt werden: die von Artur Greive vorgenommenen Kategorisierungen nach System- und Normverstößen sowie das Modell der Psychologie des populärfranzösischen Sprechers nach Henri Frei.
Für diese Fragestellungen ist auch eine Auseinandersetzung mit den Charakteristika der französischen Graphie erforderlich. Hierbei gilt ein besonderes Interesse den Phänomenen Phonographie, Mehrmehrdeutigkeit, Systematik und Idiographie. In diesem Zusammenhang sollen neben dem Aufsatz von Artur Greive auch ein Aufsatz von Albert Valdman mit dem Titel „Besser als ihr Ruf: die französische Orthographie“ sowie das Kapitel zur französischen Graphie aus „La Grammaire Méthodique du Français“ von Pellat, Riegel und Rioul herangezogen werden.
Im Anschluss sollen die Orthographiefehler aus zwei Briefen von französischen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs analysiert und typologisiert werden. Um die andauernde Gültigkeit der Modelle Greives und Freis zu überprüfen und einen Einblick in die Orthographiefehler der Gegenwart zu bekommen, sollen auch einige Einträge von Jugendlichen aus französischen Internetforen analysiert werden.
2. Allgemeines zur französischen Orthographie
2.1. Phonographie und Mehrmehrdeutigkeit
Das Französische, wie auch die anderen Sprachen unseres Kulturkreises, bedient sich des lateinischen Alphabets. Laute, die es im Lateinischen nicht gab, werden folgendermaßen repräsentiert:[2]
a) Buchstabenkombinationen (zum Beispiel ch)
b) sogenannte diakritische Zeichen (zum Beispiel ç für [s] vor den Vokalen a und u)
c) Spezialzeichen (zum Beispiel k für [k], w für [w] oder [v] oder x für [gz], die ausschließlich in Lehnwörtern vorkommen)
Wie aus den oben genannten Beispielen erkennbar ist, folgt die französische Orthographie zwar einem phonographischen Prinzip, jedoch ist sie nicht nur eine einfache phonetische Transkription; ein Graphem entspricht nicht nur einem Phonem und umgekehrt. Die französische Orthographie ist also nicht nur mehrdeutig, sondern sogar mehrmehrdeutig. Dieser Begriff entstammt der Mathematik und Logik.
Artur Greive führt in seinem Aufsatz ein Schema an, das diese Mehrmehrdeutigkeit verdeutlichen soll. Allerdings erwähnt er in seinem Schema für den Laut /ε ~/ lediglich die Schreibungen in, yn und en . Ebenso werden aber ain, ein und im als /ε ~/ realisiert. Auch für den Laut /ã/ wird nur die Schreibung en angeführt. Hinzuzufügen bleibt die Schreibung em. Greive vernachlässigt des weiteren das in der 3. Person Plural häufig vorkommende –ent, in dem –en- stumm ist. Hier eine erweiterte Version des Schemas von Artur Greive, die zeigen soll, wie komplex sich diese Mehrmehrdeutigkeit tatsächlich gestaltet[3]:
Lautung / Schreibung / Beispiele
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1
Zur Verbesserung der Lesbarkeit wurden sich überschneidende Verbindungslinien in rot eingezeichnet.
Die phonetische Mehrdeutigkeit der Grapheme wird jedoch durch Positionsbeschränkungen zum größten Teil aufgehoben. Die Stellung im Wort sowie die Kombinationsmöglichkeiten bestimmen, welches Graphem wann welchem Phonem entspricht und umgekehrt. Wie Pellat, Riegel und Rioul in ihrer Grammaire Méthodique du Français schreiben:
„Il est nécessaire d’établir des règles de correspondance phonographiques (règles de transcription) qui indiquent, suivant la position dans le mot et les possibilités de combinaison, quel graphème choisir pour noter tel phonème.“[4]
Artur Greive nennt als Beispiel für eine solche phonetische Positionsbeschränkung das Graphem en, „welches nur am Wortende als /εn/ erscheint (Ausnahme examen).“[5] Ein weiterer Ausnahmefall ist jedoch ennemi, wo en am Wortanfang auftritt und auch als /εn/ realisiert wird. Auch bei s handelt es sich um ein mehrdeutiges Graphem. Am Wortanfang ist es grundsätzlich stimmlos, vgl. sauce [so:s]. Im Wortinnern wird es in der Regel auch als stimmloser Reibelaut realisiert: suspendre [syspãdR]. Nur zwischen Vokalen im Moneminlaut bildet es einen stimmhaften Reibelaut ab; Ausnahme: susurrer [sysyre]. In Wortendstellung ist das s stumm (vgl. clos, soldats). Im Auslaut ist es jedoch stimmhaft, wenn ein „e caduc“ nachfolgt (vgl. cause, choses). Innerhalb eines Syntagmas wiederum kann ein auslautendes s entweder realisiert werden oder nicht: C’est /tr E/ drôle, aber C’est /tr Ez/ amusant. Man spricht bei dem Konsonanten s in Wortendstellung daher von einem latenten Konsonanten, der in der Graphie zwar erscheint, jedoch im Allgemeinen sehr selten realisiert wird.[6]
Die Aussprache von ss, das ohnehin nur im Wortinnern vorkommt, ist immer /s/.
Auch Graphemstatistiken haben bewiesen, dass eine Realisierung für gewöhnlich am häufigsten ist und sich daher für den Leser als am wahrscheinlichsten präsentiert. Im Falle von en beispielsweise ist die häufigste Aussprache /ã/.[7]
Neben den Positionsbeschränkungen in der Aussprache bleibt die Mehrdeutigkeit der Laute im Bezug auf die Schreibung nur zum Teil bestehen. Valdman führt in seinem Aufsatz, dessen hauptsächliches Interesse dem Lehren der französischen Orthographie im Fremdsprachenunterricht gilt, einige Reihen von Korrespondenzen an, mit denen sich viele Schreibungen erschließen lassen, zum Beispiel:[8]
1) Phoneme, die durch einzelne Buchstaben wiedergegeben werden: /a/ à a, /i/ à i, /y/ à u, /p/ à p, /b/ à b, /d/ à d, /f/ à f, /v/ à v, /m/ à m, /n/ à n, /l/ à l, /r/ à r;
2) Phoneme, die durch Buchstabenverbindungen wiedergegeben werden: /S/ à ch, / 9ò/ à un, /J/ à gn, /u/ à ou;
3) Feste Phonemverbindungen, die durch Buchstabenverbindungen wiedergegeben werden: /wa/ à oi, /wEñ/ à oin, /Hi/ à ui.
Bei der Formulierung der Regeln wurden seltene Schreibungen wie y und î für /i/ und ph und ff für /f/ nicht berücksichtigt.
Bei den unter Punkt 1) genannten Phonem-Buchstaben-Kombinationen kann man von einer reinen phonetischen Transkription sprechen. Hier besteht ein Eins-zu-eins-Verhältnis zwischen Laut und Buchstabe. Allerdings ist, wie auch Punkt 2) und 3) beweisen, zu beachten, dass in vielen Fällen das Verhältnis zwischen Phonem und Graphem nicht eins-zu-eins ist. /k/ kann durch drei Grapheme bzw. Graphemverbindungen wiedergegeben werden: cause, sucre, phonologique, question, quinze. Valdman schlägt in seinem Aufsatz zur Schreibung von /k/ vier phonographische Regeln vor, die auch den Umkehrschluss von der Schreibung auf die Lautung ermöglichen.[9] Diese Regeln stellen einen Bezug zur unmittelbaren lautlichen Umgebung her, und nicht nur zu unmittelbar vorausgehenden oder nachfolgenden Buchstaben. Sie geben laut Valdman mit 75-90prozentiger Genauigkeit folgenden Zusammenhang wieder:
„Ein Phonem /X/ wird in der Umgebung p durch Graph a, in der Umgebung q durch Graph b wiedergegeben etc. Hinzu kommt aber, daß (sic) Graph b in Umgebung q für /X/, aber auch für /Y/ steht. Was das Ganze noch weiter kompliziert, ist, daß (sic) /X/ nun in der Umgebung p auch noch mit c geschrieben wird.“
Regel 1: c vor den Vokalen /a u y O ò o O 9 ò / und den Lautfolgen /w E ò /, /wa/ und / H i/, z.B. cave, couve, cuve, conte, alcôve, coller, chacun, coin, coiffeur, cuir.
Regel 2: c in Konsonantenverbindungen, z.B. clan, cravate, acte, racle, sucre.
Regel 3: que in Endstellung, z.B. chaque, pique, choque, nuque.
Regel 4 : qu vor /i e E 9 2 E ò /, z.B. qui, quémander, quelle, quenouille, queue, quinze.[10]
Fehler können bei der Anwendung dieser Regeln bei der Schreibung von /ka/ auftreten. Valdman schreibt in seinem Aufsatz, dass es in ungefähr 60 Wörtern mit qua wiedergegeben wird.[11] Es bleibt unklar, wie er bei dieser Zählung genau vorgegangen ist. In Le Nouveau Petit Robert sind jedoch insgesamt 108 mit qua beginnende Wörter verzeichnet, in denen die Graphemverbindung entweder tatsächlich als /ka/ ausgesprochen wird oder zumindest auf diese Weise ausgesprochen werden kann, zum Beispiel: quadrature [k(w)adRatyR], qualité [kalite]. Bei Wörtern, bei denen /ka/ im Wortinnern steht, tritt eine erneute Schwierigkeit auf. /ka/ wird dort entweder durch die Buchstabenkombination – ca- wiedergegeben (vgl. sécateur, décalage, décapage) oder durch - qua- (vgl. aquatique, remorquage). Das „participe présent“ sowie das Gerundium der Verben auf –quer werden mit
– quant gebildet: (en) marquant, (en) bloquant, (en) choquant.
Eine ähnliche Schwierigkeit ergibt sich für solche Wörter mit /k A ò/, da etwa die Hälfte davon mit qu und die andere Hälfte mit c geschrieben wird: quand, cinquante, quantité, aber: camp, cantine, cancer.[12]
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein Schluss von der Lautung auf die Graphie sowie umgekehrt in vielen Fällen nicht problemlos möglich ist. Wie oben bereits deutlich wurde, gestaltet sich die Aufstellung von umkehrbaren Regeln sehr komplex. Eine Zusammenstellung von Listen mit Ausnahmewörtern, wie beispielsweise den 108 mit qua beginnenden Wörtern, bleibt unvermeidbar.
2.2. Systematik und Idiographie
„[...] die französische Orthographie [ist] insofern eine Orthographie für Leser [...], als sie diesen Informationen liefert, die über die im gehörten Französisch („code phonique“) verfügbaren beträchtlich hinausgehen.“[13]
Mit diesem Zitat spielt Artur Greive auf die Systematik und Idiographie der französischen Orthographie an. Eine idiographische Schrift, wie sie auch das Chinesische ist, repräsentiert Bedeutungseinheiten. Sie bezieht sich direkt auf den Sinn, und nicht auf die Laute.[14] Diese Eigenschaft schlägt sich in der „orthographe grammaticale“ des Französischen nieder. Die „orthographe grammaticale“ bildet sowohl syntagmatische als auch paradigmatische Beziehungen viel deutlicher ab als der „code phonique“. Ein gesprochener Satz wie C’est lui [kila] fait venir[15] verliert durch die „orthographe grammaticale“ seine syntagmatische Mehrdeutigkeit. In der gesprochenen Sprache sind nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Silbentrennungen nicht mit der grammatikalischen Wortgrenze zusammenfallen, vier vollkommen verschiedene Interpretationen möglich:
1) C’est lui qui l’a fait venir (= qui a fait venir lui).
2) C’est lui qui l’a fait venir (= qui a fait venir elle).
3) C’est lui qu’il a fait venir.
4) C’est lui qui la fait venir.
[...]
[1] Frei, Henri (1982). S. 19.
[2] Grzega, Joachim (2005). S. 10-11. http://www.anglistik.uni-muenster.de/Materialien/Grzega.
[3] Greive, Artur (1980). S. 207.
[4] Pellat / Riegel / Rioul (2004). S. 64.
[5] Greive, Artur (1980). S. 208.
[6] Valdman, Albert (1983). S. 186.
[7] Greive, Artur (1980), S. 208. & Z. B. F. Ters. Orthographe et vérités. Paris 1973.
[8] Valdman, Albert (1983). S. 190 ff.
[9] Valdman, Albert (1983). S. 190ff.
[10] Valdman, Albert (1983). S. 191.
[11] Valdman, Albert (1983). S. 192.
[12] Valdman, Albert (1983). S. 192.
[13] Greive, Artur (1980). S. 208.
[14] Pellat / Riegel / Rioul (2004). S. 64.
[15] Frei, Henri (1982). S. 19.
- Arbeit zitieren
- Vanessa Schnitzler (Autor:in), 2005, Französische Orthographiefehler aus Sicht der Linguistik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81058
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