Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Avantgardisten
3. Die Demokraten
4. Die Vorsichtigen
5. Die Ängstlichen
6. Die Hoffnungslosen
7. Die Schlusslichter
8. Resümee
9. Literatur
1. Einleitung
Demokratische Teilhabe in vielfältiger Form ist eine Grundbedingung für die Legitimation staatlicher Aktivität. Neben Wahlen gibt es in den Staaten der Europäischen Union eine Reihe von direktdemokratischen Beteiligungselementen, die es den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen direkt auf die Gesetz- und Verfassungsgebung ihres Staates einzuwirken.
Die Frage der europäischen Integration und die Demokratisierung Osteuropas haben in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Referenden ausgelöst, wodurch sich die Zahl der nationalen Volksabstimmungen in Europa – vergleicht man die beiden zurückliegenden Jahrzehnte – nahezu verdoppelten:
So fanden von 1981 bis 1990 129 (davon 76 in der Schweiz) gesamtstaatliche Referenden statt, zwischen 1990 und 2000 waren es bereits 248 (davon 115 in der Schweiz). Dieser Trend, der sich angesichts der bevorstehenden Erweiterungen der EU sowie der Europäischen Währungsunion fortsetzen wird, zeigt das die ‚Normalbürger’ nicht nur alle vier bzw. fünf Jahre ihre Repräsentanten wählen, sondern auch vermehrt über politische Sachfragen abstimmen können.[1]
Eine Arbeitsgruppe der Stiftung „Initiative & Referendum Institute Europe“ (IRI Europe) unter der Leitung von Andreas Gross und Bruno Kaufmann, deren Anliegen die Optimierung direktdemokratischer Beteiligungsformen ist, hat die Volksgesetzgebung in den europäischen Staaten untersucht und vor vier Jahren erstmalig den „IRI Europe Länderindex zur Volksgesetzgebung 2002“ veröffentlicht.[2]
In diesem Länderindex sind die direktdemokratischen Verfahren von 31 europäischen Staaten bewertet und in ein entsprechendes Ranking gebracht worden.
Der bis dato einmalige Länderindex ist das Ergebnis einer umfangreichen Recherche, der im Wesentlichen drei Leitfragen zu Grunde liegen:
1. Existieren direktdemokratische Elemente und Verfahren auf Staatsebene?
2. Wenn ja, können Bürgerinnern und Bürger diese selbst auslösen (z. B. Volksinitiativen)?
3. Sind obligatorische Referenden verankert?
In lediglich zwei Nicht-EU-Mitgliedsstaaten (Liechtenstein, Schweiz) konnten die Leitfragen mit Ja beantwortet werden, „es folgen drei Länder (Italien, Slowenien, Lettland) in denen die Bürger unabhängig von Parlament und Regierung gesamtstaatliche Volksabstimmungen auslösen können, sowie vier Staaten mit obligatorischen Referenden (Irland, Dänemark, Litauen, Slowakei). Dazu kommen die Niederlande, wo seit Anfang 2002 ein (schwaches und noch ungeprüftes) Referendumsrecht besteht. In allen anderen geprüften Ländern verfügen Parlament und/oder Regierung/Präsident über die Kompetenz, Volksabstimmungen zu verhindern.“[3]
Hieraus ergeben sich sechs Länderkörbe, in denen IRI Europe die untersuchten Staaten (entsprechend der Güte ihrer direktdemokratischen Elemente) einteilt:[4]
Korb 1 – Die Avantgardisten
Liechtenstein*, Schweiz*
Korb 2 – Die Demokraten
Italien, Slowenien, Lettland, Irland, Dänemark, Litauen, Slowakei, Niederlande
Korb 3 – Die Vorsichtigen
Frankreich, Spanien, Österreich, Schweden, Norwegen*, Polen, Ungarn
Korb 4 – Die Ängstlichen
Großbritannien, Finnland, Estland, Belgien, Island*, Luxemburg,
Deutschland, Griechenland, Tschechien
Korb 5 – Die Hoffnungslosen
Rumänien*, Portugal, Bulgarien*, Malta
Korb 6 – Die Schlusslichter
Zypern, Türkei*
Der Autor konzentriert sich in seiner Arbeit ausschließlich auf die Staaten der Europäischen Union. Da sich kein EU-Mitglied unter den Avantgardisten wieder findet, wird dieser Korb nur der Form halber erwähnt, bleibt aber inhaltlich weites gehend unberücksichtigt.
Aufgrund der Komplexität des Themas und der begrenzten Seitenzahlen können die dargestellten Zusammenhänge nur ein Ausschnitt sein und stellen demzufolge keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr wird versucht einen kompakten Überblick, über den momentanen Zustand der Volksgesetzgebung in den Staaten der EU, zu geben.
Bei der Auswahl der Literatur ist neben bekannter Standardliteratur, wie Wolfgang Ismayrs Werk „Die politischen Systeme West- [bzw.] Osteuropas“, ein Schwerpunkt auf aktuelle Artikel und Aufsätze aus dem Internet gelegt worden.
Sämtliche Fußnoten beziehen sich auf die verwendeten Werke und Materialen, die in Abschnitt neun im Literaturverzeichnis alphabetisch aufgeführt sind.
2. Die Avantgardisten
In der Schweiz verfügen die Bürgerinnen und Bürger über ein breites Spektrum an direktdemokratischen Verfahren. Sowohl auf Bundes- als auch auf Kantonsebene ist ein Mischsystem von repräsentativer und direkter Demokratie verwirklicht. Deswegen bezeichnet man die Demokratie auch als halbdirekt.[5]
Über wichtige Verfassungs- und Gesetzesentscheide werden Volksabstimmungen per fakultativem und obligatorischem Referendum anberaumt. Außerdem hat die Bevölkerung die Möglichkeit eigene Vorschläge durch Volksinitiativen zur Abstimmung zu bringen.[6]
3. Die Demokraten
Italien
Neben der Schweiz hat mit einigem Abstand auch Italien eine umfangreiche direktdemokratische Praxis vorzuweisen: Italien kennt zwar mehrere Verfahrensarten (Volksbegehren, Volksentscheid mit „aufhebender oder aufschiebender Wirkung“, Volksbefragung, etc.), doch nur das korrigierende bzw. so genannte abrogative Referendum, das sich gegen bestehende Gesetze wendet, wurde in der Praxis sehr häufig angewandt. Vorausgesetzt ist die Beantragung des Referendums durch ein Fünftel der Mitglieder einer der beiden Kammern, durch 500.000 Wähler oder durch fünf Regionalräte.[7]
„Verfassungsrevisionen müssen von beiden Kammern des Parlaments in zwei […] Beratungen von der Mehrheit der Mitglieder beider Kammern angenommen werden.“
Ein Gesetz, das bei der zweiten Abstimmung von jeder Kammer mit der Zweidrittel-Mehrheit ihrer Mitglieder angenommen wird, kann nicht zum Referendum gestellt werden.[8]
Diese Regelung soll eine willkürliche Handhabung der direkten Mitwirkung des Volkes an der Gesetzgebung verhindern.
Für den Volksentscheid ist eine Mindestbeteiligung von 50% aller Wahlberechtigten vorgeschrieben. Stimmt die Mehrheit „dem Begehren zu, tritt das Gesetz ausser Kraft, wird es abgelehnt, so ist ein neues Begehren zum gleichen Gegenstand erst nach einer Sperrfrist von fünf Jahren möglich.“[9]
Seit 1971 fand eine Vielzahl der referendum abrogativo mit ganz unterschiedlichem politischen oder gesellschaftlichen Inhalt statt, wobei jedes dieser Referenden einen bestimmten Entwicklungsabschnitt in der Geschichte Italiens markiert: 1971 Bestätigung der Ehescheidungsreform, 1975 Zustimmung zu Anti-Terrorismusgesetzen, 1981 Abwehr der Liberalisierung der Abtreibung, 1991 gescheiterte Wahlreform.[10]
„Politisch bewahrten die Bürger in allen Referenden eine mittlere Linie politischer Vernunft. Die Befürchtungen der Verfassungsväter, plebiszitäre Entscheidungen könnten […] durch extremistische Gruppierungen ausgebeutet oder durch ein ‚verführtes Volk’ missbraucht werden, bestätigten sich nicht.“[11]
Insofern ist bislang kein Missbrauch der direktdemokratischen Elemente zu verzeichnen gewesen – viele Referendenanträge der Radikalen Partei sind vom Verfassungsgerichtshof zurückgewiesen worden.[12]
Slowenien
Das slowenische Verfassungssystem kennt ausschließlich das (Gesetzes-) Initiativrecht auf fakultative Volksabstimmungen, für die es zwei alternative Verfahrenswege gibt: Diese können aufgrund einer entsprechenden Petition (Begehren) von mindestens 40.000 wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern oder von einem Drittel der Parlamentsmitglieder initiiert werden.[13]
In den vergangenen Jahren haben mehrfach fakultative Referenden stattgefunden.
Im Jahr 2001 wurde ein solches von der Opposition angesetzt, bei dem sich 72,4 % gegen eine Änderung des Gesetzes zur ‚Heilung von Unfruchtbarkeit und Befruchtung mit biomedizinischer Hilfe’ und damit gegen die Regierung aussprachen.
Es zeigt dass die Wählerinnen und Wähler praktisch alle vom Parlament erlassenen Gesetze zur Volksabstimmung bringen können.
Die Volksabstimmungen über die „Privatisierung der Eisenbahn“ und die „Rückerstattung der Investitionen in das öffentliche Telekommunikationsnetz“ wurden von jeweils über 40.000 Wahlberechtigten anberaumt.[14]
Lettland
Die lettische Verfassung schreibt obligatorische Volksabstimmungen bei Änderungen der Verfassungsartikel 1 bis 4, sowie 6 und 76 vor. Diese Bestimmungen bilden den Verfassungskern und umfassen grundsätzliche staatsrechtliche Aussagen, wie die Staatsform der Republik (Art. 1), die Volkssouveränität (Art. 2), die Staatsgrenzen (Art. 3) oder die Wahlrechtsgrundsätze (Art. 4).[15]
Außerdem muss das Parlament ein Referendum zur EU-Mitgliedschaft ausschreiben.
Dieses wurde im September 2003 abgehalten: Bei einer Wahlbeteiligung von 71,5 % sprachen sich 67,0 % für den Beitritt aus.[16]
Das Volk hat des Weiteren ein Mitspracherecht bei der Parlamentsauflösung, die vom Staatspräsidenten vorgeschlagen werden kann. Hierfür müssen mehr als 50 % der Abstimmenden votieren, damit Neuwahlen stattfinden können. Wird die Mehrheit nicht erreicht, muss der Präsident sein Amt niederlegen.[17]
Darüber hinaus können 10 % der Stimmberechtigten eine Verfassungsänderung oder ein neues Gesetz initiieren. Wird die Vorlage vom Parlament abgelehnt, kommt es zu einer Volksabstimmung. Bei Abstimmungen über einfache Gesetze ist eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreichend. Bei Verfassungsänderungen besteht jedoch ein 50prozentiges Beteiligungsquorum, damit das Votum Gültigkeit erlangt. Fragen des Haushalts, der Steuern, der Unterzeichnung internationaler Verträge, sowie der nationalen Verteidigung dürfen nicht Gegenstand eines Referendums sein.[18]
Insofern oblag es dem Parlament, die Verfassung der Europäischen Union im vergangenen Jahr zu ratifizieren. Das lettische Verfassungssystem sieht zwar eine ganze Reihe von direktdemokratischen Elementen vor, allerdings ist es für alle politischen Gruppierungen schwierig, die genannten 10 % der Bevölkerung zu mobilisieren.[19]
[...]
[1] http://www.andigross.ch/html/ratingde.pdf S. 13f. (27.03. 2006)
[2] Ebd. S. 1
[3] http://www.andigross.ch/html/ratingde.pdf S. 14f. (27.03. 2006)
[4] Ebd.
* Nicht Mitglied der Europäischen Union
[5] Hangartner/Kley (2000): S. 238.
[6] Lindner (2005): S. 242f.
[7] Trautmann (2003): S. 567.
[8] Möckli (1994): S. 127.
[9] Möckli (1994): S. 128.
[10] Trautmann/Ullrich (2003): S. 568.
[11] Ebd.
[12] Ebd.
[13] Lukšič (2003): S. 655f.
[14] Ebd.
[15] Schmidt (2003): S. 133.
[16] Schmidt (2003): S. 136.
[17] Schmidt (2003): S. 119.
[18] Schmidt (2003): S. 135.
[19] Schmidt (2003): S. 137.
- Arbeit zitieren
- Anonym, 2006, Direkte Demokratie in den Staaten der Europäischen Union, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81097
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