Rekonstruktion europäischer Identität

Eine medienwissenschaftliche Analyse des Diskurses über die Mohammed-Karikaturen in "Faz" und "Times"


Magisterarbeit, 2007

94 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0 Einleitung

1 Grundlagen: „Trip auf der Geisterbahn der Identität“
1.1 Annäherung an den Identitätsbegriff
1.2 Konzeptionelle Grundlagen
1.2.1 Personale Identität
1.2.2 Soziale Identität
1.2.3 Kollektive Identität

2 Europäische Identität
2.1 Theoretisches Spektrum
2.1.1 Europäische Identität aus der „Mottenkiste der Geschichte“
2.1.2 Konstruktion europäischer Historie
2.1.3 Diskurstheoretischer Absolutismus
2.1.4 Politisch-institutionelle Ordnung als Basis
2.1.5 Europa als Wertegemeinschaft
2.1.5.1 Universalität der Werte und Partikularität der europäischen Identität
2.1.5.2 Werte, Emotionen und europäische Identität
2.1.6 Europa als Wirtschaftsgemeinschaft
2.1.7 Europa und die »Anderen«
2.1.7.1 Gegenidentität Islam
2.2 Zusammenfassung und Kritik

3 Komparative Medienanalyse als Ansatz der Identitätsforschung
3.1 Konzeption der Untersuchung und Hypothesen
3.2 Hintergründe und Entstehung des Karikaturenstreits
3.3 Profile der Medien: Frankfurter Allgemeine Zeitung / The Times
3.4 Untersuchungsmethode
3.5 Kategoriensystem
3.6 Grundgesamtheit, Analyse- und Codiereinheiten

4 Ergebnisse der Medienanalyse und Auswertung
4.1 Allgemeine Identifikationskennzahlen
4.2 Europäische Identitätskerne
4.3 Politische Werte
4.3.1 Freiheitsrechte
4.3.2 Qualitative Strukturanalyse
4.3.3 Zwischenzusammenfassung
4.4 Soziale Werte
4.4.1 Qualitative Strukturanalyse
4.4.2 Zwischenzusammenfassung
4.5 Ökonomie
4.5.1 Qualitative Strukturanalyse
4.6 Gegenidentität Islam
4.6.1 Qualitative Strukturanalyse
4.6.2 Zwischenzusammenfassung

5 Resümee

6 Literaturverzeichnis

7 Abbildungsverzeichnis

8 Anhang

0 Einleitung

„Nun, Identität ist ja schon der falsche Begriff, ein problema­tischer Ansatz. Alle Europäer haben gewissermaßen Identitäten, nämlich unsere schwerwiegenden nationalen Vergangenheiten. Europäische Staaten definieren sich über ihre Geschichte, die Sprache, Kultur, manchmal über Hautfarbe. Die europäische Idee beruht darauf, sich von diesen Unterschieden und allen Aspekten, die Hass und Krieg hervorrufen können, zu lösen“ (Levy 2007).

Bernard-Henri Levy ist einer der bekanntesten französischen Philosophen der Gegenwart und bekennender Europäer. Anlässlich des 50. Geburtstags der Europäischen Union äußerte er sich in einem Interview mit Spiegel-Online reserviert bis skeptisch zur Frage nach der europäischen Identität. Seine Aussagen stehen beispielhaft für die Enttäuschungen vieler. Nach 50 Jahren europäischer Integration definieren sich die Bürger Europas immer noch vorwiegend über ihre jeweiligen Nationalitäten. Eine gemeinsame Verfassung für Europa ist weit davon entfernt mehrheitlich Zustimmung in der Bevölkerung zu finden. Selbst die politisch gefeierte Berliner Erklärung brachte außer wiederholter pathetischer Geltend­machung europäischer Ideale und Werte vor allem die traurige Erkenntnis, dass die europäische Verfassung auf keinen Fall weiterhin Verfassung heißen darf, wenn noch eine Minimalchance auf Ratifizierung bewahrt werden soll (Die Berliner Erklärung 2007).

Doch ist es wirklich so, wie Levy es beschreibt? Ist das Konzept einer europäischen Identität problematisch und am Ende vielleicht sogar unbrauchbar? Sind die Bürger Europas tatsäch­lich ausschließlich in nationalstaatlichem Denken verhaftet und die Idee eines europäischen Selbstverständnisses auf lange Sicht gescheitert? Oder gibt es vielleicht doch Merkmale und Anzeichen für die Herausbildung einer gemeinsamen europäischen Identität?

Der Autor ist von der Existenz und Nachweisbarkeit einer europäischen Identität überzeugt und möchte mit dieser Magisterarbeit einen Beitrag zur empirischen Identitätsforschung leisten. Im Rahmen dieser Arbeit soll mit der komparativen Medienanalyse ein alternativer Ansatz zur Bestimmung der europäischen Identität vorgestellt und zugleich in einem konkreten Fall auf Praktikabilität überprüft werden. Anhand von Beiträgen aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Times aus London wird der Diskurs über die Mohammed-Karikaturen untersucht. Dieser Diskurs entwickelte sich im Februar 2006 und basierte auf der Eskalation eines Konflikts zwischen Teilen der islamischen Welt und den Europäern, der sich an zwölf Karikaturen des Propheten Mohammed entzündete. Der Autor geht davon aus, dass die Vorwürfe der Islamisten und die teils hysterischen Reaktionen der Muslime auf die Karikaturen einen komplexen öffentlichen Selbstverständigungsprozess in den europäischen Medien entfachten und versucht, aus den relevanten Beiträgen zweier europäischer Leitmedien die Komponenten einer europäischen Identität zu rekonstruieren. Dies geschieht mit einer Art inhaltsanalytischem Methodenmix. Für eine optimale Auswertung des Analysematerials werden Frequenzanalyse und kontextuell verankerte Strukturanalyse in Kombination verwandt. So ist es möglich, europäische Identität nicht nur quantitativ, sondern auch in ihrer qualitativen Dimension näher zu bestimmen.

Die Relevanz dieser Arbeit definiert sich über die herausgehobene Bedeutung einer europäischen Identität für die Zukunft der Europäischen Union. In der Literatur wird diesbezüglich besonders die politische Bedeutung eines gemeinsamen europäischen Selbst­verständnisses für die Unterstützung des europäischen Integrationsprojekts hervorgehoben. Diese Überlegungen rekurrieren auf die vom Systemtheoretiker David Easton entwickelte Unterscheidung von „persistence und diffuse support“. Demnach brauchen politische Systeme nicht nur Unterstützung, die auf kurzfristig konditioniertem Kosten-Nutzen-Kalkül beruht, sondern vor allem eine generelle Identifizierung, die stabile und belastbare Loyalitäten hervorbringt (Easton 1965). Diese generelle und stabile Unterstützung für das politische Projekt der Europäischen Union kann nach Meinung vieler nur durch eine gemeinsame Identität geschaffen werden. Sylke Nissen beispielsweise schreibt:

„Die Existenz einer europäischen Identität würde jene Unterstützung sicherstellen, die für die zukünftige Entwicklung Europas als unentbehrlich gilt. Wenn europäische Identität als Quelle politischer Unterstützung verstanden wird und wenn diese Unterstützung der Öffentlichkeit in demokratischen Willens­bildungsprozessen auf EU-Ebene als Legitimationsgrundlage politischen Handelns gebraucht wird, dann ist europäische Identität für die zukünftige Entwicklung unverzichtbar“ (Nissen 2004, S. 21 ff.).

Die Bedeutung einer europäischen Identität als potentielle Legitimierungsressource für Beschlussfassungen auf europäischer Ebene hebt auch Walter Reese-Schäfer hervor (vgl. Reese-Schäfer 1999, S. 263). Klaus Eder kritisiert eine einseitige Integration im Wirtschafts­bereich und bezeichnet eine europäische Identität als unverzichtbar für den Prozess der Verschmelzung, Angleichung und Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechts- und politischen Ordnungen, da man ansonsten dem EU-Projekt die Unterstützung entzieht. Für Eder gilt es neben der wirtschaftlichen Integration eine ideelle auf Werten fußende Identität zu konstruieren (vgl. Eder 1999, S. 167). Ähnlich argumentiert auch Richard Münch:

„Der Prozess der europäischen Integration schreitet im Ausbau des Binnenmarktes und in der Verlagerung politischer Entscheidungskompetenzen auf die Ebene der EU in wachsendem Tempo voran. Dieser Prozess verlangt jetzt in zunehmendem Maße die Einbeziehung der Bürger und den Wandel ihrer Identität hin zu Europa. Ohne europäische Identität droht das europäische Projekt an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Bürger zu scheitern“ (Münch 1999, S. 223).

Für Werner Weidenfeld besteht die Bedeutung der europäischen Identität vor allem darin, „daß eine Zähmung der nationalen durch eine europäische Identität die ethno-nationalistischen Verirrungen der europäischen Vergangenheit zu überwinden verspricht“ (Weidenfeld 1985, S. 31 f.). Aber europäische Identität hat für ihn noch eine ganz andere Bedeutung – als entscheidende Orientierungshilfe und Ruhepunkt in dem komplexen Sozial-Gebilde Europa. Wo in der Vormoderne kollektive Identität durch Klassenzugehörigkeit, geschlossene Weltbilder oder Transzendenzbezug vorgegeben war, muss in modernen Gesellschaften, die sich durch Pluralität, Differenzierung und Mobilität auszeichnen, kollektive Identität selbst entworfen werden. Die Auflösung vorgefundener Interpretations­ordnungen für die Lebenswelt führt zu einem wachsenden Bedarf an Orientierung, an allgemeinen Umweltbeschreibungen, an gemeinsamen Zuordnungen. Identität und Orientierung sind also zwei Seiten der gleichen Medaille (vgl. Weidenfeld 1985, S. 14). Weiterhin schreibt Weidenfeld, dass die Kälte der industriellen Massengesellschaft zu einem Unbehagen der Moderne, einem Leiden des modernen Menschen an einem Gefühl der Heimatlosigkeit führt. Auswählen und Abwägen wird zum Imperativ, ohne dass der Mensch in festen Solidaritätsstrukturen und zweifelsfreien Normensystemen sich aufgehoben fühlt. Die daraus folgende Sehnsucht nach Geborgenheit und Gefühl signalisiert emotionale Defizite und dieses Unbehagen an der Moderne dramatisiert den Wunsch nach Identität (vgl. Weidenfeld 1985, S. 30 f.). Das „Europa der Moderne“ ist laut Weidenfeld „gekennzeichnet von der Fliehkraft des Wandels, von der Atemlosigkeit des Neuen. Ganz zwangsläufig beginnt die Suche nach Haltepunkten. Europäische Identität könnte einer von mehreren solcher Haltepunkte sein – als innehaltende Gegenwart“ (Weidenfeld 1985, S. 32). Auch Richard Münch sieht in Zeiten der Globalisierung die europäische Identität als Chance, neue Orientierungen und Halt zu finden:

„Unter den Bedingungen der Globalisierung sind nahezu alle gewohnten Institutionen des Nationalstaats, die uns Sicherheit gegeben haben, brüchig geworden. Unser hilfesuchender Blick richtet sich in dieser Situation, hoffend und bangend zugleich, auf die europäische Union. Kann sie uns die verlorene Einheit unseres Lebens wieder zurückgeben und mit der Welt als ganzer verknüpfen? Sie wird das nur erreichen, soweit sie über den Binnenmarkt und die politische Kompetenzverlagerung hinaus auch einen Strukturwandel unserer Identität hervorbringt“ (Münch 1999, S. 223).

In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass in der Moderne die Religionen und, besonders nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, auch die Ideologien ihre orientierende und Identität stiftende Kraft verloren haben. Europäische Identität könnte dafür eine Art ideell-säkulare Alternative darstellen (vgl. Eder 1999, S. 167).

Einige zeitgenössische Intellektuelle wie Derrida und Habermas sehen die Bedeutung einer europäischen Identität auch darin begründet, das Verhältnis Europas zu den USA neu zu bestimmen. In einem Plädoyer für ein neues Europa entwarfen sie einen auf friedlichen Alternativen basierenden Gegenvorschlag zur amerikanischen Außenpolitik des „Kampfs gegen den Terror“ und den unter der Führung Großbritanniens verfassten „Brief der Acht“ (vgl. Derrida/Habermas 2003, S. 33 f.).

Vor einem anderen Hintergrund argumentiert Bassam Tibi für eine starke gemeinsame Identität der Europäer. Er vertritt die These, dass sich bei den Herausforderungen an die westliche Zivilisation durch den Multikulturalismus die europäische Identitätskrise am deutlichsten herauskristallisiert. Desorientierte Europäer, die in einer Werte-Beliebigkeit stecken, die letztlich in Selbstzweifeln zum Ausdruck kommt, haben radikalen Islamisten nichts entgegenzusetzen. Der Umstand also, dass in ihrer Identität verunsicherte Europäer nicht deutlich oder überhaupt nicht für die Geltung ihrer Werte und Normen eintreten, führt laut Tibi zur Stärkung des Absolutheitsanspruches der Vertreter vormoderner Kulturen (vgl. Tibi 1998, S. 19 f.). Aus dieser Sicht stellt europäische Identität die Grundlage für ein westlich-demokratisches Gegengewicht zum islamistischen Fundamentalismus dar.

Europäische Identität ist jedoch nicht nur in akademischen Kreisen beliebtes und prominentes Thema, sie wird auch auf politischer Bühne zunehmend postuliert und durch verschiedene kulturelle und politische Programme in ihrer Entstehung gefördert. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines europäischen Zusammengehörigkeitsgefühls ist in vielen Mitglieds­staaten der Europäischen Union gewachsen.

Der Aufbau der Arbeit orientiert sich an der klassischen Zweiteilung in Theorie- und Empirieteil. Die ersten beiden Kapitel sind theoretischer Natur. Sie legen gewissermaßen den Grundstein für die empirische Analyse und deren Auswertung. Zur Einführung in die Thematik der europäischen Identität wird im ersten Kapitel die Mehrdimensionalität des Identitätsbegriffs problematisiert. Im Anschluss daran vermittelt die hierarchische Gliederung der theoretischen Basiskonzepte einen Überblick über die historische Entwicklung der Identitätsforschung. Skizzenhaft werden die Stufen der personalen, sozialen und kollektiven Identität jeweils kurz vorgestellt.

Der Logik dieser Systematik folgend widmet sich das zweite Kapitel dem eigentlichen Thema – der europäischen Identität. In einem ersten Schritt wird sie als Sonderform der kollektiven Identität näher erläutert. Die anschließende umfassende Auseinandersetzung mit dem theoretischen Spektrum der Identitätsforschung hat zwei Gründe. Erstens geht es darum, die Nachteile und Probleme einer rein theoretischen Beschreibung und Bestimmung europäischer Identität aufzuzeigen, um dadurch die Entscheidung für eine empirische Herangehensweise plausibel und nachvollziehbar zu machen. Zweitens wird so der theoretische Hintergrund für die Entwicklung des Kategoriensystems transparent gemacht.

Im dritten Kapitel steht das Forschungsdesign im Fokus. Hier werden der empirische Ansatz der komparativen Medienanalyse, die eigentliche Konzeption der Untersuchung nebst Hypothesen sowie die Profile der Medien, die Methode, das Kategoriensystem und die verschiedenen Analyseeinheiten vorgestellt und näher erläutert. Dabei wird auch immer versucht, die Entscheidungen für die jeweiligen Untersuchungsgegenstände plausibel zu machen. Ein kurzer Exkurs über die Hintergründe und Entstehungsgeschichte des Karika­turenkonflikts wurde in dieses Kapitel integriert, um dem Leser ein Verständnis für die Kommunikationssituation der Analyse zu vermitteln.

Die Präsentation, Auswertung und Interpretation der Untersuchungsergebnisse sowie die Prüfung der Hypothesen erfolgt in Kapitel 4. Im Sinne der Übersichtlichkeit und Verständ­lichkeit werden die Ergebnisse der Frequenz- und Strukturanalyse immer schrittweise miteinander kombiniert und nicht jeweils als Block präsentiert.

Im Kapitel 5 werden die wesentlichen Erkenntnisse und Aussagen der Arbeit zusammen­gefasst und in einem größeren Zusammenhang kritisch reflektiert. Ein Ausblick, der die Zukunft und weitere Möglichkeiten der Identitätsforschung thematisiert, wird die Arbeit abschließen.

1 Grundlagen: „Trip auf der Geisterbahn der Identität“

Identität ist ein populäres Phänomen, das sich durch Mehrdimensionalität auszeichnet und schwer zu fassen ist. In den letzten Jahren scheint Identität zu einer Art Lieblingskind der verschiedensten Wissenschaften geworden zu sein. Besonders in den Sozial- und Geisteswissenschaften steht Identität im Zentrum der Forschung und die Menge an Publikationen mit Identitätsbezug ist kaum noch zu überschauen. Der Preis für die allseits entgegengebrachte Aufmerksamkeit ist die zunehmende Begriffsunschärfe. Identität wird je nach Erkenntnis­interesse und wissenschaftlicher Fachrichtung unterschiedlich verstanden und definiert. Ein allseits akzeptiertes, verbindliches und von einigen Forschern auch gefordertes identitätstheoretisches Paradigma ist nicht in Sicht.

Neben der Popularität im akademischen Bereich hat der Identitätsbegriff auch in den Medien Konjunktur, was die Vielschichtigkeit der Bedeutungen noch zusätzlich erweitert. Diese Entwicklung wird bereits von verschiedenen Seiten kritisch kommentiert. So geißelt beispielsweise Hans-Ulrich Wehler Identität als „Plastikwort“. Er beanstandet die zu­nehmende Mehrdeutigkeit des Identitätsbegriffs und den damit einhergehenden inhaltlichen Substanzverlust, der nur durch einen unüberschaubaren Wildwuchs an Konnotationen zu kompensieren ist (vgl. Wehler 2003, S. 15). Ähnlich drastisch äußert sich Lutz Niethammer, wenn er den Identitätsbegriff gewissermaßen als einen in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendeten, konnotationsreichen catch-all-term bezeichnet, der mehr verhüllt als verständ­lich macht. Seine Untersuchungen beschreibt er selbst als „Trip auf der Geisterbahn der Identität“. Für ihn ist „kollektive Identität eher etwas für Detektive als für Theoretiker“ (Niethammer 2000, S. 177, 634).

Diese teils berechtigte, in ihrer Schärfe aber doch überzogene Kritik am Identitätsbegriff sollte jedoch nicht zu Resignation führen, sondern positiv gedeutet werden. Für diese Arbeit wird sie als Aufforderung verstanden, identitätstheoretische Grundlagen zu reflektieren und das daraus abgeleitete, der Arbeit zu Grunde liegende Identitätsverständnis plausibel zu machen.

1.1 Annäherung an den Identitätsbegriff

Etymologisch geht der Begriff der Identität bis zur Antike zurück. Das lateinische „Idem“ kann mit „dasselbe“ übersetzt werden und deutet ursprünglich auf Gleichheit, Artgleichheit bzw. wesensgleiche Übereinstimmung hin. Das darauf aufbauende „Principium Identitatis“ war eines der wichtigsten Prinzipien der Logik und diente bereits im Altertum als Mittel der Orientierung und Ordnung der Welt. Später kam es dann zur semantischen Wandlung. Identität wurde nicht mehr als bloße Beschreibung von reinen Objektbeziehungen verstanden, sondern als geistig-seelische Subjektbeziehung im Sinne von sich identifizieren – mit einer Idee oder Weltanschauung oder mit einer bestimmten Person (vgl. Walkenhorst 1999, S. 19). Ausgehend von diesem neuen Begriffsverständnis entstand eine Vielzahl von Definitionen, die für die Identität von Individuen oder Gruppen die Übereinstimmung von Ideen, Ansichten oder äußerlichen Merkmalen als konstitutiv bezeichneten (vgl. Bruha/Rau 2004, S. 290). Das diese Übereinstimmung und Zugehörigkeit auf einem geistigen und emotionalen Prozess basiert, verdeutlicht stellvertretend Waldemar Lilli, indem er darauf hinweist, dass Identität das individuelle Wissen über Zugehörigkeit ist, verbunden mit emotionalen Wert-Bedeutungen (vgl. Lilli 1998, S. 141).

Ein eher antiquiertes Identitätsverständnis folgt dem ontologisch-objektivierenden Ansatz. Identität wird hier im Sinne von Einzigartigkeit verstanden. Exemplarisch soll hierfür die Definition von Thomas Bruha und Markus Rau stehen:

„Identität als die Summe derjenigen Merkmale, die einer Person oder einem Gegenstand im Vergleich zu anderen Personen oder Gegenständen zu Eigen sind, das Wesen, die Einheit der Person oder des Gegenstandes ausmachen“ (Bruha/Rau 2004, S. 290).

Diese auf objektiv bestimmbare Merkmale reduzierte Identität zielt vor allem auf individuelle Unverwechselbarkeit ab, beinhaltet aber auch schon ein entscheidendes Kriterium moderner Identitätsauffassungen – die Abgrenzung. Wenn heute von Identität die Rede ist, bezieht sie sich vor allem auf unterschiedlichste Formen von Gruppenzugehörigkeit und nicht auf individuelle Unverwechselbarkeit (vgl. Siems 2005, S. 2). Dass Identität nicht auf objektiven Merkmalen oder Gemeinsamkeiten, sondern auf Vorstellungen basiert und zudem als dynamisches, wandelbares Ergebnis sozialer Konstruktion zu verstehen ist, wird in Kapitel 1.2.3 ausführlich erläutert.

1.2 Konzeptionelle Grundlagen

Für ein tieferes Verständnis von Identität ist es nötig, sich mit den bisherigen theoretischen Ansätzen der Identitätsforschung vertraut zu machen. Es bietet sich an, die in der Literatur häufig zu findende historische Dreiteilung von personaler, sozialer und kollektiver Identität in einem kurzen Abriss darzustellen, da das Thema der Arbeit, die europäische Identität, gewissermaßen am Ende des historischen Kontinuums identitätstheoretischer Überlegungen steht.

1.2.1 Personale Identität

Unter dem Konzept der personalen Identität werden verschiedene Bedeutungen subsumiert. Ursprung aller auf das einzelne Individuum bezogenen Überlegungen zur Identität ist das psychoanalytische Persönlichkeitskonzept von Erikson. Identität wird hier als psychosoziale Persönlichkeit beschrieben, die herausgebildet werden muss. Die Entwicklung von Identität wird als Abfolge von Entwicklungsaufgaben verstanden, so genannten »psycho-sozialen Krisen«, die phasenspezifisch aktuell werden und nacheinander gelöst werden müssen. Ich-Identität ist demnach ein Zuwachs an Persönlichkeitsreife, ein Ergebnis der Kindheits-erfahrungen (vgl. Erikson 1970). Allgemein beschreibt das Konzept der personalen Identität einen Zustand der Übereinstimmung des Egos mit sich selbst beziehungsweise ein Prozess der Selbstvergewisserung einer inneren Stimmigkeit seiner Person (vgl. Kaelble/Kirsch/Schmidt-Gernig 2002, S. 8 ff.). Ferner wird personale Identität als reflexives Projekt des Individuums definiert, als synthetische Leistung des Individuums, mit der es für sich und andere eine gewisse Einheitlichkeit seiner Handlungen erreicht – als Kohärenz über seine multiplen Handlungsfelder hinweg und als Kontinuität entlang der Veränderungen seines Lebenslaufs (vgl. Kohli 2002, S. 112).

Wichtige Erkenntnis für das heutige Verständnis von Identität ist vor allem, dass Identität kein statisches oder homogenes Phänomen ist.

1.2.2 Soziale Identität

Sozialpsychologisch gesehen ist der Prozess der Selbstvergewisserung, den die personale Identität beschreibt, nur möglich im Spiegel der Anderen. Genau auf diese Problematik der intersubjektiven Herausbildung von Identität beruhen die Überlegungen zur sozialen Identität. Teilweise wird soziale Identität auch als Oberbegriff zur personalen und kollektiven Identität benutzt. Grundsätzlich bezieht sich das Konzept der sozialen Identität aber auf Inter­aktionsprozesse, in denen Individuen andere Individuen identifizieren und von diesen identifiziert werden, wobei diese Prozesse auch die Grundlage für die Selbstidentifikation bilden (vgl. Kohli 2002, S. 112 ff.).

Theoretisch fußt das Konzept auf dem von George H. Mead entwickelten symbolischen Interaktionismus. Dieser betont die Bedeutung von Sprache und sozialer Interaktion für die Entwicklung und Aufrechterhaltung persönlicher Identität:

„Identität entwickelt sich; sie ist bei der Geburt anfänglich nicht vorhanden, entsteht aber innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitspro-zesses, das heißt im jeweiligen Individuum als Ergebnis seiner Beziehungen [...] zu anderen Individuen innerhalb dieses Prozesses.“ (Mead 1973, S. 177, Auslassung A. D.)

Dabei werden die Einstellungen und Erwartungen des jeweils anderen Interaktionspartners antizipiert. Identität beinhaltet somit zum einen die Summe der Erwartungen seitens der Anderen und das spontane Moment, wie das Ich auf diese Erwartungen reagiert.

Ein weiteres wichtiges Konzept in diesem Zusammenhang ist der strukturelle Inter­aktionismus, der die Vielzahl verschiedener Erwartungen an das einzelne Individuum unterstreicht. Er hebt, wie der Name schon sagt, die strukturellen Aspekte von Identität hervor. Identitäten werden im Plural als internalisierte Rollen verstanden, da Individuen in modernen Gesellschaften verschiedene Positionen (Ehemann, Lehrer, Vater) einnehmen, an die konkrete gesellschaftliche Verhaltenserwartungen geknüpft sind. Folglich besitzt eine Person mehrere Sub-Identitäten, die durch die soziale Position in einer strukturierten Gesellschaft definiert sind. Identität ist in diesem Konzept das Produkt der Art und Weise wie die gesellschaftlichen Rollen in dem einzelnen Individuum hierarchisch organisiert sind (vgl. Bogdandy 2002, S. 111 ff.).

Auch die Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann verweisen auf gesellschaftliche Einflüsse bei der Herausbildung einer personalen Identität, indem sie eine klare Wechsel­wirkung von Individualisierung und Vergesellschaftung konstatieren. Für sie ist der »homo sapiens« immer auch »homo socius«, also ein durch die Gesellschaft geprägtes Wesen (vgl. Berger/Luckmann 1977).

Erwähnt seien noch Konzepte, die versuchen personale und soziale Identität miteinander zu verbinden. So beschreibt beispielsweise Erving Goffman wie stigmatisierte Menschen, also Menschen mit Körper-, Geistes- und Charakterdefekten, mit zwei Identitäten leben müssen. Zum einen mit einer Pseudo-Identität für die Gesellschaft, die Anerkennung und Sympathie garantiert, und zum anderen mit ihrer realen, defekten Identität, die hinter dem Ich-Ideal zurückbleibt. Die personale Identität bezieht sich hier wieder auf die Unverwechselbarkeit des Individuums, die sich aufgrund seiner organischen Einmaligkeit und seiner spezifischen lebensgeschichtlichen Daten ergibt. Ergänzt wird sie durch die soziale, die Pseudo-Identität, die das Ergebnis gesellschaftlicher Erwartungen, Ideale und Normen ist. Sie erwächst aus der Tatsache sozialer Interaktionen und sozial bezogener Bedürfnisse (Goffman 1972). Abschließend sei noch die von Jürgen Habermas entwickelte Theorie der Ich-Identität erwähnt. Ich-Identität wird hier als höchste Stufe der Identitätsentwicklung verstanden und stellt die Balance zwischen persönlicher und sozialer Identität dar. Persönliche Identität äußert sich in der Einheit einer unverwechselbaren Lebensgeschichte und soziale Identität resultiert, analog zum strukturellen Interaktionismus, aus der Zugehörigkeit eines Individuums zu verschiedenen Bezugsgruppen und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Rollen (vgl. Habermas 1976, S. 63 ff.).

Die herausragende Bedeutung von Sprache sowie gesellschaftlichen Interaktionprozessen und Erwartungshaltungen für die Herausbildung von Identitäten sind die wichtigsten Erkenntnisse dieser Theorierichtung.

1.2.3 Kollektive Identität

In der Literatur wird oft angegeben, dass kollektive Identität auf einer metaphorischen Übertragung des psychologischen Begriffs der Ich-Identität auf die kollektive Ebene beruht (vgl. Sutter 2001, S. 180). Doch ein Kollektiv hat kein Ich, das bestrebt wäre, seine Identität zu finden. Ein Kollektiv ist kein Subjekt mit einem auf sich bezogenen Bewusstsein und einem einheitlichen Willen. Kollektive Identität basiert grundlegend auf Zugehörigkeits­vorstellungen, „weil die Mitglieder [...] die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert“ (Anderson 1996, S. 15, Auslassung A. D.). Kollektive Identität bezeich­­net also Zugehörigkeitsvorstellungen, bezieht sich daher vor allem auf Wir-Gefühle, Gemeinschaftsvorstellungen, Muster von Mitgliedschaft im Sinne der Zugehörigkeit zu Gruppen, Familien, Schichten, Klassen, Nationen oder ganzen Zivilisationen (vgl. Kaelble/Kirsch/Schmidt-Gernig 2002, S. 8 ff.).

Geprägt ist kollektive Identität durch gesellschaftliche und historische Gemeinschafts­erfahrungen sowie gemeinsame Interessen, Weltauffassungen und Wertorientierungen. „Für Identität sind bestimmte Wert-Programme, stabile Traditionen und ein generations­übergreifendes, legitimiertes Geschichtsbewusstsein nötig“ (Viehoff/Segers 1999, S. 28). Um kollektive Identität zu entwickeln sind neben der gemeinsamen Vergangenheit aber auch gemeinsam geteilte Zukunftsvorstellungen und Utopien unverzichtbar (vgl. Heit 2005, S. 19).

Weitestgehend anerkannt ist heute die soziale Konstruktion von kollektiven Identitäten.[1] Verdeutlicht werden soll diese Position durch ein Zitat von Bernhard Giesen:

„Vorstellungen von einer naturalen oder vorsozialen Gegebenheit von Gemeinschaftlichkeit sind obsolet; die Form der Gemeinschaftlichkeit und kollektive Identität wird nicht mehr primordial und ursprünglich betrachtet, sie gilt nicht als biologisch bedingt, sondern als sozial erzeugt“ (Giesen 1999 a, S. 392).

Hartmut Kaelble schreibt dazu, dass kollektive Identität auf spezifische Herausforderungen sozialen und politischen Wandels reagiert und „nicht zuletzt von Eliten und sozialen Bewegungen konstruiert, inszeniert und uminterpretiert wird“ (Kaelble/Kirsch/Schmidt-Gernig 2002, S. 8 ff.).

Bei diesem Prozess der sozialen Konstruktion spielen Medien, Öffentlichkeit und Kommunikation im Verbund eine entscheidende Rolle. Für Kohli (2002) und Saxer (1999) impliziert kollektive Identität Kommunikationsvorgänge von großer Vielfalt und Komplexität. Auch für Delanty (1999) ist Kommunikation neben der institutionellen Ordnung die Basis für kollektive Identität. Nach Siegfried J. Schmidt emergieren aus Interaktion und Kommunikation „im Laufe der Geschichte die Wirklichkeitsmodelle von Gemeinschaften und Gesellschaften“ (Schmidt 1999, S. 121). Für Reinhold Viehoff basiert kollektive Identität gar „auf einem mindestens dreistufigen Prozess kommunikativer Interaktion“, der erstens durch die Kommunikation über »Uns«, also über Einstellungen, Lebensstile und Denkweisen, und zweitens über den Unterschied zwischen »Uns« und den »Anderen« definiert ist. Die dritte Stufe bezieht sich auf Kommunikationsformen, die durch das jeweilige Mediensystem beeinflusst und geprägt werden (vgl. Viehoff 2002, S. 292). Das für solche Prozesse ein hohes Niveau kommunikativer Kompetenz nötig ist und allgemeine und gleiche Chancen der Teilhabe an den Kommunikationsprozessen erforderlich sind, konstatiert Müller-Doohm (1999, S. 78). Die herausragende Bedeutung der Medien und Öffentlichkeit für die soziale Konstruktion von Identität wird durch folgendes Zitat beispielhaft belegt:

„Mit Hilfe spezifischer sprachlicher und begrifflicher Medien wird mit zeitlichen und meist auch räumlichen Bezügen Gemeinschaft konstruiert. Kollektive Identität ist im Unterschied zur personalen Identität vor allem an „Öffent-lichkeiten“ im weitesten Sinne gebunden, d.h. sie müssen in einem öffentlichen Raum artikuliert werden und medial vermittelt sein, um überhaupt auf kollektiver Ebene wirksam werden zu können. Je ausdifferenzierter die Gesellschaft, desto schwieriger ist „Gemeinschaft“ herzustellen, desto wichtiger sind Integrations­medien der Öffentlichkeit (Kaelble/Kirsch/Schmidt-Gernig 2002, S. 8 f).

Weithin Übereinstimmung besteht auch darin, dass sich kollektive Identitätsentwürfe auf ein „spezifisches gesellschaftliches Werte- und Normensystem, auf geteilte Wertorientierungen und soziale Deutungsmuster“ beziehen. Kollektive Identität beruht demnach „auf Verbun­denheit im Geiste und der Teilhabe an einer gemeinsamen Sinnwelt“, die durch Werte geschaffen wird (Teetzmann 2001, S. 13). Auch für Viehoff und Segers ist „eine gewisse Stabilität der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen oder zumindest bestimmter Wertorientierungen“ Voraussetzung für die Konstruktion eines Kollektivs (Viehoff/Segers 1999, S. 28).

Kostitutivum kollektiver Identität ist die Operation des Unterscheidens.[2] Kollektive Iden­titäten sind Strategien der Distinktion – stilisierte Praktiken, über die sich Gruppen selber definieren und von anderen absetzen (vgl. Kohli 2002, S. 112).

„Erst Zugehörigkeit und sozialer Vergleich zusammen geben eine Antwort auf die Identitätsfrage: Wer bin ich und wohin gehöre ich?“ (Lilli 1998, S. 141).

Jedoch muss Inklusion und Exklusion nicht gleichbedeutend sein mit der Entwicklung von Feindbildern. Grundlage solcher häufig binären Unterscheidungen sind kollektiv geteilte Werte und Normen bzw. darauf aufbauende Verhaltens- und Habitusformen. Zur vorgestellten Gemeinschaft gehört demnach nur, wer die gleichen Werte und Normen teilt, entsprechende Verhaltensmuster daraus ableitet und sich an die gleichen Institutionen gebunden fühlt (vgl. Kaelble/Kirsch/Schmidt-Gernig 2002, S. 8 ff.). Fokkema (1999) weist berechtigterweise darauf hin, dass Fremdbilder, also Bilder des »Anderen«, diskursiv konstruiert und kritisch zu betrachten sind, weil Objektivität nicht möglich ist und Fremdbilder und Selbstbilder immer „Verzeichnungen“ sind (vgl. Fokkema 1999, S. 52 ff.).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass kollektive Identität eine Zugehörigkeits­vorstellung ist, die auf einer historischen und kulturellen Vergangenheit basiert und sozial konstruiert ist. Kommunikation, Interaktion, Medien und Öffentlichkeit sowie ein gemeinsames Normen- und Wertesystem sind dafür grundlegend. Ein weiteres wesentliches Merkmal kollektiver Identität ist die Unterscheidung zwischen »Uns« und den »Anderen«.

2 Europäische Identität

Kollektive Identität ist als Oberbegriff für alle Arten von Zugehörigkeitsvorstellungen zu verschiedenen Gemeinschaften zu verstehen. Egal ob Geschlechter-, Mannschafts- oder Gruppenidentität, es handelt sich um Kollektive. Oftmals werden Gemeinschaften auch politisch oder geographisch definiert und in diesem Zusammenhang spricht man dann beispielsweise von regionaler beziehungsweise nationaler Identität. Dieser Logik folgend, bezieht sich europäische Identität auf Gemeinschaftsvorstellungen, die mit der Europäischen Union verbunden sind.

2.1 Theoretisches Spektrum

Es gibt eine Unmenge theoretischer Positionen, die versuchen, europäische Identität respektive ihre Entstehungsvoraussetzungen und -bedingungen zu bestimmen, zu erklären oder zu beschreiben. Das Charakteristikum des theoretischen Spektrums ist Disparität. Im Hinblick auf die später anschließende Medienanalyse folgt die Strukturierung und Konfiguration der Theoriestränge einer ganz konkreten Fragestellung: Worauf bezieht sich europäische Identität?

Bei der Rezeption des Theorieüberblicks sollte allerdings das Grundverständnis dieser Arbeit – kollektive Identität ist nichts natürlich Gegebenes, sondern das wandelbare Ergebnis sozialer Konstruktion – im Hinterkopf behalten werden. Die folgenden theoretischen Ansätze zur Bestimmung einer europäischen Identität sind dann gleichzeitig als Beitrag zu ihrer Konstruktion zu verstehen. Es findet nämlich das statt, was Soziologen die soziale Konstruktion von Realität nennen. „Europa wird erfunden, und der damit in Gang gesetzte Diskurs hat irgendwann reale Folgen“ (Eder 1999, S. 148).

Bis auf die Ausnhame der historischen Substantialisten stellt heute kaum noch jemand die Konstruktion europäischer Identität zur Diskussion. Interessant ist eigentlich nur noch die Frage, wie Identität konstruiert wird, ob sie beispielsweise ein kulturell-historisches Fundament benötigt oder nicht.

2.1.1 Europäische Identität aus der „Mottenkiste der Geschichte“

„Seit jeher, und heute mehr denn je, habe ich gespürt, was doch die Nationen, die Europa bevölkern, gemeinsam haben. Alle sind von derselben weißen Rasse, derselben christlichen Herkunft, derselben Lebensart; seit eh und je einander verbunden durch ungezählte Bande des Denkens, der Kunst, der Wissenschaft, der Politik, des Handelns; und so entspricht es ihrer Natur, dass sie ein ganzes werden, das in dieser Welt seinen Charakter und seine Gestalt findet“ (Gaulle 1971, S. 440).[3]

Die Aussage Charles de Gaulles steht exemplarisch für eine obsolete, aber noch immer tief im Bewusstsein vieler Theoretiker verankerte Grundauffassung, die von der objektiven Existenz und Rekonstruierbarkeit eines gemeinsamen europäischen Fundaments aus Geschichte und Kultur ausgeht (Joas/Wiegandt 2005, Seibt 2005, Thiede 2005, Kocka 2002).[4] Aus gewissermaßen historisch-substantialistischer Perspektive behaupten Vertreter dieser Position, dass Europa „genuin europäische Traditionen von Werten, Erfahrungen, Methoden und Einrichtungen“ sowie einen „European way Dinge zu tun“ besitzt (Hettlage/Müller 2006, S. 15).

Die meisten Vertreter des historischen Ansatzes beschreiben die klassische Antike als Kern europäischer Tradition. Im Mittelpunkt steht dabei die Befreiung aus der Befangenheit im magischen Denken. Die Griechen begannen mit der Entzauberung der Welt und ebneten damit den Weg für den Übergang vom Mythos zum Logos. Mit dem Höhlengleichnis in Platons Politeia ist die erste Phase der Aufklärung fixiert. Ferner wird mit der griechischen Antike der Beginn der Staatsphilosophie und des wissenschaftlichen Denkens verbunden (Weidenfeld 1985, S. 14 f., Löwenthal 1985, S. 43f.). Adolf Muschg sieht in dieser Epoche die Geburt des politischen Diskurses des Abendlandes (vgl. Muschg 2005, S. 26). Die Bedeutung des antiken Roms für das heutige Europa wird an der Verbreitung der lateinischen Sprache und der „artes liberales“ festgemacht. Die Übermittlung der „artes liberales“ wird als prägend für die Grundstruktur europäischen Denkens und als Grundlage für die Entwicklung der modernen Geisteswissenschaften bezeichnet. Überdies wird das »Römische Recht« als geistige und zivilisatorische Leistung und Vorläufer der modernen Rechtsstaatlichkeit hervorgehoben (vgl. Gehrke 2005, S. 28, Meier 2005, S. 93 ff.).

Eine andere prominente Position betont die griechisch-römische und jüdisch-christliche Tradition als Bestandteil europäischer Identität (Huber 2005, Robbers 1995, Rémond 1998). Der heilige Benedikt von Nursia gilt dank seiner Ernennung durch Papst Paul VI. zum Patron Europas als Gründer des westlichen Mönchtums. Seine Aufforderung „Ora et labora“ wird als symbolhafte Verdichtung europäischer Lebensweise beschrieben:

„Nicht die weltabgewandte Kontemplation, nicht die Selbstauflösung im Nirwana, nicht der Fatalismus längst vorbestimmter Naturzwänge werden zum Signum Europas, sondern sinnorientiertes, sinnvolles Handeln“ (Weidenfeld 1985, S. 13 ff.).

Bezüglich Religion wird besonders die Bedeutung christlicher Werte für das Europa der Gegenwart von vielen politischen, kulturellen und natürlich kirchlichen Würdenträgern hervorgehoben. Exemplarisch für diese Position ist die Anrede von Birgit Lermen zur Eröffnung der internationalen Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung „Literatur, Werte und Europäische Identität“ im Oktober 2003 in Danzig:

„(...) Das christliche Ethos hat den Kern der westlichen Demokratien geprägt. Es ist darum kein museales Überbleibsel des christlichen Abendlandes und auch nicht nur die ideengeschichtliche Quelle von Aufklärung und Humanismus, sondern die tragende Basis der unteilbaren und universellen Werte: Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit und Solidarität“ (Lermen, Birgit; zitiert nach Szyszko 2005, S. 52, Auslassung A. D.).

Die Renaissance begründet nach Ansicht vieler Autoren die europäische Orientierung an einem Konzept geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Bildung. Sie gilt als Vorläufer der modernen Wissenschaft, weil in dieser Epoche beispielsweise Machiavelli Politik erstmals ohne normative Grundlage denkt, Leonardo da Vinci ohne ethische Bedenken den menschlichen Körper seziert und Kopernikus die Erde zu einem Planeten unter Planeten macht. Zudem wird betont, dass der Mensch in dieser Phase in den Mittelpunkt von Wissen und Kultur gerückt wird. Humanistischen Idealen folgend wird er nun als Kultur schaffendes und bildungsfähiges Wesen perzipiert und erhält die zentrale Rolle in der Zivilisation. Laut Szyszko entwickelte sich in der Renaissance das Bewusstsein der vom Dogma unabhängigen, selbstständigen Individuen (vgl. Szyszko 2005, S. 39 ff.).

Irena Agata Szyszko, als eine von vielen, schreibt auch die Aufklärung und die bürgerlichen Revolutionen mit ihren gesellschaftspolitischen Folgen in das Fundament einer gemeinsamen europäischen Kultur. Wesentlicher Punkt in ihrem Konzept ist die Säkularisierung, die Entthronung von Bibel und kirchlicher Tradition als alleinige geistige Autoritäten. Die Rationalisierung der Welt, die Anerkennung der Kraft des Arguments und die Einsicht in die Notwendigkeit der Autonomie der Wissenschaft sowie der Aufruf, der intellektuellen Unmündigkeit zu entfliehen, sind für sie Europa prägende Entwicklungen in dieser Zeit. Philosophen wie Voltaire, Diderot, Montesquieu, Descartes, Bacon, Kant, Leibnitz, Hobbes, Locke haben ihrer Meinung nach mit einem unerschütterlichen Glauben an die menschliche Vernunft in Europa eine neue Stufe des Denkens etabliert (vgl. Szyszko 2005, S. 85 ff.).

In Folge der Aufklärung kam es dann zu den bürgerlichen Revolutionen in Europa. Die Völker Europas erhoben sich und setzten sich solidarisch für die freiheitlichen Ideale ein, um die höchsten demokratischen Prinzipien ins Leben zu rufen. Als Beispiel nennt Szyszko die französische Revolution, die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu Prioritäten eines republikanischen Systems erhob und damit die Proklamation der Menschen- und Bürgerrechte in Europa und deren spätere Verbreitung in der Welt vorbereitete. Ferner führt sie als historisches europäisches Erbe Napoléons Empire, ein straff durchorganisiertes Europa unter französischer Vorherrschaft, an. Zusammengefasst sind für Szyszko die Errungenschaften, die seit der Französischen Revolution auf Dauer in die Identität das modernen Europas eingingen, neben der Proklamation von Bürger- und Menschenrechten und der Trennung von Kirche und Staat, der Ausbau eines modernen Verwaltungs- und Rechtsstaates, institutionalisiert im Code Napoléon, ferner der Anspruch von Frauen auf Gleichstellung und Emanzipation sowie die Sozialisierung der Gesellschaften durch Arbeits- und Sozialgesetzgebung (vgl. Szyszko 2005, S. 93 ff.).

Werner Weidenfeld und Richard Löwenthal folgen in ihren Argumentationen dem Modernisierungsparadigma. Sie definieren Europa primär über den Stand seiner Modernität im Vergleich zu anderen Regionen und ziehen dabei eine historische Linie von der prägenden Kraft der »protestantischen Ethik« über Renaissance und Aufklärung bis zur Industrialisierung im 19. Jahrhundert. In diesen Epochen liegt für sie die heutige wirtschaftliche Vormachtstellung Europas, die sie als Basis eines europäischen Selbstverständnisses ansehen, begründet (vgl. Löwenthal 1985, S. 43ff., Weidenfeld 1985, S. 13 ff.).

Es gehört zu den Grundaporien der Bestimmungsversuche von Europa, es durch eine Vielzahl von Merkmalen auszeichnen zu wollen, es aber gerade durch eine noch so vollständige Auflistung nicht wirklich greifen zu können (vgl. Elm 2002, S. 9). So kam die Arbeit der Reflexionsgruppe über „das geistige und kulturelle Erbe Europas“, welche seinerzeit von Kommissionspräsident Prodi in Auftrag gegeben wurde, zu dem Befund, dass „es kein Wesen Europas, keine feststehende Liste europäischer Werte gibt.“ Die Existenz eines gemeinsamen europäischen Kulturraums wird zwar bestätigt; dieser hingegen sei ein „nicht eindeutig bestimm- und begrenzbarer Raum der Vielfalt unterschiedlicher, miteinander verschlungener und häufig auch einander widersprechender Traditionen.“ Gegen die Idee eines Geschichtsdeterminismus gewendet, gehen sie somit von der prinzipiellen Offenheit des geistigen und kulturellen Erbes Europas aus (Biedenkopf et al. 2004, S. 85 ff.). Selbst die Vertreter kultur-historischer Theorien konstatieren, dass eine solche gemeinsame Vergangenheit weder eindeutig zu bestimmen noch unumstritten ist. Irena Agata Szyszko beschreibt Europa letztlich als Kulturtiegel, weil auch Einflüsse arabischer Philosophie, byzantinischer Kunst und ostasiatischer Malerei kulturelle Quellen sind, die zu einer harmonischen Synthese in Europa ineinander flossen (vgl. Szyszko 2005, S. 23 ff.). Winfried Loth konstatiert, dass Staat, Religion, Wissenschaft, Schriftlichkeit, Militär und Krieg als Grundlage europäischer Kultur ihren Ursprung im alten Orient haben. Es handelt sich also nicht um genuin europäische Errungenschaften, weil die europäische Zivilisation eben ohne diese ersten orientalischen Hochkulturen nicht zu denken ist (vgl. Loth 2002, S. 95). Selbst das Christentum, so oft mit vollendetem Pathos als kulturelles Erbe Europas zitiert, wird als Ursprung in Frage gestellt. Als erstes wird angeführt, dass es nicht europäischen Ursprungs ist. Herkunftsland ist eindeutig Judäa. Auch können die christlichen Wurzeln als gemeinsame Basis einer europäischen Identität angesichts der großen religiösen Konflikte und Kriege innerhalb Europas nicht wirklich überzeugen. Als Beispiele dienen die Emigration der Pilgrimfathers, der 30-jährige Krieg und der Nordirlandkonflikt (vgl. Gellner/Glatzmeier 2005, S. 12).

2.1.2 Konstruktion europäischer Historie

In der Literatur wird die Frage nach der Notwendigkeit gemeinsamer Geschichte und Kultur für die Herausbildung einer europäischen Identität zwar mehrheitlich bejaht, allerdings wird dabei in Abgrenzung zu den historischen Substantialisten das konstruktive Moment dieser gemeinsamen Geschichte in den Vordergrund gestellt. So herrscht weitestgehend Einigkeit darüber, dass ein gemeinsames historisches Fundament nur das Ergebnis einer sozialen Konstruktion sein kann:

„Identität lässt sich als Projektidentität bezeichnen, da ihre Konstrukteure [...] auf der Grundlage irgendwelcher verfügbarer kultureller Materialien eine neue Identität aufbauen“ (Castells 2002, S. 10, Auslassung A. D.).

Verweise auf ein gemeinsames kulturelles Erbe und historische Erfahrungen basieren demnach ausschließlich auf Konstruktionen und nicht auf objektiv nachprüfbaren gemein­samen Geschichtserfahrungen, wie es die historischen Substantialisten Glauben machen wollen. Stattdessen wird vielmehr mittels traditionaler Codes eine Vergangenheit konstruiert, „mit deren Hilfe die Gegenwart in ein Muster eingereiht wird, das sie begründet“ (Giesen 1999 b, S. 31).

Bernhard Giesen (2002) versucht, das Problem der nicht genau zu bestimmenden kulturellen und historischen Gemeinsamkeiten Europas mit einer historisch orientierten diskurstheoretischen Konstruktion europäischer Identität zu lösen. Demnach wurde die kollektive Identität Europas von Intellektuellen innerhalb historischer transnationaler Diskursformationen, die ein Repertoire von Vorstellungen der europäischen Einheit schufen, konstruiert. Fünf Diskurse sind zentral in Giesens Theorie. Er beginnt mit dem Diskurs über die klassizistische Ästhetik und sieht die Formen der Antike als ästhetisches Erbe Europas an. Der zweite Diskurs bezieht sich auf Kaiser und Reich seit dem neunten Jahrhundert. Europa wird hier als lateinisches Kaisertum diskursiv konstruiert, wobei der christlichen Religion als Einheit stiftendes Moment zentrale Bedeutung zukommt. Als dritten Diskurs bezeichnet Giesen die transnationale Kommunikation über Europas koloniale Mission. Dabei bezieht er sich vornehmlich auf den Diskurs über Europa im Kontrast zu anderen Kulturen. Europa als Aufklärungsbewegung und der Prozess der Säkularisierung lösten laut Giesen den vierten Diskurs aus. Dieser zielte erstmals explizit auf ein europaweites Publikum. Rousseau, Kant und Herder beschäftigten sich mit europabezogenen Themen und es erschienen Publikationen mit Titeln wie „theatrum europeum“. Inhaltlich ging es primär um die Herausbildung einer über natürliche Moral und Vernunft geeinte Menschheit. Der letzte von ihm angeführte Diskurs bezieht sich auf Europa als Bürgerrechtsbewegung. Er begann gegen Ende des 18. Jahrhunderts als soziale und politische Bewegung, deren Ziel es war, Zugang zu Bürgerrechten und Teilhabe an politischen Prozessen für möglichst viele Gesellschafts­mitglieder zu erlangen. Geschichtsmächtiger Ausdruck sind nach Gießen die großen Revolutionen des 18., 19., und 20. Jahrhunderts, bei denen die Forderungen nach Demokratie und Menschenrechten und der Kampf um das natürliche Recht zur Selbstbestimmung den Kern bildeten (vgl. Giesen 2002, S. 67 ff.).

Weitere Versuche, mit Rekurs auf die Historie eine europäische Identität zu begründen, konzentrieren sich auf die Konstruktion eines gemeinsamen Gründungsmythos. Ein Ansatz ist, die dramatischen Unrechtserfahrungen von Holocaust und zweitem Weltkrieg, die den EU-Mitgliedstaaten gemeinsam sind, zu Geburtshelfern der europäischen Einigung zu stilisieren, gewissermaßen als ihr Gründungsmythos (vgl. Bruha/Rau 2004, S. 291). Ein anderer Vorschlag hebt auf die friedlichen Revolutionen seit 1989 ab. Claus Leggewie sieht in ihnen den Freiheitsgedanken, die ideelle Ausrichtung Europas exemplarisch verkörpert und hält sie für geeignet, zum Gründungsmythos des vereinten Europas zu werden (vgl. Leggewie 1999, S. 193). Auch eine griechische Sage aus dem 4. Jahrhundert vor Christus wird als Gründungsmythos zitiert. Zeus, als König der heidnischen Götter, entführt in Gestalt eines Stiers die phönizische Königstochter Europa und bringt sie nach Kreta. Aus dieser Verbindung geht dann die minoische Herrscher-Dynastie hervor, die Europa begründet (vgl. Kocka 2005, S. 55). Zwei Fragen seien hierzu erlaubt: Warum soll gerade eine gewaltsame Entführung mit nahe liegender Vergewaltigung die Grundlage einer europäischen Identität sein? Und warum muss eigentlich ausgerechnet die aus Asien stammende Europa als Mutter des europäischen Kontinents herhalten? Sonderlich überzeugend erscheinen die Vorschläge zur mythologischen Begründung Europas nicht.

Europa als Erinnerungsgemeinschaft ist ein Ansatz, der das kollektive Gedächtnis zum Fixpunkt der Identität macht anstelle essentialistischer Merkmale wie gleiche Sprache, Riten oder Sitten. Das kollektive Gedächtnis bezieht sich auf die selektive Konstruktion einer Vergangenheit, die als gemeinsamer Bezugspunkt für ein in sich heterogenes Kollektiv dient. Zentraler Mechanismus der Identitätsbildung ist die gemeinsame Erinnerung. Europa wird zur Erinnerungsgemeinschaft, in der freilich nicht so sehr den Siegen, sondern den Traumata, den Gräueln des 20. Jahrhunderts eine zentrale Stelle zukommt. Die Konstruktion der gemeinsamen Erinnerung basiert dabei auf memorialen Zeichen, Symbolen, Texten sowie Bildern, Riten, Praktiken, Orten und Monumenten (vgl. Assmann 2005, S. 24 f.). In diesem Zusammenhang weist auch Martin Kohli auf die kulturell-symbolische Bedeutung von „Erinnerungsorten“ für die Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit hin. Im Vor­dergrund stehen für ihn die Handlung hervorrufenden kulturellen Deutungssysteme wie „Denkmäler, Feiertage, Mythen, Helden, Hymnen, Flaggen, Museen und Wallfahrten“ (Kohli 2002, S. 120 ff.). Die Idee Assmanns, kollektive Identität über die Schuld der Vergangenheit zu konstruieren, wird auch von Giesen (2002) thematisiert. Allerdings fügt er kritisch an, das die Schicksalserfahrungen bisher nur im nationalen Raum erinnert werden, da die nationalen Gesellschaften bisher noch keine transnationale Identität entwickelt haben (vgl. Giesen 2002, S. 60 ff.). Ähnlich argumentiert Peter Graf Kielmansegg. Auch für ihn ist Europa keine Erinnerungsgemeinschaft, weil das, was war, nicht als gemeinsame europäische Vergang­enheit erinnert wird, sondern als Mehrzahl von Völkergeschichten. Überdies stellt für Kielmansegg Europa auch keine Erfahrungsgemeinschaft dar. Dafür mangelt es noch an gemeinsamen europäischen Erfahrungen. So sieht er die Bedrohung im Ost-West-Konflikt nur als gemeinsame Erfahrung für Westeuropäer und nicht für ganz Europa (vgl. Kielmansegg 2003, S. 60).

[...]


[1] Weiter zu dieser Postition: Viehoff/Segers (Hrsg.) 1999, Giesen 1999 b, Kaelble/Kirsch/Schmidt-Gernig 2002, Kielmansegg 2003, Wagner 2005, Gerhards 2005.

[2] Das für kollektive Identitäten konstitutive Konzept der Inklusion und Exklusion geht zurück auf Georg Simmel und Carl Schmitt. Stuart Hall hat später die für die Unterscheidung bedeutsame Dimension der Konstruktivität herausgearbeitet. Simmel beschreibt 1908 in seiner Abhandlung über den Streit, dass für die Einheit einer Gruppe Opposition von fundamentaler Bedeutung ist. „Darum geht überhaupt die Einheit von Gruppen so oft verloren, wenn sie keinen Gegner mehr haben“ (Simmel 1983, S. 239). Carl Schmitt beschreibt 1932 erstmals das Freund-Feind-Schema: „Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind“ (Schmitt 1997, S. 38). Dieses Schema liegt heute noch immer, teils in abgewandelter Form, vielen Identitätskonstruktionen zu Grunde. Stuart Hall beschreibt am Beispiel der medialen „Inszenierung rassischer Differenz“, das Abgrenzung und Unterscheidung ein Prozess der Konstruktion ist, der permanent stattfindet, in den Medien, in alltäglicher Praxis (Hall 2004, S. 133) .

[3] Klaus Eder schreibt, dass für die Bildung einer europäischen Identität aus der „Mottenkiste der Geschichte [...] europäische Gemeinsamkeiten hervorgezaubert“ werden und weist damit auf die diskursive Konstruktion europäischer Identität hin (Eder 1999, S. 147, Auslassung A. D.).

[4] Diese Position steht im Zusammenhang mit der politischen Theorie des Kommunitarismus. Grundannahme ist, dass eine politische Ordnung nicht frei steht, sondern auf etwas ihr Zuvorkommendes gründet. Für diese vorpolitische Gemeinschaft sind eine gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte konstitutiv.

Ende der Leseprobe aus 94 Seiten

Details

Titel
Rekonstruktion europäischer Identität
Untertitel
Eine medienwissenschaftliche Analyse des Diskurses über die Mohammed-Karikaturen in "Faz" und "Times"
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Dept. Medien- und Kommunikationswissenschaften)
Note
1,7
Autor
Jahr
2007
Seiten
94
Katalognummer
V81423
ISBN (eBook)
9783638847216
ISBN (Buch)
9783638852234
Dateigröße
789 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rekonstruktion, Identität
Arbeit zitieren
Magister Medienwissenschaft Andreas Dienemann (Autor:in), 2007, Rekonstruktion europäischer Identität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81423

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