Trauer als Entwicklungsprozess

Sozialpädagogische Begleitung von Trauerarbeit unter besonderer Berücksichtigung kreativer Medien


Diplomarbeit, 2005

129 Seiten, Note: 1,0

Ingrid Jope (Autor:in)


Leseprobe


Diplomarbeit Ingrid Jope Trauer als Entwicklungsprozess

Wohlan denn, Herz,

nimm Abschied und gesunde

(Hermann Hesse[1])

Einleitung: Trauer gehört zum Leben

Was wäre das Leben ohne die Liebe? Wer liebt, geht das Risiko des Verlusts ein. Darum sind Verluste Teil eines gelingenden Lebens, Trauer als natürliche Reaktion auf Verluste ebenfalls. Wer sich vor dem Tod schützen will, um dem schmerzlichen Gefühl der Trauer auszuweichen, indem er sich nicht auf Beziehung und Veränderung einlässt, ist eigentlich schon tot. Folglich behandle ich Trauer in der vorliegenden Arbeit als etwas, das zum Leben gehört. Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, wie schmerzhaft und durcheinanderrüttelnd Trauer auslösende Ereignisse sein können. Verlustkrisen bringen Menschen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit und nicht selten darüber hinaus. Darum möchte ich nicht der Gefahr erliegen, bagatellisierend an diese im einzelnen Schicksal oft als unbegreifliche Katastrophe erlebte Thematik heranzugehen. Mir ist bewusst: Trauerbegleitung ist keine leichte Aufgabe. Sie erfordert neben einem hohen Maß an Empathie und dem Bewusstsein für die Unbegreiflichkeit des Geschehens einiges Wissen über Trauerabläufe. Manches, was auf den ersten Blick pathologisch aussieht, kann in Wirklichkeit Ausdruck eines gesunden Trauerprozesses sein. Anderes, was gesund und stark wirkt, kann einer verdrängten, lebenshemmenden Art zu trauern entspringen. Um Trauer besser zu verstehen und Erkenntnisse für sozialpädagogische Begleitung von Trauerarbeit zu gewinnen, betrachte ich Trauer aus dem Blickwinkel von Entwicklung. Diese Sicht verharmlost Verlustkrisen nicht, sondern ermöglicht Hoffnung auf Licht am Ende des Tunnels von Verzweiflung, Schmerz und Unfassbarkeit. Ein Trauernder wird am Ende des Trauerprozesses nicht mehr derselbe sein. Im besten Fall ist er trotz aller Verwundungen in seiner Persönlichkeit gereift und den Herausforderungen des Lebens besser gewachsen als vorher.

Konkret stelle ich zu Beginn dieser Arbeit die These auf, dass Trauer weder als zementierter Zustand noch als Lebenshindernis, sondern als Entwicklungsprozess

Diplomarbeit Ingrid Jope Trauer als Entwicklungsprozess

zu verstehen ist und dass dieses Verständnis aufschlussreiche Erkenntnisse ermöglicht für eine sozialpädagogische Trauerbegleitung unter besonderer Berücksichtigung kreativer Medien.

Um mich diesem Thema zu nähern, setze ich in einem ersten Kapitel Erkenntnisse über Trauer und Trauerbewältigung zu der Theorie der menschlichen Entwicklung nach Robert Kegan in Beziehung. Für Kegans Entwicklungstheorie habe ich mich entschieden, weil mir in seinem Ansatz die Ganzheitlichkeit, Ausgewogenheit und Wertschätzung des Menschen als kreativ sein Leben gestaltendes Wesen einleuchtet und besonders fruchtbar für das vorliegende Thema scheint. Im zweiten Kapitel gehe ich der Frage nach, ob Trauerbegleitung eine sozialpädagogische Aufgabe ist und wie sozialpädagogische Trauerbegleitung grundlegend konzipiert werden kann. Schritte der Umsetzung in die Praxis gehe ich im dritten Kapitel. Nachdem ich die Chance kreativer Medien für sozialpädagogische Trauerbegleitung unter entwicklungsspezifischem Horizont entfaltet habe, plane ich die Anwendung der theoretischen Erkenntnisse in Trauerbegleitungsgruppen und lege dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die Arbeit mit kreativen Medien. Als Zielgruppe nehme ich Erwachsene ins Visier.

1. Trauer als Entwicklungsphänomen

1.1 Zum Verständnis des Trauerprozesses

1.1.1 Die Bedeutung der Trauer für das menschliche Leben

1.1.1.1 Zur Definition von Trauer

Im etymologischen Duden[2] wird die Herkunft des Wortes „trauern“ von „sinken; matt, kraftlos werden“ hergeleitet und daraus die Bedeutung „den Kopf sinken lassen“, „Augen niederschlagen“ gefolgert. Trauer bedeutet diesem Nachschlagewerk zufolge „seelischer Schmerz über einen Verlust oder ein Unglück.“

Langenmayr[3] stellt verschiedene Auffassungen zur Definition von Trauer

nebeneinander.[4] Rando, so Langenmayr hält auch normale, unkomplizierte Trauer für eine Form der posttraumatischen Belastungsstörung mit der Begründung, dass es viele Parallelen in der Symptomatik gibt. Das Klassifikationssystem der World Health Organization, ICD-10, trennt Personenverluste klar von Depressionen, was Langenmayr wegen der Ähnlichkeit beider zueinander nicht für gerechtfertigt hält. Den engen Zusammenhang, den das DSM IV, Klassifikationssystem der American Psychiatric Association, zwischen Verlustfolgen und einer größeren Depression herstellt, kann Langenmayr eher nachvollziehen. Nach Simpson hat unverarbeitete Trauer eine enge Beziehung zum sog. psychotraumatischem Stresssyndrom. Im Gegensatz dazu vertreten die Autoren der Münchner Trauerskala, Beutel u.a., die Ansicht, dass eine klare Trennung und Unterscheidung zwischen Trauer und Depression möglich ist. Ihre Skala hat gerade den Zweck, den Unterschied zu diagnostizieren.

Im folgenden geht Langemayr auf unterschiedliche Verständnisse und Erklärungen für das Phänomen der Trauer ein, [5] die sich im wesentlichen zwischen den zwei Polen bewegen, dass Trauer entweder als Krankheit verstanden wird oder als „normaler“ psychischer bzw. auch biologischer Prozess, der sich von Krankheit deutlich unterscheidet. Als anstrebenswertes Ziel von Trauer nennt Langenmayr unter Bezug auf Klass u.a.[6] die Loslösung vom Verstorbenen und Reinvestierung der Energie in neue Beziehungen. Die Bindung zum Verstorbenen soll in veränderter Weise ihren Platz im Leben des Trauernden als Quelle der Bereicherung für die Gegenwart finden.

Die Unterscheidung zwischen Trauer einerseits und pathologischen Phänomenen andererseits wurde bereits durch Freud mit seinem grundlegenden Aufsatz „Trauer und Melancholie“ 1916 eingeführt.[7] Der Trauernde weiß, so Freud, um was er trauert, der Melancholische nicht. Einen weiteren Unterschied sieht Freud darin, dass bei Melancholie die Beziehung zum Verlorenen eine ambivalente, konflikthafte ist, bei Trauer eine einfache.[8]

Bowlby setzt sich mit Freuds Trauerbegriff kritisch auseinander. Freud verwendet den Begriff in einem engen Sinne nur für solche psychische Prozesse, die mit dem Ergebnis verlaufen, dass der Überlebende seine Erinnerungen und Erwartungen vom Verlorenen ablöst[9] und damit frei wird, seine libidinöse Energie auf ein anderes Objekt zu richten. In diesem engen Gebrauch des Begriffs sieht Bowlby die Gefahr, dass Erwartungen, wie Trauer aussehen soll, völlig an dem vorbei gehen, was Menschen tatsächlich erleben. Deshalb plädiert er für eine Verwendung des Begriffs im weiten Sinne als Bezeichnung für eine Vielzahl von Reaktionen auf Verlust, auch solche, die zu einem pathologischen Resultat führen.[10] Er vergleicht den Trauerprozess mit dem Heilungsprozess bei körperlichen Verletzungen. Beide könnten einen Verlauf nehmen, bei dem die wiederherzustellende Funktion am Ende erneuert, aber auch mehr oder weniger stark beeinträchtigt sei. Ähnlich könne der Trauerprozess zu einer mehr oder weniger vollständigen Wiederherstellung der Fähigkeit, Liebesbeziehungen anzuknüpfen und aufrechtzuerhalten, führen.[11] Die Alternative, statt des weiten Trauerbegriffs den Begriff des Kummers zu verwenden, hält Bowlby nicht für sinnvoll. Er definiert Kummer als den Zustand einer Person, die Schmerz über einen Verlust empfindet, und diesen auch mehr oder weniger offen erlebt.

Aufschlussreich sei die Verwendung dieses Begriffs z.B. bei Abwesenheit von Kummer im Rahmen von Trauer. Der Begriff der Trauer bezeichnet für Bowlby zusammengefasst alle bewussten und unbewussten psychologischen Prozesse, die durch Verlust ausgelöst werden.[12]

Für mich kristallisiert sich aus diesen Mosaiksteinen das Gesamtbild heraus, dass Autoren, die keine deutliche Abgrenzungslinie zwischen Trauer und psychischer Krankheit ziehen, auch oder vor allem problematisch verlaufende, festgefahrene oder gar nicht erst in Gang gekommene Trauerprozesse im Auge haben, während Vertreter des deutlichen Unterschieds zwischen Trauer und psychischer Krankheit ein Bild von Trauer haben als ablaufenden Prozess, der vom Trauma des Verlusts zurück ins Leben führt. In beiden Positionen steckt meines Erachtens ein Stück Wahrheit. Das Phänomen Trauer hat vielfältige Facetten und Gesichter und sollte nicht auf ein festgelegtes Schema reduziert werden. Das rechtfertigt den weiten Trauerbegriff Bowlbys. Mit meiner These, dass Trauer als Entwicklungsprozess zu verstehen ist, nehme ich die Perspektive ein, dass Trauer von psychischer

Krankheit zu unterscheiden ist, und untersuche das Verständnis von Trauer als Prozess, der zum Leben gehört, der nicht mit Krankheit, sondern eher mit einem Heilungsprozess zu vergleichen ist.

1.1.1.2 Trauer als angemessene Reaktion auf Verlust

Für die Trauertherapeutin Verena Kast[13] ist Trauer der Ausdruck, dass ein Mensch etwas verloren hat, das für ihn einen hohen Wert darstellt.[14] Trauer sei die Emotion, durch die wir Abschied nehmen. Erstrebenswert sei folglich, Trauer nicht als etwas Pathologisches, sondern als etwas Wesentliches zu betrachten und damit die Angst vor Trauer zu verlieren.[15]Leben steht wesentlich unter dem Aspekt des immer wieder notwendigen Abschiednehmens, und um Abschiede ... zu verkraften, müssen wir trauern können.“[16] Trauer sei unabdingbar, um im Loslassen frei zu werden, das Leben wieder neu zu gestalten. Diese Fähigkeit zur Lebensbewältigung nennt Kast „abschiedlich existieren“.[17]

Volkan[18], ein Pionier auf dem Gebiet der Trauertherapie, erklärt Trauer als psychische Reaktion auf Verlust und bezeichnet sie näher als die Verhandlungen, die Menschen führen, um ihre innere Welt der Realität anzupassen. Schmerz sei die Emotion, die Trauer begleite. Wer unfähig sei zu trauern, bleibe im Bann alter Probleme und Beziehungen und sei unfähig, frei in der Gegenwart nach vorne zu leben. Darum hänge der Verlauf des Lebens eines Menschen von der Fähigkeit ab, sich den unvermeidlichen Verlusten zu stellen und Veränderung als Chance für Wachstum zu nutzen. „ Nicht vollständig betrauerte Verluste - Veränderungen, denen wir uns, mit anderen Worten, nicht anpassen können -überschatten unser Leben, zehren an unserer Energie und beeinträchtigen unsere Bindungs- und Kontaktfähigkeit.“[19] Ein Paradox des Lebens sei, so Volkan, dass wer nicht loslassen könne, wenn der Tod es verlangt, auch nicht festhalten könne, wenn das Leben es verlangt.[20]

Auch für den erfahrenen Trauertherapeuten Canacakis[21] ist Abschied von Geburt an ins Leben einprogrammiert und Trauer als Reaktion darauf bleibt niemandem erspart. Trauer ist für ihn „ eine spontane, natürliche, normale und selbstverständliche Reaktion unseres Organismus, unserer ganzen Person auf Verlust, Trennung und Abschied.“[22] Verlustkummer, so Canacakis weiter, erlebe jeder und die Fähigkeit, diesen zu bewältigen sei die Trauer. Trauer sei keine unangenehme Störung, die möglichst rasch zum Verschwinden gebracht werden sollte, sondern eine normale Reaktion auf Verlust[23] mit dem Ziel, das durch den Verlust verlorene Gleichgewicht wiederherzustellen. Erstrebenswert sei deshalb, den eigenen persönlichen Weg durch die Trauer zu finden. In der Trauerarbeit befreie sich die Seele von Bindungen, die nicht mehr lebendig sind. Trauer helfe, Abschied zu nehmen, zur Realität zurück und sich mit ihr abzufinden.[24]

Canacakis charakterisiert Trauer ausdrücklich als Periode, in der Wachstum und Reife stattfindet.[25] Trauer ist für ihn ein tiefreichendes Gefühl mit enormer Energie, das kreative Wege zu einem Neubeginn eröffnet.[26] Trauerfähigkeit betrachtet er folglich als Lebensfähigkeit.[27]

Trotz der unterschiedlichen Zugangsweisen dieser drei Trauerspezialisten ist die Gemeinsamkeit festzustellen, dass alle Trauer als Geschehen betrachten, das dem Leben und der Entwicklung dient. Trauer, so der Konsens der drei Fachleute, ist keine Krankheit, sondern kann, wenn sie zur persönlichen Situation passend aktiv gestaltend durchlebt wird, Krankheit verhindern. Wer einen Verlust betrauert, wird frei zu Wachstum und Weiterentwicklung, bzw. erlebt in der Trauer Entwicklung und Reife. Alle drei gehen daneben auf problematische Trauer ein (s.a.1.1.3.5), aber diese wird nicht als primäre und schon gar nicht als einzige Möglichkeit von Trauer verstanden.

1.1.1.3 Vielfalt von Traueranlässen

Das Stichwort Trauer wird in den meisten Fällen spontan mit dem Verlust eines geliebten Menschen durch Tod assoziiert. Zweifellos ist dies eine der am schwersten zu verkraftenden Verlustsituationen im Leben eines Menschen. Darum ist es auch berechtigt, dass in der unterschiedlichen Trauerliteratur zum größten Teil darauf Bezug genommen wird. Dennoch ist es nicht der einzig mögliche Anlass, der Trauer auslösen und nur im Durchleben von Trauer bewältigt werden kann. Ich stelle im folgenden eine Bandbreite der in unterschiedlicher Literatur genannten Traueranlässe vor und gruppiere sie anschließend in vier Arten.

Langenmayr geht in einer Übersicht auf die jeweilige Besonderheit spezieller Trauersituationen ein. Scheidung sei, so Langenmayr, nicht automatisch leichter zu verkraften, als das Auseinanderreißen einer Familie durch Tod. Z.B. seien Kinder bei Scheidung der Eltern gefährdeter, sich mit Selbstanschuldigungen zu quälen als beim Sterben eines Elternteils. Als Tendenz bei Erwachsenen sei festzustellen, dass bei Scheidung eher offene Aggression zu Tage trete als bei Todesfällen. Als weitere spezielle Situation nennt Langenmayr den Tod eines Zwillings, der stärkere emotionale Probleme auslöse als allgemein der Tod von Geschwistern. Das Sterben von Jugendlichen werde von Eltern u.a. deswegen besonders problematisch erlebt, weil in dieser Altersphase Kämpfe um Unabhängigkeit stattfänden und der Tod evt. als Reaktion auf diese Auseinandersetzungen empfunden werde. Der Verlust von Kindern während der Schwangerschaft falle nicht leicht zu betrauern. Die Erwünschtheit der Schwangerschaft spiele für das Ausmaß und die Problematik der Trauer keine Rolle. Bei Totgeburten käme es häufig zu Selbstanschuldigungen bzw. zur Projektion der eigenen Schuldgefühle auf das medizinische Personal. Der plötzliche Kindstod belaste die hinterbliebenen Eltern nicht nur durch seine Plötzlichkeit, sondern auch durch die polizeilichen Ermittlungen, die das Gefühl des Verdächtigt-Werdens auslösten. Beim Verlust von Kindern durch Unfall oder Krankheit erwache oft Wut auf vermeintliche oder tatsächliche Verursacher. [28]

Canacakis geht auf die Problematik ähnlicher Traueranlässe ein: Der Verlust des Lebenspartners sei eine der schwersten Krisen für erwachsene Menschen, der Tod des eigenen Kindes sei gar der schwerwiegendste Verlust, den Eltern erleben können. Aber auch Verlust der Eltern, Fehl- und Totgeburt, Schwangerschafts- abbruch, vorweggenommene Trauer bei erwartetem Verlust, z.B. tödlicher Krankheit, Trennung und Scheidung oder Verlust der Arbeit könnten Menschen aus der Bahn werfen. [29] Weitere Traueranlässe, die Canacakis nennt, sind: Umzug, Trennung von der Familie, eine nicht zustande gekommene Beziehung, Verlust der Heimat, Tod eines Haustiers, Verlust materieller Dinge, die einen persönlichen Wert haben, Verlust von Gesundheit, von Jugendlichkeit und Schönheit, Altwerden und Loslassen, Verlust der Zukunft, Verlust von Lebenssinn, Abschied von unerfüllten Hoffnungen und langgehegten Erwartungen, das Abhandenkommen von Illusionen, eine fehlgeschlagene Karriere, eine nicht bestandene Prüfung, der Abschied von ungelebtem Leben. [30]

Auch Kast erwähnt eine ganze Bandbreite an Traueranlässen: Tod könne in vielen Aspekten des Lebens erlebt werden, z.B. in Enttäuschungen, im Scheitern, in Abschieden, im Abbrechen von Beziehungen. Als weitere Beispiele für zu betrauernde Abschiede nennt sie die Aufgaben, geliebte Menschen ins Leben hinein freizugeben, Aspekte von sich sterben zu lassen, wenn es an der Zeit sei, und auf Liebgewordenes im eigenen Leben zu verzichten, um der Zukunft gewachsen zu sein. In einer anderen Aufzählung nennt sie den Abschied von Lebensabschnitten, von Aspekten unserer Persönlichkeit, von Ich-Idealen und Lebensentwürfen.[31]

Gösken nennt Trennungen von Personen, Verlust des Arbeitsplatzes, Verlust von Gesundheit und Vitalität, Umzug mit dem Verlust der gewohnten Umgebung und der Menschen in der Nachbarschaft, das Altern mit dem Verlust von Jugend, Schönheit und Zukunft, das Aufgeben von Idealen, von unerfüllten Hoffnungen sowie das Loslassen von ungelebtem Leben. [32] Hoffmann erwähnt das Sterben geliebter Menschen, Trennungen und Abschiede aus Beziehungen der Freundschaft und Partnerschaft, die für die Persönlichkeitsentwicklung unerlässliche Lösung aus Elternbindungen, äußere Abschiede wie Orts-, Wohnungs-, Schulwechsel, die immer auch mit inneren Abschieden verbunden sind, die Abschiede von Entwicklungsstadien z.B. Kind oder Jugendlicher, das Älterwerden als Phase des Abschiednehmens schlechthin, den Verlust der körperlichen Integrität durch Krankheit oder Behinderung, das Loslassen von Idealen und bisherigen Lebensthemen, das Loslassen von Althergebrachtem und Gewohnheiten.[33] Volkans Aufzählung umfasst den Verlust eines geliebten Menschen, einer Heimat, einer Freundschaft, eines Ideals, einer Hoffnung oder eines früheren Selbst.[34]

Diese vielfältigen Themen und Beispiele aus unterschiedlicher Literatur könnte man unter folgende vier Arten von Traueranlässen zusammenfassen:

- Verlust von nahestehenden Menschen durch Tod
- Verlust von nahestehenden Menschen aus anderen Gründen (z.B. Trennung, Scheidung, Auseinanderbrechen einer Freundschaft, Ortswechsel)
- Verlust von materiellen und immateriellen Dingen, die für den Betroffenen einen hohen Wert darstellen (z.B. Arbeitsplatz, Wohnung, Heimat, ein Haustier, Gewohntes und Althergebrachtes)
- Abschied von Aspekten des persönlichen Lebens (z.B.

Entwicklungsstadien, Gesundheit, Jugend, Schönheit, Ideale, Lebensentwürfe, Verlust von Sinn, unerfüllte Hoffnungen, ungelebtes Leben) Dieser Versuch die Vielfalt durch die Einteilung in Gruppen übersichtlich zu machen, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Traueranlässe so individuell sind wie die Menschen auch. Sichtbar wird durch dieses Spektrum, dass es unzählige Anlässe für Trauer gibt und dass die Fähigkeit zu trauern im Leben jedes Menschen eine Rolle spielt. Wer Leben und Entwicklung erlebt, kommt um die Bewältigung von Abschieden und Verlusten durch Trauer nicht herum.

1.1.1.4 Das Trauma des Verlusts

Verluste gehören zu ausnahmslos jedem Menschenleben. Es gibt solche, die leichter zu bewältigen und mit weniger intensivem Schmerz verbunden sind als z.B. der tragische Tod eines nahestehenden Menschen. Aber Traueranlässe, welcher Art auch immer, können Menschen überfordern. Die Bedeutung von Trauer angemessen einzuordnen und Betroffenen empathisch zu begegnen erfordert daher, annähernd zu verstehen, wie einschneidend ein solches Verlusterlebnis für Menschen sein kann.

Bowlbys Bindungstheorie öffnet eine Tür zu diesem Verständnis, indem sie aufzeigt, wie bedeutsam affektive Bindungen für Menschen und ihre seelische Gesundheit sind. Die intensivsten Gefühle entstehen im Zusammenhang mit solch emotionalen Bindungen. Menschen fühlen das Entstehen einer Bindung als Sich- verlieben, das Aufrechterhalten als Jemanden-lieben, das Ende als Um-jemanden- trauern. Das Fortdauern einer solchen Bindung gibt Sicherheit, die Erneuerung löst Freude aus, ein drohender Verlust Angst und Wut und ein tatsächlicher Verlust Kummer und Wut.[35] Der Verlust eines geliebten Menschen, dessen Nähe Sicherheit gab, könne deshalb dem Betroffenen in so großem Maß zusetzen, dass er von Kummer überwältigt werde und schlimmstenfalls an gebrochenem Herzen sterbe.[36] Bowlby konstatiert die Tendenz, dass die Beeinträchtigung und Belastung durch den Verlust einer Bindungsperson, die Dauer des Kummers sowie die Schwierigkeiten, sich zu erholen, und die Folgen für das Funktionieren der Persönlichkeit unterschätzt würden.[37]

Auch Kast macht deutlich, wie erschütternd für das Selbst- und Weltverständnis ein einschneidendes Verlusterlebnis sein kann. Eine solche Grenzsituation berge sowohl die Möglichkeit in sich, in ihrer Auswirkung den Blick für das Wesentliche frei zu machen als auch Menschen in den Zerbruch zu führen. Ein Todeserlebnis könne Menschen irre werden lassen, es zwinge zur Wandlung. Es erfordere, im totalen Zweifel an Sinn, an Existenz, gegebenenfalls an Gott auszuhalten und irgendwie weiterzuleben. Das ursprüngliche Beziehungsgefüge werde auseinander gebrochen und der Betroffene sei gefordert, ein neues Verhältnis zur Welt aufzubauen. Ob das gelinge, hänge wesentlich von seiner Fähigkeit zu trauern ab.[38] Volkan begründet die Schwere eines Verlusts damit, dass wir von Geburt an die Erfahrung machen, andere zu brauchen. Demzufolge empfinde der Mensch Trennung als gefährlich und dramatische Verluste lösten primitive Ängste von Hilflosigkeit und Verlassenwerden aus.[39] Canacakis betont die akute Gefahr für die körperliche und seelische Gesundheit von Hinterbliebenen nach einem schweren Verlust, z.B. bei Verlust des Ehepartners, Verlust des Kindes, Verlust der Eltern, Verlust ungeborener Kinder während der Schwangerschaft.[40]

Am ehesten nachvollziehbar wird das Trauma des Verlusts durch die Schilderung Betroffener. Petra Handt, die ihren Sohn durch einen Flugzeugabsturz verloren hat, beschreibt in einem Interview: „ Die ersten Wochen erleben Trauernde oft wie ein Schock mit wechselseitigen Gefühlen von Gleichgültigkeit und Leere bis zur

abgrundtiefen Verzweiflung. Manche empfinden diese Phase, als ob ihnen der Boden unter den F üß en weggezogen wird, sie fühlten sich orientierungslos, ausgebrannt, ausgelöscht, blockiert, apathisch. Auch wütend sein gehört zu diesem Gefühlschaos, sie klagen, jammern und hadern mit ihrem Schicksal und mit dem Menschen, der sie einfach alleine zurück gelassen hat.“[41]

Aufschlussreich sind auch die persönlichen Aufzeichnungen des englischen Literaturprofessors C.S. Lewis. Eindrücklich schildert er das emotionale Chaos nach dem Tod seiner Frau H. „ Und noch immer empfinde ich die Trauer wie Angst. Genauer vielleicht wie ein Hangen und Bangen. Wie ein Warten: wie ein Sich-herum-Drücken, bis vielleicht irgend etwas geschieht. Es macht das Leben zu einem dauerndem Provisorium.[42]So viele Gedanken, Gefühle und Handlungen hatten H. zum Gegenstand. Jetzt sind sie ihres Zieles beraubt. Gewohnheitsm äß ig setze ich den Pfeil auf die Sehne; dann erinnere ich mich und muss den Bogen niederlegen. So viele Straßen führen die Gedanken zu H. Ich betrete eine. Doch jetzt sperrt sie unausweichlich ein Schlagbaum. Was früher Wege waren, sind jetzt ebenso viele Sackgassen.“[43]Heute abend ist wieder die ganze Hölle frischer Trauer los; die rasenden Worte, der bittere Groll, das Flattern im Magen, der Alptraum vom Nichts, das Suhlen in Tränen.“[44]

Der Versuch, zu beschreiben, was Verluste für einzelne Menschen bedeuten, führt an die Grenzen von Sprache und Ausdruck. Laut dem Artikel „Trauma“ von Mentzos im Fachlexikon der sozialen Arbeit ist ein psychisches Trauma „ ein Erlebnis, welches den Betreffendenüberfordert hat und auf das er deswegen nicht adäquat reagieren konnte.“[45] Die Folge sei meist, dass der Betroffene das Geschehene verdränge, was zu einer neurotischen Störung führen könne. Verluste müssen nicht, aber können für Menschen ein psychisches Trauma bedeuten, das sie aus der Bahn wirft, dessen sind sich die unterschiedlichen Autoren einig. Umso wichtiger ist, dass dieses Erlebnis nicht unverarbeitet bleibt, sondern Betroffene im Prozess des Trauerns die Erschütterung Schritt für Schritt verarbeiten und bewältigen.

1.1.2 Trauer im Kulturvergleich

1.1.2.1 Trauer zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen

Canacakis geht der Frage, wie zu früheren Zeiten getrauert wurde, in Riesenschritten nach. Bereits aus der griechischen Antike, z.B. als fester Bestandteil dichterischer Werke, seien Trauerzeremonien und Totenklagen bekannt. Auch aus anderen Kulturkreisen des Altertums, z.B. denen der Ägypter, Chinesen und Juden seien Trauerbräuche überliefert. In biblischen Texten seien zwar Totenklagen fester Bestandteil, jedoch habe es bereits in der frühchristlichen Kirche Einwände gegen heidnisches Brauchtum und die Übertreibung von Totenklagen gegeben. Bei den Germanen, so Canacakis, sei kein klares Bild von Trauerbräuchen zu entdecken, was damit zusammenhänge, dass das germanische Volk keine Jenseitsvorstellungen hatte und das irdische Leben darum alles bedeutete. Es habe sogar die Vorstellung gegeben, dass Weinen um Verstorbene schädlich sei. Aus diesen Zusammenhängen erklärt Canacakis, dass die Germanen sich dem Schmerz nicht hingaben, während vor allem die Kulturvölker des Südens Trauerschmerz durch lautes Wehklagen zum Ausdruck brachten.[46]

Adolf Pfeiffer, Diplom-Theologe und Sozialarbeiter, wirft einen Blick in die Zeit vor c.a. fünfzig Jahren in unserem Kulturkreis und erwähnt vor allem drei Gebräuche, die Trauernde darin unterstützten, ihren Schmerz zum Ausdruck zu bringen. Als ersten nennt er das Sterben zu Hause im Kreis der Familie, das Aufbahren des Leichnams und das Abschiednehmen mit Klagen, Weinen, Singen und Beten. Der Schmerz der Hinterbliebenen sei damals eingebettet gewesen in die Anteilnahme der Gemeinschaft. Als zweiten Brauch nennt er das einjährige Tragen der Trauerkleidung. Schwarz sei Ausdruck dessen gewesen, dass sich das Leben des Hinterbliebenen durch den Verlust verdunkelt habe und dass man dem Trauernden die Zeit, im Dunkel zu sein, zugestanden habe. Als drittes nennt er schließlich den Trauerzug mit dem Sarg durch die Gemeinde zum nahegelegenen Friedhof. Diese Behandlung des Todes als öffentliches Ereignis habe bewirkt, dass Trauer nicht unterdrückt und versteckt werden musste.[47]

Die Journalistin Heidi Rudolf lässt Menschen aus anderen Kulturen der Gegenwart zu ihrem Umgang mit Tod und Trauer zu Wort kommen. Eine vietnamesische Buddhistin[48] schildert, dass es in ihrer Heimat wichtig sei, dass Angehörige dem Sterbenden nahe sind, seine Hand halten und ihm das Sterben erleichtern. Danach bleibe der Leichnam drei Tage lang im Haus aufgebahrt, während die Familie Gelegenheit habe, ihn zu sehen, sich zu verabschieden und zu beten. Ein Totenaltar mit Foto, Geburts- und Sterbedaten bleibe noch längere Zeit im Haus und die Familie treffe sich sieben Wochen lang immer am Todestag, um gemeinsam zu essen und zu beten. Auch ein tamilischer Asylbewerber[49] berichtete von regelmäßigen Gedenktagen, an denen sich die Familie treffe. Die Trauerfamilie bleibe dreißig Tage lang zuhause, werde währenddessen von Freunden versorgt, bis am einunddreißigsten Tag die Asche des Verstorbenen in den Fluss gestreut werde. Ein türkischer Moslem berichtet,[50] dass an einem Sterbebett immer Freunde und Verwandte versammelt seien, um Abschied zu nehmen und dass es wichtig sei, dass dem Sterbenden vergeben werde, nur dann könne er ins Paradies kommen. „ An einem islamischen Totenbett muss geweint werden. Wenn alle Menschen geweint haben, ist dies ein Zeichen für einen guten Menschen.“[51] Ähnlich äußerte ein Moslem aus Ägypten, dass Weinen Barmherzigkeit sei - für den Sterbenden und die Angehörigen.[52]

Auch Bowlby geht auf die Erfahrungen anderer Kulturen ein und resümiert, dass die menschlichen Reaktionen auf einen schwerwiegenden Verlust sich über die Kulturen hinweg gleichen, dass aber die sozialen Bräuche, damit umzugehen, sehr unterschiedlich seien. Er formuliert als Gemeinsamkeit zwischen verschiedenen kulturellen Mustern des Umgangs mit Trauer drei Arten von Regeln und Riten, die immer zu finden seien: Als erstes nennt er solche, die in irgendeiner Weise bestimmen, wie die Beziehung zu dem Verstorbenen gestaltet sein sollte, als zweites solche, die eine Norm darstellen, wo Beschuldigungen angebracht sind und Wut geäußert werden darf, und als drittes schließlich Regeln und Riten, die einen Rahmen darstellen, wie lange Trauer dauern sollte.[53]

Langenmayr gibt einen kurzen Überblick über den Umgang mit Trauer in verschiedenen Zeitepochen und Kulturen und stellt fest, dass die meisten Kulturen Möglichkeiten zum Ausdruck der als Reaktion auf Tod verbreiteten Emotionen wie Weinen, Angst und Ärger böten, dass lediglich die westliche Kultur davon abweiche.[54]

Am ausführlichsten setzt sich Canacakis mit Trauerbräuchen in einer speziellen anderen Kultur auseinander. In einer wissenschaftlichen Untersuchung nahm er ab 1974 die Myroloja oder Moiroloja genannten Klagegesänge in Mani, einer Gegend Griechenlands, unter die Lupe und fasste die Ergebnisse in seiner Dissertation „Trauerverarbeitung im Trauerritual und leib-seelisches Befinden.“[55] zusammen. Bei den Myroloja handelt es sich um eine spezielle Volksliedkunst, die Raum für spontan entstehende Dichtung und improvisierten Gesang lässt. Sogenannte „Klageweiber“ sind Frauen, die Trauergefühle in Gedichten und Gesängen zum Ausdruck bringen und die allen Anwesenden damit die Möglichkeit bieten, zu ihrer eigenen Trauer zu finden. Rituale, so Canacakis’ von wissenschaftlicher Untersuchung untermauerte Überzeugung, „ regeln und ordnen die Begegnung mit sich selber, mit anderen, mit dem Numinosen (in diesem Fall mit dem Tod, dem Sterben und der daraus entstehenden Trauer) in seinen vielseitigen und komplexen, oft unsichtbaren, nicht jederzeit fühlbaren Zusammenhängen.“[56] Als Ziel seiner Untersuchung hatte Canacakis sich vorgenommen, die durch die Teilnahme am Ritual ausgelösten Veränderungen des körperlichen und seelischen Wohlbefindens festzustellen, indem er untersuchen wollte, wie es den Teilnehmern der Trauerzeremonien vor, während und nach dem Ritual ging. Dazu hat er zwischen 1976 und 1981 an insgesamt 45 Trauerzeremonien teilgenommen und machte folgende Beobachtungen: Die meisten Trauernden erlebten allein durch Teilnahme am Ritual eine Verbesserung ihrer körperlichen und seelischen Befindlichkeit. Diese Verbesserung sei nachhaltiger, wenn die Teilnehmenden sich aktiv am Ritual beteiligt hätten.[57]

An all diesen Aussagen zum Umgang mit Trauer in anderen Kulturen und Zeiten, wird deutlich, dass Trauer in der Vergangenheit meist ein integrierter, durch Brauchtum gestalteter Bestandteil menschlichen und gesellschaftlichen Lebens war und in vielen anderen Kulturen heute noch ist. Die Tatsache, dass bei den Germanen der Ausdruck von Trauer weniger verankert war als in südlicheren Kulturen der damaligen Zeit, lässt Vermutungen auf Zusammenhänge mit der heutigen Zeit wach werden. Zu einem Blick auf unsere Kultur, ihren Umgang mit Trauer und die damit zusammenhängende Problematik komme ich nun.

1.1.2.2 Die Problematik der Trauer in unserem Kulturkreis heute

Gösken, Diplompädagogin, Kunsttherapeutin und Trauerbegleiterin, bezeichnet unsere Kultur als trauerarme Kultur. Tod werde tabuisiert, Emotionalität unterdrückt und normiert. Es fehlten Zeiten und Räume, Formen und Rituale. Trauernde spürten nicht selten Druck, möglichst schnell wieder zu funktionieren, bzw. wenn sie schon trauerten, es wenigstens „im stillen Kämmerlein“ zu tun.[58] Pfeiffer nennt unsere Gesellschaft eine Trauervermeidungskultur. Trauer werde gemeinhin als Krankheit betrachtet - man gehe zum Arzt, um sich krankschreiben zu lassen. Die Einstellung zum Tod in unserer Kultur werde von dem französichen Historiker Ariès als „verbotener Tod“ bezeichnet, d.h. die Menschen wollten dem Tod und der Trauer möglichst nicht begegnen. Von Trauernden werde erwartet, stark zu sein.[59] Auch Kast stellt eine Tendenz zur Tabuisierung fest. Trauernde würden aus Unsicherheit, wie man mit ihnen umgehen solle, gemieden. So komme zum Erlebnis des Verlustes zusätzlich Einsamkeit.[60]

Langenmayr nennt unter Berufung auf Ariès vier Modelle im Umgang mit Tod: 1. Der Tod wird als trauriges, unvermeidliches und natürliches Ende des Lebens betrachtet. 2. Der Tod wird romantisch erlebt, als großes Ereignis zelebriert und hat die Bedeutung der Vertiefung und Bestätigung des individullen Lebens. 3. Der moderne Tod , bei dem der Sterbende und seine Betreuer isoliert sind, wird ein bedeutungsloses Ereignis, das allerdings jedem zustoßen wird. 4. Der moderne Tod, der einhergeht mit totaler Isolation des Sterbenden, wird ignoriert und muss so unauffällig und schnell wie möglich abgewickelt werden. In der gegenwärtigen westlichen Welt, so Ariès, werde am häufigsten die dritte und vierte Art dieser Modelle praktiziert. Sterben finde meist in Hospitälern weit weg vom eigentlichen Leben statt.[61] Auch Canacakis stellt Tendenzen fest, dass Trauer in unserer Gesellschaft unerwünscht sei und der Tod nicht zum Wohlstandsdenken und zum Traum vom nie enden wollenden Glück passe. Als scheinbares höchstes Ziel treibe die Menschen die Sehnsucht an, den Tod abschaffen zu wollen. Als Folgen der Missachtung des Zusammengehörens von Leben und Tod nennt Canacakis: Lebensangst, Entfremdung vom Leben und der Natur, Unsicherheit, Zukunftsangst, Gefühllosigkeit, Verhinderung natürlicher Trauerfähigkeit. Auf die Frage was zur Problematisierung von Trauer in unserem Kulturkreis geführt hat, nennt Canacakis sechs Faktoren: 1. Die Zunahme der Betonung des Verstandes zulasten der Emotionalität hat dazu geführt, dass starke Gefühle wenig Raum haben und trauernde Menschen an den Rand gedrängt werden. 2. Die Einstellung der Kirche, der Glaube an das Jenseits, kann dazu führen, dass Trauergefühle als nicht berechtigt unterdrückt werden. 3. Die Industrialisierung führte zur Verstädterung unserer Gesellschaft und damit zur Auflösung sozialer Netzwerke, in denen Trauernde früher aufgefangen waren. 4. Die Ideale unserer Gesellschaft - jung, stark, erfolgreich, glücklich, langlebig - führen dazu, dass Trauer als unpassend und unerträglich erlebt wird. 5. Es fehlen geeignete soziale Räume. Auf Intensivstationen, in Beerdigungsinstituten fühlen Trauernde sich eher blamiert als in ihrer Trauer aufgefangen. Das kann dazu führen, dass Menschen sich mit Medikamenten aufputschen, um sich „tapfer zu halten“. 6. Es fehlen Rituale, die den Trauerverlauf auffangen, sichern und unterstützen können.[62]

In einer Langzeitstudie verglich Canacakis wie Menschen aus Mani, die die

Myroloja praktizieren, und anderseits Menschen in den Großstädten Athen und Essen eine Verlustkrise bewältigen. Und er stellte dabei fest: Menschen aus Mani erlebten viel geringere körperliche und psychische Krankheitssymptome, konsumierten weniger Alkohol, Tabak und andere Drogen, litten weniger an Isolation und Hilflosigkeit, ließen sich gern von Mitmenschen helfen. Sie entwickelten gute Bewältigungsstrategien für Probleme, erholten sich zu Beginn des zweiten Jahrs vom Verlustschock und zeigten am Ende des zweiten Jahres zunehmenden Lebenswillen sowie Bereitschaft zur Neuorientierung ihres Lebens. Betroffene in Essen bzw. Athen wiesen dagegen vermehrte Arztbesuche, Einnahme von Medikamenten und Tendenzen zur Chronifizierung körperlicher und seelischer Beschwerden auf. Das soziale Verhalten normalisierte sich nur schleppend. Sie erlebten statt dessen Isolation, das Fehlen von Solidarität und Mitempfinden und gewöhnten sich an die Unterdrückung berechtigter Trauergefühle, was zu einem Leben in dauernder Angst und Spannung führte. Ihre Versuche, den Verlustschock zu bewältigen, waren phantasielos, konsumorientiert und unwirksam. Sie bemühten sich, Trauer zu verdrängen und sie mit allen Mitteln wieder loszuwerden. Auch nach dem 3. Jahr gab es wenige Zeichen von Normalisierung.[63]

Als positive Wirkungen des Verarbeitungsprozesses durch die Myroloja nennt Canacakis zusammenfassend u.a. positive Veränderungen der körperlichen und seelischen Befindlichkeit der Ritualteilnehmer kurz- und langfristig, die Wiederaneignung der Fähigkeit zur Sinngebung im Leben sowie die Wiedergewinnung von Lebensfreude und -energie.[64]

Aus diesen Beobachtungen und Forschungsergebnissen kristallisiert sich heraus: Die Problematik der Trauer besteht in unserem Kulturkreis heute darin, dass es keine selbstverständlichen Bewältigungsmechanismen gibt, die Menschen in akuten Trauersituationen einen hilfreichen Rahmen bieten. Daraus ergibt sich die Gefahr, dass Betroffene statt einen gesunden Trauerprozess zu durchleben an diesem scheitern und in der Folge Verluste nicht so bewältigen können, dass es ihrer Entwicklung und Lebensfähigkeit förderlich ist.

1.1.3 Trauer verstehen und bewältigen

1.1.3.1 Die Vielschichtigkeit von Trauer

So ist denn der Trauerprozess ein sehr schmerzhafter Prozess von einer eigentümlichen Lebendigkeit, der viel Kraft und Zeit kostet und uns zwingt, uns mit uns selbst und mit der Beziehung, die abgebrochen worden ist,

auseinanderzusetzen.“[65] Dass Trauer nicht nur ein kräfte- und zeitintensiver, sondern auch sehr komplexer Prozess ist, führt Kast an anderer Stelle aus. Das Gefühl der Trauer umfasse eine Vielfalt an Facetten. Dazu gehöre z.B. die als Gefühlsschock zu verstehende Empfindungslosigkeit direkt nach dem Verlust, später Wut, Angst, Ruhelosigkeit, tiefe Niedergeschlagenheit, Trauer, Schuldgefühle, mitunter sogar freudige Gefühle.[66] Nach der Ansicht Hoffmanns beinhaltet Trauer viele verschiedene, auch gegensätzliche Gefühle, die nicht selten durcheinander erlebt werden und Trauernde in einen Wechselzustand zwischen Apathie und Gefühlsausbruch bringen können. Dieses Chaos der Gefühle beinhalte u.a. Angst, Zorn, Ruhelosigkeit, Schuldgefühle, Schock, Betäubung, Verlassenheit, Einsamkeit, Sehnsucht, Erleichterung.[67] Gösken schildert Trauer als ein den ganzen Menschen umfassendes Phänomen. Schmerzen, Atembeschwerden, Herzbeschwerden, Verdauungs- und Appetitstörungen, Schlafstörungen, erhöhte Anfälligkeit für Infektionskrankheiten nennt sie als Beispiele für körperliche Symptome. Auf der Gefühlsebene würden neben Traurigkeit oft Zorn, Wut, Hass, Schuldgefühle, Angst, Sehnsucht, Hilflosigkeit, Einsamkeit, Gefühle der Liebe und Dankbarkeit erlebt. Auf kognitiver Ebene seien Ungläubigkeit, Nicht-wahrhaben-wollen, Verwirrung, Konzentrationsschwäche, Retardierungen im Denken, anhaltendes Grübeln, selten auch Halluzinationen zu finden. Im Verhalten zeige sich oft ein Spektrum von Überaktivität, Ruhelosigkeit und Apathie, Reduzierung aller Aktivitäten, soziale Rückzugstendenzen. Jeder trauere anders. Die individuelle Trauer hänge von vielen Faktoren ab.[68]

Bowlby geht auf einen Aspekt des Spektrums der Gefühle im Rahmen von Trauer besonders ein. Das Empfinden von Zorn sei als Bestandteil normaler Trauer u.a. von Freud lange unterschätzt, bzw. als Zeichen für pathologische Trauer missverstanden worden. Nach Bowlbys Untersuchungen kommen aggressive Gefühle gegen unterschiedliche Zielscheiben, z.B. gegen den Verstorbenen, gegen (vermeintlich) am Tod Schuldige oder gegen Tröster gerade auch in gesund verlaufender Trauer vor. Bowlby deutet die Entstehung aggressiver Gefühle von der Bindungstheorie her als natürliche Reaktion beim Verlust der Bindungsfigur. Bei einem vorübergehenden Verlust helfen sie dabei, Hindernisse zu überwinden, um die Nähe zur Bindungsfigur wieder herzustellen. Hinterher verhindert die Wut des Verlassenen möglicherweise weiteres Verlassenwerden in der Zukunft. Darum, so Bowlby, habe es etwas Instinkthaftes, dass Menschen auf Verlassenwerden mit Zorn reagieren. Lediglich als Übertreibung oder Verzerrung und wenn sie trotz endgültigem Verlust nicht irgendwann aufhören, seien aggressive Gefühle ein Anzeichen für pathologisch verlaufende Trauer.[69] Allgemein führt Bowlby die Komplexität von Trauer auf die Anzahl der an ihr beteiligten Reaktionssysteme sowie deren Neigung, miteinander in Konflikt zu geraten, zurück. So löse der Verlust der geliebten Person einerseits den intensiven Wunsch nach Wiedervereinigung aus und andererseits auch Zorn über ihr Verschwinden, einerseits einen Schrei um Hilfe, andererseits die Ablehnung derer, die Hilfe anbieten. Diese schwer entwirrbaren Zusammenhänge führen, so Bowlby, zur Schmerzhaftigkeit von Trauerprozessen, zur ausgeprägten Individualität der Verläufe und zur Schwierigkeit, sie zu verstehen.[70]

Canacakis, ganz Gestalttherapeut, macht die Komplexität deutlich, indem er Beispiele von Ausdrucksmöglichkeiten aufzählt, wie Trauer sich nach außen zeigen kann: Weinen, Kummer, Schluchzen, Jammern, Erschöpfung, Apathie, Schweigen, Stöhnen, Schmerzensschreie, Angst, Wut, Groll, Hadern, Grimm, Beschimpfung, Selbstbelügen, Ärger, Fluchen, Grübeln, Vorwürfe, Nachtragen, Resignieren, Hilflosigkeit, Hoffnungsverlust, Selbstaufgabe, Sich-gehen-lassen, Verzweiflung, Betäubtsein, Hass, Zärtlichkeit, Verzeihen, Erbitten, Flüchten.[71] Er untermauert damit sein Fazit: „ Trauer ist nicht nur Trauer. Sie ist ein gemischtes Gefühl, das in seiner Vielfalt schwer erkennbar ist.“[72]

Um Trauer als Entwicklungsprozess verstehen und Betroffene empathisch

begleiten zu können, ist es hilfreich, mit der Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit von Trauer zu rechnen und darauf gefasst zu sein, dass Trauernde sich selbst und die sich nicht selten widerstreitenden Gefühle, oft nicht verstehen können.

1.1.3.2 Die Bedeutung von Abwehrprozessen im Rahmen von Trauer

Ein zentrales Merkmal, das die Komplexität von Trauer mit ausmacht, sind Abwehrprozesse. Um deren Bedeutung im Rahmen von Trauer auf die Spur zu kommen, geht Bowlby auf kognitive Prozesse ein, die nach seiner Ansicht die Reaktion eines Menschen auf Verlust beeinflussen. Vom Konstruktivismus herkommend stellt er grundlegend fest, dass Menschen die Situationen, die sie erleben, in ihren Vorstellungsmodellen, die sie sich von sich und der Welt gemacht haben, wahrnehmen. Informationen, so Bowlby weiter, führen nicht unfiltriert zu Reaktionen - dann sähen sie bei verschiedenen Menschen nicht so unterschiedlich aus - sondern sie werden unbewusst ausgewählt, interpretiert und bewertet, bevor aus ihnen Handlungspläne erwachsen. Empfinde ein Mensch eine Situation als schädlich, versuche er, sie zu verändern. Je schädlicher eine Situation empfunden werde, desto rascher geschehe in der Regel die Bewertung und das Handeln, deswegen könne je unangenehmer die Situation desto ungenauer die Wahrnehmung und fehlerhafter die Planung sein. Das innere Arbeitsmodell, das sich der Mensch im Laufe seines Lebens durch viele Einflüsse gebildet habe, neige dazu, kurzfristig unpassende Informationen auszuschließen. So kommt z.B. das Leugnen einer unerträglichen Realität zustande. Langfristig, so Bowlby, könne jedoch ein altes Modell durch ein neues ersetzt werden. Allerdings sei die Demontage des alten inneren Arbeitsmodells und der Ersatz durch ein neues eine sehr mühselige Aufgabe und geschehe deshalb nur widerstrebend. Je bedrohlicher die neue Situation empfunden werde, desto schmerzhafter und erschreckender sei diese innere Umgestaltung.[73]

Die als Abwehrprozesse bekannten geistigen Prozesse, die die Schmerzhaftigkeit von Trauer lindern und so in erster Linie Menschen vor Überforderung schützen, versteht Bowlby als „ im Dienst der Abwehr stehenden Ausschluss unwillkommener Informationen[74]. Übersichtlich macht er die verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten, indem er sie in sechs Formen einteilt:

1. Ein Hinterbliebener fühlt sich betäubt und unfähig, an das zu denken, was geschehen ist.
2. Die Aufmerksamkeit und Aktivität wird von schmerzlichen Gedanken und Erinnerungen auf neutrale und angenehme umgelenkt.
3. Es wird der Glaube aufrechterhalten, der Verlust sei nicht von Dauer.
4. Die Erkenntnis gewinnt Raum, dass der Verlust tatsächlich eingetreten ist, und mit ihr das Gefühl der fortdauernden Anwesenheit des verlorenen Menschen.
5. Die Wut wird von der Person, die sie hervorgerufen hat, auf jemand anderen gerichtet. (Verschiebung)
6. Die emotionale Reaktion auf den Verlust wird kognitiv von der Situation losgelöst, die sie hervorgerufen hat. (Verdrängung, Spaltung oder Dissoziation)

Diese Prozesse seien in der Praxis in vielfältigen Kombinationen vorzufinden. Die ersten drei Formen könnten pathologische Formen annehmen. Der Unterschied zu gesunden Formen des Abwehrprozesses liege vor allem in der Dauer und im Ausmaß der Wirkung auf die psychischen Funktionen des Menschen. Wenn z.B. Ablenkung, die zweite o.g. Form, episodisch auftrete, sei sie mit einem gesunden Trauerprozess vereinbar. Wenn sie sich aber rigide festsetze, könne sie zu einer langandauernden Hemmung von Lebensfunktionen führen. Die vierte Form sei, so Bowlby, integraler Bestandteil einer gesund verlaufenden Trauer. Die fünfte und sechste führten, wenn sie nicht nur vorübergehend aufträten, stets zu einem ungünstigen Ausgang.[75]

Dieses Wissen um Abwehrprozesse hilft, das Chaos von Gefühlen und Verhalten in der Begegnung mit Trauernden ein Stück weit zu begreifen und als direkte und indirekte Äußerung von Trauer zu erkennen. Z.B. erinnere ich mich an ein Fernsehinterview, das in den ersten Tagen nach der Tsunami-Flut in Asien im Dezember 2004 gesendet wurde. Deutsche Urlauber, die Angehörige verloren hatten, äußerten statt Trauer Wut auf den deutschen Staat, der überhaupt nichts unternehme. Dieses Empfinden kann so eine Verschiebung von Wut auf andere Personen bzw. Institutionen gewesen sein und ist als unmittelbare Reaktion nach einem die Menschen völlig überfordernden, traumatisierenden Erlebnis eine verständliche Reaktion. Bliebe diese Umlenkung, diese Verschiebung von Wut und Trauer allerdings bestehen und bliebe der Zorn die einzige geäußerte Emotion, würde das den Ablauf des Trauerprozesses und die Verarbeitung des Verlustes blockieren.

1.1.3.3 Faktoren, die den Verlauf von Trauer beeinflussen

Menschen reagieren auf Verluste und Trennungen mannigfaltig und unvorhersagbar. Einschätzbar sind dennoch einige Bedingungen, die den Verlauf von Trauer beeinflussen.

Canacakis nennt acht solcher Faktoren: 1. Der Kulturkreis könne den Ausdruck von Trauergefühlen fördern oder unterdrücken. 2. Auch die Nationalität präge das Umgehen von Menschen mit Gefühlen. 3. Die Religion könne sich positiv stützend in Trauerkrisen auswirken. Ein bestimmter Erwartungskodex, z.B. dass Wut oder Gram nicht erlaubt sei, könne Trauer aber auch hindern. 4. Ein starker Faktor sei die Persönlichkeit des Betroffenen, wie er gelernt habe, Schmerz zu bewältigen, welche Erwartungen er gegenüber sich selbst und welche Einstellung gegenüber dem Tod er habe. 5. Einflussreich sei die Beziehungsqualität zwischen dem Verstorbenen und Hinterbliebenen und welche evt. unersetzlichen Funktionen der Verstorbene ausgefüllt habe. 6. Des weiteren spiele die Art des Todes, z.B. ob er plötzlich eingetreten, durch Selbstmord oder Unfall verursacht ist, eine wichtige Rolle. 7. Frühere Verluste, die nicht verarbeitet worden sind, führten in aller Regel zu Komplikationen im Trauerverlauf, da sich die Trauerenergie addiere. „ Diese alte, nicht verstandene, nicht angenommene und unausgedrückte Trauer sucht in dieser neuen Situation auch ihren Weg nach außen.“[76] 8. Der aktuelle Gesundheitszustand beeinflusse den Verlauf von Trauer nicht unerheblich. Wenn jemand z.B. von vornherein geschwächt, krank, süchtig oder körperlich beeinträchtigt sei, könne das die Trauer verlängern bis chronifizieren. 9. Das soziale Umfeld sei ein weiterer wichtiger Faktor. Jemand der die Erlaubnis habe zu trauern, der Unterstützung, Bestärkung und Trauersolidarität erfahre, könne die Aufgabe leichter bewältigen als jemand dessen Traueranlass als nicht akzeptabel gelte z.B. bei Schwangerschaftsabbruch. 10. Parallellaufende Krisen, Belastungen und Überforderungen jeglicher Art, verhinderten oft, dass Trauernde sich der aktuellen Situation widmen könnten. 11. Auch Alter und Geschlecht hätten, so Canacakis, Auswirkungen auf den gelingenden Verlauf von Trauer. Jüngere Menschen weiblichen Geschlechts hätten die besten Prognosen, Trauer zu bewältigen. 12. Schließlich könnten banale Dinge wie berufliche Position oder finanzieller Status den Trauerprozess erleichtern oder erschweren.[77]

Bowlby teilt die Bedingungen, die den Verlauf von Trauer beeinflussen in fünf Kategorien von Variablen ein: 1. Die Identität und Rolle der verlorenen Person. Entscheidend für Trauer sei, ob ein unmittelbarer Angehöriger verloren wurde und ob die Beziehung eng oder in irgendeiner Weise problematisch gewesen sei.

2. Alter und Geschlecht der hinterbliebenen Person. Ein Verlust vor dem Erreichen der Reife verursache meist größere Schwierigkeiten. 3. Ursachen und Umstände des Verlustes. Ein plötzlicher, unerwarteter Verlust sei ungleich schwerer zu verarbeiten. Weitere einflussreiche Umstände seien, ob vor dem Sterben eine längere Phase der Pflege stattgefunden habe, ob der Tote verstümmelt sei, wie die Information über den Tod die Hinterbliebenen erreicht habe, wie die Beziehung zwischen Hinterbliebenem und Verstorbenem unmittelbar vor dem Verlust war oder wer auf den ersten Blick für den Tod verantwortlich sei (z.B. Fahrlässigkeit bei Unfall, Suizid) 4. Soziale und psychologische Umstände des Hinterbliebenen zur Zeit des Verlusts und danach. Ausschlaggebend sei, in welchem Lebensarrangement der Hinterbliebene lebe, ob er alleinlebend sei, ob er für Kinder oder Adoleszente verantwortlich sei, in welchen sozioökonomischen Verhältnissen er lebe, ob z.B. ökonomische Schwierigkeiten die Trauer erschwerten und schließlich ob Hinterbliebene über Praktiken und Überzeugungen verfügten, die gesunde Trauer förderten. 5.

Persönlichkeit des Hinterbliebenen mit besonderem Bezug auf seine Fähigkeiten zur Herstellung von Liebesbeziehungen und zur Reaktion auf belastende Situationen. Diese Kategorie hält Bowlby für die einflussreichste, da die Wirkung der anderen durch sie vermittelt werde. Als Beispiele für besonders zu gestörter Trauer tendierende Persönlichkeiten nennt er Personengruppen, die zur Herstellung angstvoller, ambivalenter Beziehungen neigen, Menschen mit der Disposition zu zwanghafter Fürsorge und solche mit der Disposition, Unabhängigkeit von Gefühlsbindungen zu behaupten.[78] Die Bedeutung früherer Verluste in aktuellen Trauerkrisen erklärt Bowlby aus der Perspektive der Bindungstheorie: Wenn ein Mensch die Person verliere, an die er gegenwärtig gebunden sei, die ihm Sicherheit und Geborgenheit vermittle, dann wende er sich einer früheren Bindungsfigur zu, um sich trösten zu lassen. Wenn diese Person aber schon früher gestorben sei, breche der Schmerz über diesen Verlust wieder neu auf.[79]

Volkan nennt Risikofaktoren, die Trauer erschweren können, betont jedoch, dass es letztlich unvorhersehbar sei, was ein Mensch aushalte und woran er zerbreche. Als Umstände, die Trauer komplizieren, nennt er unerledigte Dinge zwischen Hinterbliebenem und Verlorenem, äußere Umstände, die die Fähigkeit zu trauern überfordern, ungelöste vergangene Verluste sowie eine psychische Veranlagung, die Trennungen nicht ertragen kann. Je glücklicher und reifer eine Beziehung gewesen sei, desto eher gelinge das Loslassen, wenn es auch trotzdem schmerzhaft sei. Je abhängiger und problematischer aber eine Beziehung gewesen sei, desto weniger gelinge das Loslassen. Als problematische äußere Umstände nennt er die Plötzlichkeit des Todes, fehlende Zeit und Raum zur Trauer (z.B. Soldaten im Gefecht), die Belegung des Todes mit einem Stigma (z.B. Aids, Drogen, Suizid), das Fehlen sozialer Unterstützung und hilfreicher Rituale, die Gewaltsamkeit des Todes sowie die fehlende Möglichkeit, den Leichnam zu sehen. Unbewältigte Verluste hält auch Volkan für problematisch in ihrer Auswirkung auf die Bewältigung aktueller Verluste. Ergänzend betrachtet er den Abschluss der Adoleszenz als entscheidend für die Fähigkeit, als Erwachsener trauern zu können. Die Adoleszenz sei geradezu die Probe für die Trauer, weil hier die Lösung von den Eltern bewältigt und eine neue Qualität von Beziehungen zu Gleichaltrigen entwickelt werden müsse.[80]

Langenmayr gibt einen Überblick über besonders belastende Faktoren für den Trauerprozess. Unter Bezug auf Rando nennt er folgende Todesumständ e: Plötzlichkeit des Geschehens, Gewalt, Vermeidbarkeit, Zufälligkeit, Verlust eines Kindes, gleichzeitiger Verlust mehrerer Personen, persönliche massiv schockierende Konfrontation mit dem Tod auf Seiten des Hinterbliebenen, Tod durch Suizid, Unsicherheit über den Verlust und die Umstände, das Nichtauffinden des Leichnams, schambesetzte Todesumstände. Unter Bezugnahme auf Littlewood nennt Langenmayr drei weitere Gruppierungen von belastenden Faktoren. Zu sozialen Begleitumständen zählt er soziale Desintegration, mangelnde soziale Unterstützung, finanzielle Probleme und wenn im Umfeld alle so tun, als sei nichts geschehen. Als sich problematisch auswirkende Beziehungsmerkmale nennt er ängstliche und abhängige Beziehungen, symbiotische Beziehungen, extrem einseitige Rollenverteilung, ausgeprägt ambivalente Beziehungen sowie narzisstische Beziehungen, in denen der Verstorbene eine Erweiterung des eigenen Selbst war. Als Merkmale des Hinterbliebenen zählt er schließlich prämorbide psychische Belastung, die Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken, vorangegangene ungelöste Verluste, mehrere Verluste in kurzer Zeit, eigene Vorerkrankung und vermeintliche Stärke auf.

Diese vielfältigen Faktoren wirken komplex ineinander und machen die persönliche Reaktion auf eine Verlustkrise nicht eindimensional vorhersehbar. Zwar gibt es die Tendenz, dass je mehr Risikofaktoren zusammen kommen, desto größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Trauerprozess problematisch verläuft oder gar nicht in Gang kommt. Aber es gibt auch Beispiele dafür, dass Menschen trotz vieler Risikofaktoren Trauer bewältigen. Zentral sind für mich folgende Einzelheiten: Ein entscheidender Faktor, der von unterschiedlichen Autoren bestätigt wird, ist die Qualität der Beziehung zwischen Verstorbenem und Hinterbliebenem. Problematische Todesumstände sind ein spürbarer Stolperstein auf dem Weg des Trauerprozesses, ebenso unverarbeitete frühere Verluste. Ausschlaggebend dafür ob Trauer gelingen kann sind des weiteren, ob Raum und Zeit dafür vorhanden ist, und ob der Betroffene Unterstützung aus seinem sozialen Umfeld erhält. Der Faktor, durch den die anderen vermittelt wirken, und damit der einflussreichste, ist die Persönlichkeit des Hinterbliebenen, seine Ressourcen, um Krisen zu bewältigen und seine Fähigkeit, stützende Beziehungen aufzubauen. Das weist darauf hin, dass die Arbeit mit Trauernden durchaus sinnvoll und erfolgversprechend ist.

1.1.3.4 Trauerphasen und Traueraufgaben

Auch wenn Trauer individuell und unvorsehbar verläuft, sind doch gewisse Abfolgen feststellbar, die auf einen gesunden Verlauf, d.h. auf eine Verarbeitung des Geschehens hindeuten. Diese Ansicht ist bei unterschiedlichen Autoren zu finden, wenn auch die Einzelheiten voneinander abweichen.

Langenmayr nennt drei Phasen: 1. Die initiale Phase erlebe der Trauernde als Schock oder Betäubung. Seine spontane Reaktion sei oft Verleugnung, Affektisolierung und Rationalisierung. 2. In der akuten Phase brächen intensive Emotionen in großer Bandbreite auf. Es komme oft zu Rückzug oder Identifikation mit dem Verstorbenen. 3. Die abschließende Phase sei eine Zeit der Ablösung und Hinwendung zu neuen Personen und der Erholung. Langenmayr warnt vor dem Trugschluss, dass die Phasen automatisch abliefen und der Trauernde nur passiv abwarten müsse, und betont die Notwendigkeit der aktiven Auseinandersetzung. Unter Bezug auf Worden nennt er folgende Traueraufgaben, die zu bewältigen sind: Die Realität des Verlustes müsse akzeptiert werden, die emotionalen Aspekte, insbesondere der Schmerz, müssten erfahren werden. Die neue Situation erfordere die Anpassung an eine neue Umgebung ohne den Verlorenen und für die gestorbene Person müsse im emotionalen Leben ein neuer Platz gefunden werden, der es erlaubt, sich an sie zu erinnern. Die Ziele von Trauer, die Klass u.a. nennen, gehen in eine ähnliche Richtung: Einerseits sei die Loslösung vom Verstorbenen und die Reinvestierung von Energie in neue Beziehungen wichtig, andererseits könne von einem gelungenen Trauerprozess nur gesprochen werden, wenn eine Art von Bindung weiterbesteht, d.h. dem Toten ein neuer Platz im weiteren Leben als Quelle der Bereicherung für die Gegenwart geschaffen wird.[81]

Volkan unterscheidet zwischen unkomplizierter und komplizierter Trauer und teilt den Ablauf unkomplizierter Trauer in die zwei Hälften der Krisentrauer und der Trauerarbeit. Während der Krisentrauer ringe sich der Trauernde von der Leugnung bis zur Annahme des Verlusts durch ein Chaos des Spaltens, durch Widerstände die sich in einer Art „Feilschen mit dem Schicksal“ äußern, durch Angst und Wut hindurch. Volkan betont, das Trauererleben sei so individuell wie Fingerabdrücke und diese Gefühle liefen nie linear ab, sondern kehrten immer wieder bis zum Abklingen der Krisentrauer.

[...]


[1] zit. n. Canacakis 2003 S.12

[2] vgl. Duden Etymologie Stichwort „trauern“

[3] Arnold Langenmayr, promovierter Diplom-Psychologe, Professor Universität- Gesamthochschule Essen, Mitbegründer des Instituts für Angewandte Psychologie mit dem Schwerpunkt Fortbildung in Trauerberatung und Trauertherapie

[4] vgl. Langenmayr S.21f

[5] vgl. Langenmayr S.22f

[6] vgl. Langenmayr S.27f

[7] vgl. Bowlby 1983 S.29

[8] vgl. Kast S.93f

[9] vgl. Bowlby 1983 S.30

[10] vgl. Bowlby 2001 S.116

[11] vgl. Bowlby 1983 S. 62

[12] vgl. Bowlby 1983 S.31

[13] Verena Kast, Psychotherapeutin, Habilitation zum Thema „Die Bedeutung der Trauer im therapeutischen Prozess“ Universität Zürich, Lehranalytikerin Universität Zürich und C.G. Jung-Institut Zürich

[14] vgl. Kast S.7

[15] vgl. Kast S.26

[16] Kast S.66

[17] vgl. Kast S.13 u.157ff

[18] Vamik D. Volkan, Psychiater und Psychoanalytiker am Psychoanalytischen Institut Washington, Fakultätsmitglied der University of Virginia Health Sciences Center

[19] Volkan S.11

[20] vgl. Volkan S.10-12

[21] Jorgos Canacakis, Diplompsychologe, Psychotherapeut, Gestalt-, Kunst- und

Musiktherapeut, Promotion über Trauerverarbeitung im Ritual vgl. 1.1.2.1, Begründer und Leiter der Akademie für Menschliche Begleitung Essen (AMB) und der dort stattfindenden Trauerseminararbeit

[22] Canacakis 1995 S.24

[23] vgl. Canacakis 2003 S.138

[24] vgl. Canacakis 2003 S. 139

[25] vgl. Canacakis 2003 S.177

[26] vgl. Canacakis 2003 S.204

[27] vgl. Canacakis 2003 S.212

[28] vgl. Langenmayr S.33ff

[29] vgl. Canacakis 2003 S.179ff

[30] vgl. Canacakis 1995 S.31ff und Canacakis 2003 S.146

[31] vgl. Kast S.65f.160.171

[32] vgl. Gösken S.1

[33] vgl. Hoffmann S.38f

[34] vgl. Volkan S.10f

[35] vgl. Bowlby 2001 S.91f

[36] vgl. Bowlby 2001 S.89

[37] vgl. Bowlby 1983 S.18

[38] vgl. Kast S.17ff

[39] vgl. Volkan S.21

[40] vgl. Canacakis 2003 S.179ff

[41] Hand in Weber S.3f

[42] Lewis S.48f

[43] Lewis S.59

[44] Lewis S.66f

[45] Stavros Mentzos, Artikel „Trauma“, Fachlexikon der sozialen Arbeit S.764f

[46] vgl. Canacakis 2003 S.71ff

[47] vgl. Pfeiffer S.2

[48] vgl. Rudolf S.59f

[49] vgl. Rudolf S.61ff

[50] vgl. Rudolf S.63f

[51] Rudolf S.64

[52] vgl. Rudolf S.64

[53] vgl. Bowlby 1983 S.164.172

[54] vgl. Langenmayr S.9ff

[55] vgl. Canacakis 1982 und Canacakis 2003 S.89ff

[56] Canacakis 2003 S. 89

[57] vgl. Canacakis 2003 S.106

[58] vgl. Gösken S.2f

[59] vgl. Pfeiffer S.2f

[60] vgl. Kast S.22

[61] vgl. Langenmayr S.12f

[62] vgl. Canacakis 2003 S.80ff

[63] vgl. Canacakis 2003 S.104ff

[64] vgl. Canacakis 2003 S.112

[65] Kast zit.n. Lewis S.10

[66] vgl. Kast S.72ff

[67] vgl. Hoffmann S.50f

[68] vgl. Gösken S.1f

[69] vgl. Bowlby 1983 S. 44f. 116f.121f

[70] vgl. Bowlby 1983 S.48f

[71] vgl. Canacakis 2003 S.29

[72] Canacakis 2003 S.29

[73] vgl. Bowlby 1983 S.296ff

[74] vgl. Bowlby 1983 S.182

[75] vgl. Bowlby 1983 S.182ff

[76] Canacakis 1995 S.15

[77] vgl. Canacakis 2003 S.172 ff

[78] vgl. Bowlby 1983 S.224-275

[79] vgl. Bowlby 1983 S.208f

[80] vgl. Volkan S. 49-66

[81] vgl. Langenmayr S.27f

Ende der Leseprobe aus 129 Seiten

Details

Titel
Trauer als Entwicklungsprozess
Untertitel
Sozialpädagogische Begleitung von Trauerarbeit unter besonderer Berücksichtigung kreativer Medien
Hochschule
FOM Hochschule für Oekonomie & Management gemeinnützige GmbH, Frankfurt früher Fachhochschule
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
129
Katalognummer
V81425
ISBN (eBook)
9783638847223
ISBN (Buch)
9783640866960
Dateigröße
993 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Trauer, Entwicklungsprozess
Arbeit zitieren
Ingrid Jope (Autor:in), 2005, Trauer als Entwicklungsprozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81425

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