Paradoxerweise ist die Kunst von Yvette Guilbert in Frankreich, wo sie entwickelt wurde, die Ausnahme geblieben, während sie gerade in Deutschland das "literarische" Chanson geprägt hat, wenn auch dort nie übertroffen wurde. Das letztere wurde durch den sächlichen Artikel und das Attribut aus dem französischen Lied (la chanson) ausgegrenzt, weil man es als "mit Musik vorgetragene Literatur" verstand. Die besten Dirnenlieder geben eine kleine Szene, die transparent wird für einen Lebensstil und die Gesellschaft, die ihn ermöglicht. (Liste von etwa 100 berücksichtigten Beispielen; zuerst als Vortrag im Theaterwissenschaftlichen Institut der Universität München am 20.7.1992 und vor dem Jap. Germanistenverband, Gakushuin Daigaku, Tokyo, 15.5.1993; IVG-Vortrag, University of British Columbia, Sect. 16, 17.8.1995)
Im Jahre 1932, ein Jahr vor der "Machtübernahme" durch die Nationalsozialisten, stellte sich im "Blauen Saal" des Berliner Eden-Hotels eine mondän aufgemachte Chansonette, Hilde Hildebrandt, am Flügel begleitet von einem kleinen dickleibigen Mann, Rudolph Nelson, einem Publikum mit folgendem Lied (59) vor:
Immer wieder muss ich lüstern flüstern
und mit sinnlich leicht bewegten Nüstern
mich so schlaksig hintenrum bewegen,
um die Herren Männer aufzuregen.
Wenn ich meine Augen schwül verrenke,
hält kein Mann bei seiner Frau mehr aus.
Mir wächst das erotische Menkenke
aber schon stundenlang zum Hals heraus.
Refrain: Ich bin die Sünde persönlich.
Ich bin ganz außergewöhnlich.
Ich mache die Männer scharf,
aber keiner darf. Ätsch!
Erst werd ich vampig
und dann werd ich pampig.
Erst tu ich so, als ob;
dann lach ich Hohn.
Ich bin von Fuß bis Kopf
ein kleiner Dämon.
Immer wieder lass ich aus Versehen
ein Stück Beinfleisch oder sowas sehen.
Ach, ich finde mich dabei so dämlich.
Doch die Herren Kerle reizt das nämlich.
Alle werden sie zu meinen Sklaven.
Ach, mir macht das absolut kein Spaß.
Ich verführe selbst die feinsten Grafen,
aber mich, - ja mich verführt kein Aas!
Refrain: Dabei bin ich die Sünde persönlich! etc.
Wenn sie wüssten, wie mir als Vampir ist,
wüssten sie, wie mies mir schon von mir ist.
Wenn sie wüssten, wonach ich mich sehne:
nur nach einer kleinen echten Szene!
Alle Männer sind mir einfach hörig.
Aber keinen gibt’s, der mir gehört.
Tausend Tonfilmliebesworte hör' ich;
aber ich, - ich bleibe unerhört!
Refrain: Weil ich die Sünde persönlich,
weil ich so außergewöhnlich,
drum mach ich die Männer scharf,
aber keiner darf.
Glaubt man, ich bin vampig,
ja dann werd' ich pampig,
dann tu ich so, als ob,
dann lach ich Hohn:
Mein Gott, mein Gott, mein Gott!
Was bin ich für eine Person!
(Nach Tonbandaufnahme notiert)
Wir haben es hier mit einem typischen Beispiel für eine Variante des "literarischen Chansons" in Deutschland[i] zu tun: einem "Dirnenlied“[ii] Diese Vortragsgattung ist ungefähr ein Jahrhundert alt. Zwar hat es Vorläufer in der Form motivverwandter Gedichte (z. B. von Goethe oder von Clemens Brentano[iii]) gegeben. Jedoch hat dieses Genre seine Erfolge fast ausschließlich im Kabarett gefeiert, zuerst in Frankreich (seit 1881, dem Gründungsjahr des Pariser Cabaret "Chat Noir"), dann genau zwanzig Jahre später in Deutschland (seit 1901 in Ernst von Wolzogens Berliner "Überbrettl" und bei den Münchener "Elf Scharfrichtern").
Warum gibt es Dirnenlieder nicht schon länger ? - Dirnen hat es auf alle Fälle schon länger gegeben; und Lieder müssen sie auch gelegentlich gesungen haben, wie andere Berufsstände, etwa Matrosen, Soldaten oder Baumwollpflücker[iv]. - Die Lieder, die Dirnen gelegentlich gesungen haben mögen, waren jedoch keine "Dirnenlieder" in unserem Sinn. Im "Dirnenlied" stellt eine Prostituierte - oder eine Vortragskünstlerin, die vorübergehend so tut, als ob sie eine wäre - sich selbst dar. Sie singt nicht über irgend etwas, worüber andere Menschen auch singen, sondern nur über sich selbst, über ihren Lebensweg, ihr Schicksal, ihre „Rolle", falls sie nicht wirklich eine Dirne ist. Als "Rollenlied" ist das Dirnenlied technisch eher den "Auftrittsliedern" in Posse und Volksstück[v] zu vergleichen, in denen sich ebenfalls ein(e) Darsteller(in) in einer bestimmten Rolle vorstellt. Dazu gehört ein gewisser Grad an Bewustheit. Der Darsteller muss gleichsam "neben sich treten", von sich Abstand nehmen und sich selbst - direkt oder indirekt - charakterisieren. Das Dirnenlied kann deshalb keine frühe Liedform sein, wie etwa das "Arbeitslied“[vi], das "Tanzlied" oder das "Trinklied". Es gehört einer Kulturstufe an, in der Menschen bereits gelernt haben, sich "soziologisch" zu sehen, d. h. hinter ihrem gegenwärtigen Zustand eine Entwicklung, die - unter ganz bestimmten Umweltseinflüssen - zu diesem hinführt. Deshalb gibt es "Dirnenlieder" in unserem Sinne erst seit dem 19. Jh. Wir verdanken die ersten der soziologischen Perspektive des Realismus und Naturalismus. Nachdem sich aber das Cabaret einmal ihrer bemächtigt hatte, sind sie eine der Hauptvarianten des Chansons geblieben, von Frank Wedekind (1864-1918) his zu Erich Kästner (1899-1974), von Klabund (1890-1926) his zu Bruno Balz (1902-1988).
Gibt es eine genaue männliche Entsprechung zu dieser Form von "Selbstdarstellungschansons", etwa "Strichjungenlieder"? - Bisher nicht. Jedoch könnte man in den sogen. "Relationen" oder "Hinrichtungsliedern" des (echten und "stilisierten") "Bänkelsangs[vii] eine ungefähre Entsprechung sehen. (Ein Beispiel wäre Aristide Bruants A la Roquette und dessen berlinerische Nachdichtung von Hans Hyan: Die letzte Nacht.) In beiden Gattungen beschreibt eine außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stehende Person ihr Leben. Im Hinrichtungslied geschieht dies kurz vor der Vollstreckung des Todesurteils. Wie wir sehen werden, endet auch das Dirnenlied oft mit Anspielungen auf den Tod, Z. B. Klabunds Drei wilde Gänse (45):
Geh' schenk mir doch 'nen Fuffziger,
Geh' schenk mir doch 'ne Mark.
Ich will mich mit Schnaps besaufen,
Ich will mir eine Villa kaufen
Oder einen Sarg ...
so auch sein Hamburger Hurenlied (49):
Eines Tages holt uns die Sitte hinaus,
Und sie sperrt uns in das graue Krankenhaus,
Dann sind wir tot und sterben
Wohl bei der Nacht,
Ahoi!
Weil es uns Freude macht.
Max Hoffmanns Madame Potiphar (36) endet ihr gleichnamiges Lied mit folgender Worten:
Doch schließlich verlass ich den stolzesten Grafen
und geh' in ein winziges Bretterhaus schlafen,
und biete der Mutter Erde mich dar
mit Haut und Haar, mit Haut und Haar!
Wie an obigen Zitaten zu sehen ist, sind Dirnenlieder hauptsächlich in der ersten Person Singular geschrieben. Das gilt jedoch nicht ausnahmslos. Vom Inhalt her kann man auch Lieder einbeziehen, in denen über eine Dirne gesprochen wird. In einem weiteren Beispiel von Klabund, welches mit Anspielungen auf den Tod endet (In Lichterfelde-Ost, 51) spricht ein Mann über seine ehemalige Geliebte:
Jetzt bietet Papierblumen sie feil - noch knapp
in Lichterfelde-Ost.
Zuweilen kauf' ich ihr welche ab,
Die leg ich ihr übers Jahr aufs Grab
in Lichterfelde-Ost.
Von "high class prostitutes" wie von "common street walkers" ist in unseren Beispielen die Rede. Am liebsten führen Dirnenlieder jedoch den graduellen Abstieg eines Mädchens von der ersten zur letzteren Stufe vor. Es ist der Kontrast zwischen dem "Glamour" der noch jungen Kokotte und dem Elend ihrer letzten Lebensjahre, der viele Dichter am meisten bewegt, eine quasi barocke Faszination am Vergänglichkeitsmotiv.
Darin muss man etwas Moralisierendes erblicken. Der Autor bedeutet uns: So geht es am Schluss denen, die sich außerhalb der bürgerlichen Moral stellen. Und damit kann er die Faszination des Voyeurs rechtfertigen, die den Bürger immer an die Dienerinnen der Lust gefesselt hat. Es ist die gleiche Haltung, die auch den Bankelsänger und sein Publikum verbindet: Zuerst erregt man sich am Skandalösen. Dann schämt man sich seiner Erregung. Nun muss man den moralischen Zeigefinger erheben, um diese Faszination zu rechtfertigen. Und alle verdienen an der Durchbrechung der offiziellen Norm: Die Dirne verkauft ihre sexuellen Aufmerksamkeiten; der Kabarettist seine Lieder über die Dirnen. Dazu kommt, dass "Dirnenlieder" fast ausnahmslos von Männern geschrieben wurden (Ausnahme: Adele Schreiber). Diese können also in zweierlei Sinne Nutznießer der Prostitution sein: als "Käufer" und als "Literaten". - Man versuche einmal sich vorzustellen, dass alle "Zuhälterballaden" und "Hinrichtungslieder" ausschließlich von Frauen verfasst worden wären. - Würde man sich nicht über dieses ausschließliche Interesse wundern und fragen, warum Frauen sich einbilden, die Psychologie des asozialen Mannes so gut zu kennen? - Die Voraussetzung dieser scheinheiligen Faszination ist eine Gesellschaft, in der es zwei "Märkte" für die Sexualität gibt: einen offiziellen (in der Ehe) und einen "schwarzen" (der Prostitution). - Liegt hier der Grund, warum das Dirnenlied in unseren Tagen langsam aus der Mode zu kommen scheint ? - Zwar gibt es immer noch Dirnen; jedoch fehlt ihnen das "Verruchte", die damenhafte oder dämonische Prätention. Unsere Dirnen sind sozusagen gewerkschaftlich und gesundheitsamtlich „erfasst". Sie leben in sauberen, gänzlich unromantischen Wohnheimen.
In unserem anfangs zitierten Nelson-Chanson liegt das Moralisierende darin, dass der "Vamp" sich selbst ironisch sieht: "Ich bin die Sünde persönlich" heißt es im Refrain. Die Sängerin beklagt den Talmi-Charakter ihres Daseins und sehnt sich nach einer "kleinen echten Szene" mit einem, "der ihr gehört". - Eigentlich spricht hier der moralisierende Dichter zu uns aus dem Munde der Dirne. Später tat dies Erich Kästner gern, z. B. in Eine Animierdame stösst Bescheid (41).
Gibt es unter den Dirnenliedern eine Gegentendenz zu diesem moralisierenden Ton, ausgedrückt etwa von einer Dirne, die sagt: "ja, so bin ich nun mal. Mir macht es Spaß und ich bedaure nichts!"? - Bereits in Operetten mit der unvergesslichen Fritzi Massary, aber auch in Filmen mit Zarah Leander[viii] oder Marlene Dietrich haben wir Chansons dieser Art erlebt. So schrieb für Zarah Leander Ralph Benatzky für den Film Zu neuen Ufern folgenden Text (7):
Man nennt mich Miss Vain, die berühmte, bekannte, - Yes, Sir!
die nicht sehr beliebte bei Onkel und Tante, - No, Sir!
Man fürchtet, ich könnt' die behüteten Nichten
im Spielsalon oder im Himmelbett treffen,
ich könnt' sie verführen mit tausenden Listen
zu etwas, was sie vielleicht doch noch nicht wüssten.
Yes, Sir! Yes, Sir!
So bin am ganzen Leibe ich,
So bin ich und so bleibe ich, - Yes, Sir! etc.
Und auch dieses Chanson endet mit einer Anspielung auf den Tod, wenn auch mit ganz anderer Einstellung:
Und muss ich mein irdisches Gastspiel beenden, - Yes, Sir!
sollt ihr euch nicht gleichgültig von mir wenden, - No, Sir!
Ich habe geliebt und ich habe geküsst,
weil die Liebe doch dazu erfunden ist,
wie's alle auch hier tun seit tausenden Jahren. -
Nur darf man um Gottes Will'n nichts erfahren!
No, Sir! Yes, Sir!
So bin am ganzen Leibe ich.
So bin ich und so bleibe ich, Yes, Sir!
[...]
[i] Vergl. mein Buch gleichen Titels (Bern-München: Francke Verlag 1966, Slg. Dalp Bd. 99).
[ii] Es wird in meinem Buch nur erwähnt, noch nicht zusammenhangend beschrieben.
[iii] Clemens Brentano (1778-1842): Ich kenn ein Haus, ein Freudenhaus und Schicksal einer Dirne.
[iv] Eine Zusammenstellung dt. spr. Lit. zum Volkslied in meinem Buch (s. o.) S. 230f.
[v] Lit. zum Lied (Couplet) im Volksstück: Jürgen Hein, Das Wiener Volkstheater, Darmstadt 1978; ders. "Zur Funktion der Musikalischen Einlagen in den Stücken des Wiener Volkstheaters."Jb. f Intern Germanistik A, Bd. 15, 1968; L. Richter, "Das Berliner Couplet der Gründerzeif", Studien zur Trivialmusik des 19. Jhs., Hg. v. Carl Dahlhaus (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jhs VIII, Regensburg 1967; Otto Rommel, Die Alt-Wiener Volkskomödie, Wien 1952; Wolfgang Ruttkowski, "Exkurs: Das Couplet:", Das literarische Chanson in Deutschland (Bern 1966) Sn. 25-36, 174-176. ders. „Couplet“ in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Bd. I Hg. Klaus Weimar/Harald Fricke/Klaus Grubmüller/Jan –Dirk Müller (Berlin/New York: Walter de Gruyter 1997) 322-424. Ebenda (S. 294-296) ein Artikel von mir über das „Chanson“.
[vi] Vergl. Karl Bücher, Rhythmus und Arbeit, Leipzig 5. Aufl. 1919.
[vii] Lit. zum Bänkelsang in: Karl Riha, Moritat, Bänkelsang, Protestballade, Kabarett- und engagiertes Lied in Deutschland, Königstein/Ts. 21979 Leander Petzoldt, Bänkelsang, Stuttgart 1974.
[viii] Von weiteren Film-Chansons Zarah Leanders braucht nur der Refrainbeginn zitiert zu werden, um zu zeigen, dass sie dem Dirnenlied nahe stehen: "Abenteuer sind am Abend teuer", "Ich kenn' den Jimmy aus Havanna." Man muss den Männern was bieten. "Mein Leben für die Liebe, jawohl !", "Jede Nacht ein andres Glück".
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