Einleitung
Das weltweit bisher einzigartige Ereignis der friedlichen Revolution von 1989/90: die Wende in der Geschichte der deutschen Teilung und gleichsam der Beginn der europäischen Einigung, hat auch die Literatur nicht unbeeinflusst gelassen. Zahlreiche deutsche Schriftsteller haben ihre Eindrücke, Erfahrungen, Botschaften in Romanen zum Wendegeschehen verarbeitet; zu eindrucksvoll, zu folgenreich für jeden einzelnen war dieses Ereignis, als dass biographische Bezüge geleugnet werden könnten. Auch bei dem in der vorliegenden Arbeit näher zu beleuchtenden Roman Unter dem Namen Norma, 1994 bei Klett-Cotta erschienen, sind zahlreiche Parallelen zur Biographie der Autorin, Brigitte Burmeister, herausgearbeitet worden. Burmeister selbst hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass sie ihre eigenen Erfahrungen literarisch im vorliegenden Werk verarbeitet hat. Dies gilt insbesondere für die folgenschweren Auswirkungen der Wende. Denn der Prozess des Zusammenwachsens erweist sich als schwierig, die Mauer in den Köpfen (vgl. Hinck 1994 sowie Steinert 1995, 244), „die reale Uneinheit [...], diese[s] Ausmaß an Fremdheit und sogar Aversion“ (Mitscherlich/Burmeister 1991, 41) ist nach wie vor ein Problem.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Marianne Arends: Heimat Ost-Berlin!
Exkurs: Margarete Bauer - Flucht durch Selbstmord
3. Johannes: Bewerbung bestanden?
4. Max: Alternative Landkommune?
5. Norma: Solidarität in Aktion!
6. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Das weltweit bisher einzigartige Ereignis der friedlichen Revolution von 1989/90: die Wende in der Geschichte der deutschen Teilung und gleichsam der Beginn der europäischen Einigung, hat auch die Literatur nicht unbeeinflusst gelassen. Zahlreiche deutsche[1] Schriftsteller haben ihre Eindrücke, Erfahrungen, Botschaften in Romanen zum Wendegeschehen verarbeitet; zu eindrucksvoll, zu folgenreich für jeden einzelnen war dieses Ereignis, als dass biographische Bezüge geleugnet werden könnten. Auch bei dem in der vorliegenden Arbeit näher zu beleuchtenden Roman Unter dem Namen Norma, 1994 bei Klett-Cotta erschienen, sind zahlreiche Parallelen zur Biographie der Autorin, Brigitte Burmeister, herausgearbeitet worden. Burmeister selbst hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass sie ihre eigenen Erfahrungen literarisch im vorliegenden Werk verarbeitet hat.[2] Dies gilt insbesondere für die folgenschweren Auswirkungen der Wende. Denn der Prozess des Zusammenwachsens erweist sich als schwierig, die Mauer in den Köpfen (vgl. Hinck 1994 sowie Steinert 1995, 244), „die reale Uneinheit [...], diese[s] Ausmaß an Fremdheit und sogar Aversion“ (Mitscherlich/Burmeister 1991, 41) ist nach wie vor ein Problem.
Die vorliegende Arbeit untersucht daher die im Roman geschilderten Auswirkungen des Wendegeschehens auf das Leben der Menschen in Ostdeutschland. Unter diesem Aspekt werden die zentralen Figuren des Romans und ihre Beziehungen zu einander beleuchtet: Allen voran die Ich-Erzählerin, die aus Ost-Berlin stammende Übersetzerin Marianne Arends, die wie viele ihrer Landsleute innerhalb kürzester Zeit ein wahres Gefühlskarussell erlebt: Die anfängliche Euphorie angesichts der Maueröffnung, die die lang ersehnte Freiheit bringt, weicht einem Gefühl der Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Zukunft, aber auch der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Hinzu treten die Schwierigkeiten im Umgang mit den neuen Landsleuten aus dem Westen. Es schließen sich kurze Analysen der Auswirkungen der Wende auf Mariannes Lebensgefährten Johannes, ihren gemeinsamen Freund Max und schließlich Mariannes beste Freundin Norma an. Allen gemein sind ihnen oben angedeutete Aspekte: Euphorie, Unsicherheit, Orientierungslosigkeit, Vergangenheitsbewältigung, Überlegungen zur womöglich veränderten Zukunft, Identitätssuche (vgl. Scholz 2000, 13). Im Allgemeinen „leiden die Figuren unter den Folgen der deutschen Einheit“ (Lorou 2003, 245). Sie stellen jedoch die gemeinsame Leistung der Einheit nicht in Frage. Vielmehr entwickeln sie daraus folgende, völlig unterschiedliche neue Lebensentwürfe.
2. Marianne Arends: Heimat Ost-Berlin!
Marianne hat vor der Wende gemessen an den Lebensumständen in der ehemaligen DDR ein recht glückliches Leben geführt, man könnte fast sagen, dass sie sich mit dem äußerst schwierigen und eintönigen Leben in der DDR arrangiert bzw. alles Negative verdrängt hatte.[3] Ihre Pflichten als Genossin hat sie mehr oder weniger gewissenhaft wahrgenommen und sich ansonsten wenig um Ideologie und Politik gekümmert. Dennoch war sie 1989 zusammen mit ihrem Lebensgefährten Johannes auf Demonstrationen gegangen und hatte sich von der Euphorie aufgrund der Wende in der DDR anstecken lassen (vgl. N., 20) - eine Euphorie, die sie auch Jahre nach dem Ereignis lebhaft wiedergibt:
„Ein Taumel in Wirklichkeit […] endete im Lauffeuer der Nachricht vor tatsächlich sich öffnenden Toren. Lachen, Tränen, Schreie, Sprünge, alles durcheinander, ihr und wir und die da in den Uniformen, ein Gewoge und Gestammel die Nacht hindurch. […] Ein hellwacher Rausch, ein Tanz, der uns auseinanderriß und zusammenführte in undurchschaubaren traumhaft sicheren Figuren immer wieder auf einander zu […]“ (N., 189f.)
Eine erste unmittelbare Auswirkung der Wende besteht für Marianne in deren Prozess selbst: Sie, die nie politisch interessiert war, wird nun mit vielen anderen aktiv und bewirkt den Zusammenbruch des DDR-Regimes mit. Im Folgenden wird sich auch der vorausdeutende Charakter der obigen Einschätzung erweisen: Der Prozess des Auseinanderreißens und Zusammenführens wird auch nach dieser Nacht anhalten und das Leben Mariannes bestimmen.[4]
Nicht nur aufgrund der Differenzen, die ihre Beziehung mit Johannes nach der Wende bestimmen, sondern auch aufgrund der zum Teil negativen Veränderungen, die sie für sich, aber auch in ihrem Umfeld wahrnimmt, verfliegt die Euphorie der Freiheit sehr schnell.[5] Auch ihre anfängliche Aktivität schlägt ins krasse Gegenteil um; Marianne scheint von den Veränderungen überfordert. Sie hält inne, beobachtet, blickt zurück, denkt nach. Die Erzählstruktur[6] unterstützt diesen Eindruck. Der Plot ist schon allein deshalb überschaubar, weil er lediglich zwei Tage umfasst. Der gegenwärtige Erzählstrang, der sich zudem noch durch zahlreiche Beobachtungen und Gespräche und eben weniger durch direkte Handlung auszeichnet, wird oftmals und meist unvermittelt unterbrochen von den Gedanken der Protagonistin, die um die Folgen der Wende, den damit unmittelbar zusammenhängenden Streit mit Johannes, um Erinnerungen zum Leben in der DDR und die Überlegungen zur Zukunft kreisen. Wir schauen durch die Brille einer Figur, die sich mit dem durchaus problematischen Alltag in Ost-Berlin nach der Wende konfrontiert sieht, die ihre Mitmenschen scharf beobachtet, die uns zudem an ihrem Gefühlsleben teilhaben lässt und die dem Leser, vor allem dem westdeutschen,[7] die Möglichkeit gibt, die Probleme der Menschen in Ostdeutschland nach der Wende zumindest ansatzweise nachzuvollziehen.
Gleich zu Beginn des Romans wird der Leser allerdings mit dem Schicksal Margarete Bauers konfrontiert, das auch an Marianne nicht spurlos vorübergeht.
Exkurs: Margarete Bauer - Flucht durch Selbstmord
Sicher war Margarete Bauer eine derjenigen, die als Einzelne, „[...] die lächel[t] oder zufällig bunt [ist] und das Gesamtbild verwisch[t]“, aus der „graue[n], grämliche[n] Masse“[8] (N., 7) hervorstach. Ihr Schicksal wird zunächst indirekt erwähnt. Im Treppenhaus begegnet Marianne Frau Schwarz, „der die Umwelt immer unverständlicher wurde“ (N., 10) und die nach den Geräuschen auf dem Innenhof fragt. Es handelt sich dabei um Möbelträger, wie Marianne geduldig der schwerhörigen älteren Dame erklärt. Sie verschweigt jedoch die „traurige Wahrheit“ (N., 10) und ist erleichtert, da Frau Schwarz nicht weiter nachfragt. Wie der Leser erst einige Seiten später erfährt, handelt es sich bei der traurigen Wahrheit um den Tod Margarete Bauers: Frau Schwarz bemüht sich zu Marianne, um zu erfahren, wer denn nun ausgezogen sei oder ob jemand gestorben sei (vgl. N., 35). Nicht zuletzt aufgrund der Begriffsstutzigkeit ihrer Besucherin, die Marianne zu Erklärungen zwingt, beginnt bei ihr sofort die gedankliche Auseinandersetzung mit den Ereignissen: Margarete Bauer hat Selbstmord begangen, „[...] ist vom Balkon gesprungen, in der Wohnung einer Freundin, zehnter Stock, sie war sofort tot“ (N., 41). Der Leser erhält nun umfangreich Kenntnis von der traurigen Geschichte und weiß spätestens jetzt, dass der Roman kein Loblied auf die Deutsche Einheit singt.
Margarete Bauer war eine resolute Frau, wie Mariannes bewundernder Beschreibung zu entnehmen ist (vgl. N., 38f). Sie hatte allerdings einige Lasten zu tragen, da sie für sich und ihren Sohn allein aufkommen musste. Nachträglich schwingt Bewunderung mit, wenn Marianne sich an den Mut Margarete Bauers erinnert, da sie wohl nicht nur ihren Alltag als alleinerziehende und berufstätige Mutter gemeistert hat, sondern darüber hinaus öffentlich Kritik am politischen System äußerte. (vgl. N., 37) Sie schreckte auch nicht davor zurück, die Gesellschaft der DDR grundlegend in Frage zu stellen, in der „[...] das Los einer alleinerziehenden Mutter indessen zu hart war, um als Meilenstein auf dem Weg sozialer Evolution zu gelten, [...] denn unsere Gesellschaft, statt vielfältige Formen von Gemeinschaft zu erproben, zeigte sich hier so verstockt und unfähig wie überall, wo es um den neuen Menschen ging [...]“ (N., 36f.); in der außerdem „[...] eine Alleinstehende mit Kind [...] mehr als zweieinhalb Zimmer“ nicht erwarten könne und damit „[e]ndversorgt“ sei, worüber sie sich „schwarz geärgert“ (N., 45) habe. Zwar gibt Marianne zu, „in gewohnter Weise“ mit „aufmerksamer Miene“ zugehört zu haben, mit ihren Gedanken aber schnell woanders gewesen zu sein. Und dennoch: In ihrer Erinnerung, die für den Leser die einzige Möglichkeit ist, sich ein Bild zu machen, sind ebenjene Episoden haften geblieben, in denen Margarete Bauer als energisch, willensstark und dem Regime und der Gesellschaft in der DDR gegenüber äußerst kritisch erscheint. Umso erschütternder ist für Marianne Margarete Bauers Selbstmord, der auf bestürzende Art und Weise vor Augen führt, dass sie ein „weiteres Opfer unserer unblutigen Revolution“ (N., 42) ist, wie Marianne in fiktivem Zwiegespräch[9] diejenigen zu Wort kommen lässt, die nach einer einfachen Erklärung für Margaretes Entscheidung suchen. Margarete, deren Traum es gewesen war, „unser kleinkariertes Dreibuchstabenland“ (N., 45) zu verlassen, um der Monotonie in der DDR zu entfliehen, hat ihr schweres Leben stets gemeistert, die Folgen der Wende jedoch stürzten sie in eine scheinbar ausweglose Situation, vor der sie schließlich kapitulierte. Ihr sollte es unmöglich werden, die neue Freiheit auszukosten. Ihr Schicksal wird jedoch in wenigen Zeilen berichtartig aufgelistet, was dem Leser auf sehr ernüchternde Art und Weise vor Augen führt, von welchen Schicksalsschlägen Menschen wie Margarete Bauer im Zuge der Wiedervereinigung erfasst wurden und welche Folgen diese mitunter nach sich ziehen konnten:
„Daß Margarete Bauer im vergangenen Jahr ihre Arbeit verloren hatte, seitdem Stellenangebote studierte, Bewerbungen schrieb, ungezählte Stunden auf den Wartebänken von Ämtern zubrachte, nichts fand, das sich für sie oder wofür sie sich eignete, daß die Aussicht auf Erfolg immer schmäler, das tägliche Auskommen schwieriger wurde [...], daß Norbert ausgezogen – der Mutter entflohen war, sagte das Gerücht – und Margaretes leidvolle, über Jahre hinweg haltbare Beziehung zu einem verheirateten Mann den allgemeinen Umbruch nicht überstand [...]“. (N., 41)
Das Gerücht hat offensichtlich wesentlichen Anteil am Selbstmord Margarete Bauers. Ganz besonders hartnäckig ist ihr wohl vorgeworfen worden, sie sei IM gewesen. Wir erfahren nichts über die näheren Umstände – ob das etwa den Tatsachen entspricht, ob das der Grund für ihre fehlende Aussicht auf einen Arbeitsplatz war, ob vielleicht sogar ihr Sohn dem Gerücht Glauben schenkte und sie deshalb verließ. Sicher ist nur, dass sie keinen Ausweg mehr sah und tragischerweise die Freiheit bringende Wende für Margarete Bauer den Tod bedeutete.[10]
Margarete Bauers Schicksal geht Marianne daher auch merklich nahe und hat sicherlich einen entscheidenden Anteil an ihrer allgemein kritischen Haltung gegenüber der allzu rasanten Wende und der Art und Weise, wie manche ihrer Landsleute damit umgingen. Sie ist auch so sehr damit beschäftigt, das außerhalb der Vorstellungen liegende Ereignis (vgl. N., 42) des Selbstmordes zu verarbeiten, dass sie nicht in der Lage ist, Frau Schwarz in schonenden Worten davon zu unterrichten. Einer letzten Aufforderung Frau Schwarz´, doch zu sagen, was passiert sei, kommt sie ohne Umschweife nach:
„Sie war nicht im Krankenhaus, sagte ich schnell. Sie ist von einem Balkon gestürzt, aus dem zehnten Stock. Sie wollte nicht mehr leben. Sie war auf der Stelle tot.“[11]
Auch Marianne droht die Bodenhaftung zu verlieren. Sie bekommt mit der deutlichen Verschlechterung ihrer Auftragslage nicht nur wirtschaftlich zu spüren, (vgl. N., 199) dass die Wende trotz politischer und persönlicher Freiheit auch ihre Schattenseiten hat. (vgl. Lorou 2003, 113) Sie muss darüber hinaus sehr schnell realisieren, dass sich im Prozess des Zusammenwachsens Probleme zwischen Ost- und Westdeutschen ergeben, die nicht zuletzt in der wachsenden Ausprägung gegenseitiger Vorurteile begründet liegen. Auf der ostdeutschen Seite spielen Desorientierung[12], Perspektivlosigkeit, Resignation und Minderwertigkeitsgefühle, aber auch Trotz[13] und latente Aggression eine entscheidende Rolle, wie die folgende Szene, die Marianne in einer Kneipe beobachtet, exemplarisch zeigt.[14] Aufgrund ihrer Interpretationen des zu Sehenden und zu Hörenden gibt sie Aufschluss über Mariannes eigene Haltung zum Leben im Ost-Berlin nach der Wende. Sie beobachtet ein Gespräch zwischen zwei Männern, die offensichtlich beide in Folge der Wende arbeitslos geworden sind und über ihre Situation nachdenken. Aggression ist zu spüren, da der eine lieber eine blutige Revolution gesehen hätte, Resignation, wenn der andere ihm antwortet:
„Und wenn sie die gesamte Sippschaft an die Wand gestellt hätten, meinste, du würdest jetzt nicht stempeln gehen? - Ich rede nicht von Arbeit. Von Gerechtigkeit.“ (N., 81)
Die scheint nicht vorhanden zu sein angesichts ihres „einvernehmliche[n] Vergleichen[s] und Summieren[s] der geschichtlichen Erträge: Unterm Strich plusminus null für ihresgleichen[15], früher betrogen und heute wieder und jedesmal von den eigenen, erst den Klassenbrüdern, nun den Landsleuten. [V]orbei die Mauerpartys, der ganze Jubel und die Geschenke, das Leben war wieder, wie es immer gewesen, Anschiß […] [man mußte also] denen von drüben zeigen, daß sie es hier nicht mit Bimbos zu tun hatten […], verstand ich, auch ohne genau zu hören, was die beiden sagten.“ (N., 85). Anhand von nonverbalen Kommunikationsmerkmalen verbalisiert Marianne, mittlerweile durch ihre Beobachtungen und ihre eigenen Erfahrungen mit den Problemen und Gedanken der Menschen vertraut, das Gespräch der beiden dergestalt, dass man geneigt ist, ihre eigenen Gedanken auf dieses Gespräch projiziert zu sehen. Anhand von Gestik und Mimik sowie einzelner Gesprächsfetzen interpretiert Marianne die Szenerie weiter, die auf ihren Höhepunkt zusteuert, indem einer der Männer Exemplare ebenjener Menschen von drüben[16] erblickt, die das Lokal betreten. Sein Gesichtsausdruck verrät zunächst Misstrauen, steigert sich aber beim zweiten Blick zu einem unverhohlen feindseligen Starren (vgl. N., 82), das für Marianne in dem Vorurteil besteht, diese Touristen von drüben - als Mitbürger werden sie schon gar nicht wahrgenommen - könnten sich in dieser nicht sehr ansehnlichen Kneipe nur deshalb freiwillig aufhalten, weil „sie Geld rochen“, schließlich „schreckten [die da] vor nichts zurück“ (N., 82). Die vermeintlichen Besucher aus dem Westen sind trotz des feindseligen Blickes ziemlich ahnungslos. Sie bewegen sich „ganz unbefangen in einer Umgebung, die ihnen fremder sein mußte als ihr Hotel in Kenia oder auf den Malediven oder wo immer sie die Ferien verbracht hatten, geübte Reisende und als solche im Osten unterwegs […]“ (N., 83). Wie niemand anderer strahlen sie – so offenbar Mariannes Eindruck – „Unantastbarkeit [aus], diese sanfte Autarkie von Lebewesen, denen es an nichts fehlte, die Mangel nur als Anblick in der Fremde kannten“ (N., 86). Obwohl sie „in der Hauptstadt ihrer Republik umhergingen“ (ebd.) könnte das Urlaubsland wohl fremder nicht sein: „Die Straßen, die Häuser und Höfe mußten sie erschreckt haben.“ (ebd.) Zudem die „unglücklichen Höhlenbewohner [,] Deutsche [...] wie sie, ein Gedanke, zu dem sich kein Wirklichkeitsgefühl einstellen wollte [...].“ (N., 87) Die Erzählerin legt uns hier entscheidende Gründe für die Fremdheit zwischen Ost- und Westdeutschen im Zuge der Wende dar: Zum einen treten hier die altbekannten Vorurteile gegenüber Westdeutschen zutage: wohlhabend, sehr selbstsicher, gar arrogant[17] und voller geheucheltem Mitleid für die gebeutelten Mitbürger aus dem Osten, die man noch gar nicht als Deutsche wahrnehmen kann angesichts des verwahrlosten Zustandes, in dem sich der Osten und seine Bewohner befinden. Auf der anderen Seite müssen wir uns allerdings vergegenwärtigen, dass es im Grunde keinen stichhaltigen Anhaltspunkt für diese Gedanken gibt, die Marianne dem Paar unterstellt.[18] Es handelt sich um ihre eigenen Überlegungen, die von starkem Minderwertigkeitsgefühl Westdeutschen gegenüber zeugen, greift man nur die eigene Bezeichnung als „unglückliche Höhlenbewohner“ heraus. Ein Gespräch kommt gar nicht erst zustande. Die Besucher aus Westdeutschland haben wohl wenig Interesse an den Anwesenden und verlassen, auch das ein Beleg für ihr eher geringes Interesse, Münzen auf den Tisch legend, das Lokal, bevor sie merken konnten, dass die beiden Männer ihre von Vorurteilen und Minderwertigkeitskomplexen geprägte Haltung bis zur Feindseligkeit gesteigert hatten. Marianne beobachtet Resignation, wenn sie ihren Eindruck der beiden schildert:
„Sie wirkten irgendwie erschöpft. Sie taten mir leid. Wieder Pech gehabt und immer schon. Vergebliche Mühe, Mißerfolge von Anfang an.“ (N., 90)
[...]
[1] Wohl aufgrund der persönlichen Betroffenheit nahmen sich vornehmlich ostdeutsche Schriftsteller des Stoffes an, vgl. Scholz 2000, 14, Soldat 1997, 133 sowie Koopmann 2000. Vgl. darüber hinaus auf literarische Debatten nach dem Fall der Mauer verweisend Breuer 2002, 12-25.
[2] Vgl. Kaufmann 1994 a, 221f, Jenny-Ebeling 1995, Kaiser 1994 sowie vor allem Mitscherlich/Burmeister 1991. Ich möchte es aber mit diesem Hinweis bewenden lassen, da die vorliegende Arbeit keinen ausreichenden Raum für eine fundierte biographische Interpretation bietet.
[3] Hier sei auf die reiche Farbsymbolik hingewiesen, mit der die Erzählerin viele Eindrücke untermalt. Es fällt auf, dass in ihren Erinnerungen zum Leben in der ehemaligen DDR gedeckte Farben wie grau und braun oder sehr verschwommene Farben vorherrschen, die auf ein eintöniges Leben hindeuten, s. N., 30: „Himmel [...] ohne Farbe, [...] der kaffeebraune Wandanstrich abstoßend düster“; „brauner Schuh [...] Hosenbeine von dunklem Braun“ (N., 135); „dieses Grau-in-Grau einer Jugendzeit“ (N., 235), „graue Wände“ (N.,131) u.ö. Diese Farbtöne lassen angesichts der Farbenvielfalt, die im Westen zu herrschen scheint - vgl. N., 131f: „glänzend bunte Giant Post Cards“ - und die nach der Wende in die Beschreibungen Mariannes Einzug hält, symbolisch darauf schließen, dass das Durchdringen bunter Lebendigkeit in der DDR unterdrückt wurde, vgl. beispielhaft N., 183: „helle Farben [im] neuen Landesteil, [...] Vorstöße einer Erneuerung, die um sich greifen würde“. Lediglich die Farbe rot durchbricht die Eintönigkeit. Rot steht auch für den kommunistischen Staatsapparat, der alles beherrscht und jeglichen Gedanken an Freiheit – symbolisch: an freie Entfaltung der Farben – im Keim erstickt, vgl. beispielhaft das Gefängnis, das „Roter Ochse genannt“ wurde, N., 66.233. Allerdings wird dem Leser in ihren gedanklichen Rückblenden, die oftmals eher darauf abzielen, das Positive der vergangenen Jahre zu vergegenwärtigen und das Negative zu verdrängen, die Unterdrückung vor Augen geführt, die auch Marianne zu erleiden hatte, vgl. exemplarisch N., 73ff. sowie ihre eigene Einschätzung: N., 112.
[4] Vgl. Wehdeking 1995, 81.
[5] Vgl. ebd., 77.
[6] Vgl. mit weiteren Erläuterungen Grant 1994, Wehdeking 1995, 80, Westphal 1994, Kaufmann 1994, 175 sowie vor allem Lorou 2003, 69-81 (bes.71f.74), der diese und weitere Merkmale auf die Tradition des Nouveau Roman zurückführt, in der Burmeister zu verorten ist. Cramer 1994 spricht von einer „Überblendungstechnik“, wodurch ein „Sinnraum [entsteht], der den Kopfstand innerer und äußerer Distanzen meldet.“ Abschließende Urteile fällt die Erzählerin selten; sie sind dem Leser vorbehalten (vgl. Döbler 1994), dessen Aufmerksamkeit bei der Lektüre des Romans aufgrund dieser bemerkenswerten Erzähltechnik ohnehin besonders gefordert ist, was aber nicht nur der Spannung zuträglich ist. Die Erzählweise, gleichsam der Aufbau des Romans untermalen darüber hinaus auf formale Weise zentrale Motive wie Aufbruch, gegenwärtige Suche nach Orientierung, Zukunftsgedanken, rückwärtsgewandte Vergangenheitsbewältigung, komplizierte zwischenmenschliche Beziehungen. Im Rahmen dieser Arbeit kann darauf nicht intensiver eingegangen, sondern nur auf o.g. Sekundärliteratur verwiesen werden. Dennoch sei abschließend Cramer 1994 zitiert, die die aufgestellte These treffend untermauert: „Der Monolog der Erzählerin verschweißt Alltagsprotokoll und Gedächtnisreise, Erleben und Erinnern. [...] Gegenwart und Vergangenheit werden einander in einem gestaffelten Spiegelsystem zugeordnet, in Sehkabinetten, die den Geschichtsstoff gegen die Laufrichtung segmentieren, auch in der Totale. Um die offene Mittelachse legt die Autorin die beiden Kapitel ,Am 17. Juni‛ und ,Am 14. Juli‛. So entsehen aus den offenen Feldern zwischen den Geschichtszeiten Projektionsräume. Aus ihnen gewinnt die Erzählung ihre Zukunftsperspektive“.
[7] Vgl. Wehdeking 1995, 78, der den Kern des Romans darin sieht, „einen Verständigungsbeitrag zwischen Lesern der alten und neuen Bundesländer mit dem nicht so neuen ,Lernziel Solidarität’“ zu leisten.
[8] Vgl. Anm. 3.
[9] Dieses erzählerische Mittel wählt die Ich-Erzählerin häufiger, vgl. z.B. die „Kneipenepisode“.
[10] Marianne gibt einige, nicht sehr zimperliche Reaktionen auf Margarete Bauers Selbstmord wieder. Eine davon ist o.g. Gerücht, Margarete Bauer sei IM gewesen, was jetzt ans volle Licht der Wahrheit gekommen sei, manche aber nicht vertrügen. So sei ihr Schicksal tragisch, aber irgendwo gerecht – Schuld und Sühne, wodurch die Dinge wieder ins Lot gerieten, vgl. N., 42f.58. Vgl. auch Lorou 2003, 100ff., der die IM-Thematik ins Zentrum weiterer Betrachtungen stellt.
[11] N., 43. Diese teils unvollständigen, mit dem anaphorischen Personalpronomen eingeleiteten Parataxen wirken für den Leser – und wohl erst recht für Frau Schwarz – wie Messerstiche, und es ist, als stürbe Margarete Bauer erst jetzt, mit diesen schonungslosen Worten, wirklich. Anhand der ausführlich geschilderten Episoden aus Margaretes Leben auf der einen, der berichtartigen Aneinanderreihung ihrer Schicksalsschläge sowie der drastischen Sprache zum Hergang ihres Selbstmordes auf der anderen Seite wird die Fassungslosigkeit der Ich-Erzählerin deutlich, der sich der Leser nicht entziehen kann.
[12] Und zwar auf verschiedenen Ebenen: politisch, gesellschaftlich, räumlich, zeitlich. Viele stellten sich die Frage – die Romanfiguren stehen hier stellvertretend für viele Bürger der ehemaligen DDR nach der Wende -, wohin sie nun gehen sollten und wie die Zukunft aussehen würde. Die Protagonistin bringt diese Unsicherheit auf den Punkt: „Vor drei Jahren ist die Ewigkeit zusammengebrochen, die Zeit seitdem entfesselt, und wir geistern durch die alten Räume und versichern uns, hier zu sein, als wüssten wir noch, wo das ist.“ (N., 79)
[13] Hinck 1994 spricht von der „Mauer in den Köpfen [...], worin Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit auf der einen, Trotz und Selbstgerechtigkeit auf der anderen Seite und ein allgemeines Klima der Verdächtigung zusammentreffen“, eine Einschätzung, die auf die im Roman geschilderten Beziehungen voll und ganz zutrifft; Cramer 1994 von der „deutschen Doppelseele“.
[14] Nicht unerheblich für die Wirkung des gesamten Romans ist außerdem, dass es sich beim Einigungsprozess nach der Wende nicht nur um einen politischen, sondern vor allem um einen zwischenmenschlichen Vorgang handelt. Auch diese Tatsache illustriert diese Szene. Außerdem ist sie ein weiteres Beispiel für die besondere Erzählweise, die dem Roman zugrunde liegt, die hier nach Cramer 1994 „Hören und Sehen [verschränkt], Kommunikation und Kontemplation, gesellschaftliche Gegenwart, die als Geräuschkulisse von außen eindringt, und ein imaginatives Sehen, das tief in die Vergangenheit wandert, ein akustisches Signalsystem und ein optisches Atelier.“
[15] Wozu sich Marianne womöglich selbst auch zählt, da auch sie von Arbeitslosigkeit bedroht ist und für den Verlust ihres Lebenspartners durchaus die Wende bzw. die Verlockungen in Westdeutschland verantwortlich machen kann.
[16] Ob es sich tatsächlich um Menschen aus Westdeutschland handelt, ist so unklar wie unerheblich. Vielmehr ist die Haltung der Ostdeutschen ihnen gegenüber von Interesse und besonders aufschlussreich. Ebendeshalb zeigt diese Episode zum einen die in Folge der negativen Konsequenzen der Wende schon fast aggressive Haltung mancher Menschen in Ostdeutschland, zumindest in der Wahrnehmung der Protagonistin. Zum anderen treten hier negative Vorurteile gegenüber Menschen in Westdeutschland zutage, die aufgrund der eigenen Situation erst recht manifest werden und die sich auch Marianne zu eigen macht.
[17] Wie viele Stereotype gibt es auch hierfür Beispiele, so Mariannes schlechte Erfahrung mit recht arroganten westdeutschen Beamten, vgl. N., 54.
[18] Daher relativiert sie ihre den Männern in den Mund gelegten Gedanken, ohne sich jedoch von ihren Vorurteilen zu distanzieren: „Wie konnten sie sich getroffen fühlen durch rachedurstige Reden mit fremdartigem Akzent, von Leuten, denen sie nichts getan hatten oder tun würden [...]“ (N., 87).
- Arbeit zitieren
- Jörg Röder (Autor:in), 2004, Auswirkungen der Wende anhand Brigitte Burmeisters Roman "Unter dem Namen Norma", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81832
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