Höflichkeitsformen im Italienischen und Portugiesischen


Diplomarbeit, 2005

89 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Pragma- und soziolinguistische Ansätze

3 Anredesystem
3.1 Pronominale und nominale nicht-vokativische Anredeformen
3.1.1 Die Pronominalsysteme des Italienischen und Portugiesischen
3.1.2 Höflichkeit im Pronominalsystem des Italienischen
3.1.2.1 Subjektformen
3.1.2.2 Objektformen
3.1.2.3 Possessiva
3.1.2.4 Reflexiva
3.1.3 Anredepronomina und -nomina im Portugiesischen
3.1.3.1 Subjektformen
3.1.3.2 Objektformen
3.1.3.3 Possessiva
3.1.3.4 Reflexiva
3.2 Vokative
3.2.1 Italienisch
3.2.2 Portugiesisch

4 Modalsystem
4.1 Modalverben
4.1.1 Zum Status der Modalverben
4.1.1.1 Von AUX zu INFL
4.1.1.2 Zur Abgrenzung von Modal-, Auxiliar- und Vollverben
4.1.2 Modalverben und Höflichkeit
4.2 Tempora und Modi
4.2.1 Der Imperativ und seine Ersatzformen
4.2.2 Indikativ vs. Konjunktiv
4.2.3 Imperfekt
4.2.4 Konditional
4.3 Satzmodus
4.4 Lexikalische Realisierungen von Modalität

5 Lexik
5.1 Wortebene
5.2 Höflichkeitsformeln

6 Zusammenfassung und Forschungsdesiderata

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Die verbale[1] Höflichkeit steht im Mittelpunkt des Beitrags der Sprachwissenschaft zur allgemeineren Höflichkeitsforschung, die auch Soziologie, Psychologie, Kulturanthropologie und andere Wissenschaften involviert. Höflichkeit als „‚psychosoziale’ Kategorie“ (Simon 2003: 62) geht darauf zurück, dass Kommunikationspartner bei der Wahl ihrer Worte normalerweise die „Befindlichkeiten ihres jeweiligen Gegenübers“ (Simon 2003: 1) miteinbeziehen. Neben der Übermittlung von Informationen (‚Inhaltsebene’) spielen in der zwischenmenschlichen Interaktion auch Umgangsformen, soziale Konventionen usw. (‚Beziehungsebene’) eine Rolle.

‚Höflichkeit’ ist zunächst ein semantisch-pragmatisches Konzept. Die Relevanz der linguistischen Pragmatik für die Höflichkeitsforschung soll keineswegs bezweifelt werden. Jedoch steht in der vorliegenden Arbeit ein anderer Blickwinkel auf den genannten Phänomenbereich im Vordergrund. Es soll darum gehen, welche strukturellen Realisierungen in den romanischen Sprachen, speziell im Italienischen und Portugiesischen, für den Ausdruck von Höflichkeit zur Verfügung stehen. Nur fallweise wird dabei auf pragma- oder soziolinguistische Erklärungsversuche für die aktuale Verwendung der durch das Sprach-system bereitgestellten sprachlichen Mittel eingegangen bzw. auf einschlägige Unter-suchungen verwiesen. Im Mittelpunkt soll hier die Frage stehen, welche morphosyntaktischen Strukturen zum Ausdruck von Höflichkeit die romanischen Sprachen bereit halten, d.h. welchen Niederschlag Höflichkeit in der Grammatik der untersuchten Sprachen hat, und ob sich dabei Regularitäten feststellen lassen. Höflichkeit als universelle sprachliche Funktion unterscheidet sich von Sprache zu Sprache u.a. darin, in welchen Situationen und weshalb etwas als höflich gelten kann (Sozio- und Pragmalinguistik) und wie sie strukturell realisiert wird. Letzteres soll Kern der vorliegenden Arbeit sein.

Der alltagssprachliche[2] und weite, interpretative[3] Begriff der ‚Höflichkeit’ (it./pg. cortesia), unter dem meist der Ausdruck wechselseitiger Wertschätzung durch Rücksicht-nahme auf bzw. Schutz von Aspekten des (öffentlichen) Selbstbildes anderer verstanden wird und der in engem Zusammenhang mit – ebenfalls alltagssprachlichen – Begriffen wie Wohl-erzogenheit, Anstand, Takt, Freundlichkeit, Liebenswürdigkeit etc. steht, soll hier in einem technischen Sinne verwendet werden. Bei verbaler ‚Höflichkeit’ handelt es sich um eine in der Sprachstruktur manifeste Kodierung sozialer bzw. interpersonaler Distanz vs. Nähe. Demnach sollen unter ‚Höflichkeitsformen’ alle sprachlichen, insbesondere grammatischen und lexikalischen Ausdrucksmittel interpersonaler Beziehungen verstanden werden. ‚Höflichkeitsformen’ stellen also die grammatische Kodierung des (relativ höheren/ niedrigeren) sozialen Rangs bzw. der Distanz-/Intimitätsbeziehung zwischen Sprecher, Hörer und Dritten dar (vgl. auch Bußmann 32002: 284). Sie sollen nicht als stilistisches Mittel im Sinne variierender höflicher und überhöflicher bzw. eleganter Stilebenen verstanden werden. Dagegen spricht die mit dem Begriff des sprachlichen ‚Stils’ verbundene Optionalität einerseits und die Obligatorizität grammatikalisierter Höflichkeitsformen andererseits.

Das Gegenstück zur Höflichkeit, die Unhöflichkeit (it. scortesia, pg. descortesia), ist nie oder nur sehr selten[4] grammatikalisiert (Simon 2003: 84). Sie würde der gebotenen Rücksicht-nahme auf das ‚Gesicht’ (zum face -Modell siehe Kap. 2)[5] des Gegenübers widersprechen. Auf einer kontinuierlichen Höflichkeitsskala[6] von maximaler Höflichkeit bis zu maximaler Unhöflichkeit sind im Bereich der Grammatik fast ausschließlich Formen oberhalb eines neutralen, hinsichtlich der Höflichkeit unmarkierten Wertes relevant. Primär geht es im Folgenden also um den positiven Bereich der Skala, ab einem höflichkeitsneutralen – freilich schwer definierbaren – Nullpunkt aufwärts. Im Bereich des Wortschatzes werden uns jedoch v.a. auf der Lexemebene in besonderem Maße Ausdrucksmöglichkeiten von Unhöflichkeit begegnen. Natürlich können in der Verwendung sprachlicher Ausdrücke auch im Bereich des Anrede- und Modalsystems Fälle von Unhöflichkeit auftreten, beispielweise wenn ein Ranghöherer geduzt oder ihm gegenüber in unangemessener Weise ein („echter“) Imperativ verwendet wird. Diese sind jedoch systematisch zu unterscheiden von Formen der Unhöflichkeit. Aus einem unangemessenem Sprach gebrauch, d.h. aus einem Verstoß gegen soziale Normen resultierende Unhöflichkeit wird im Folgenden nicht betrachtet.

Oftmals kann Höflichkeit erst aus dem Kontrast mit einem Mangel an Höflichkeit, d.h. ex negativo begriffen werden. Ein ausbleibender Gruß erscheint als unhöflich, während ein erfolgter Gruß nicht unbedingt schon als höflich aufgefasst wird. Verhält man sich regelgerecht, gilt man noch nicht zwangsläufig als höflich; verstößt man jedoch gegen eine sozial verbindliche Konvention, fällt man als unhöflich auf[7] (Haferland / Paul 1996: 27, 29).

In der sprachwissenschaftlichen Höflichkeitsliteratur finden sich zahlreiche mit ‚Höflichkeit’ im Zusammenhang stehende Begriffe wie etwa ‚Bescheidenheit’ (it. modestia, pg. modéstia) und ‚Indirektheit’. Ersterer betrifft die eigene Person mit dem eigenen sozialen Umkreis[8], während sich ‚Höflichkeit’ auf den Gesprächspartner und dessen soziales Umfeld bezieht. Zum zweitgenannten Begriff lässt sich sagen, dass ‚Indirektheit’ weder die einzige Höflichkeitsstrategie ist, noch ist sie per se höflich: Die indirektesten Ausdrucks-möglichkeiten sind nicht notwendigerweise auch die höflichsten[9]. Eine bestimmte Gruppe indirekter Sprechakte kann jedoch durchaus als höflich gelten (vgl. Haferland/Paul 1996: 18 ff.).

Der Begriff der ‚Mitigation’ (it. mitigazione / attenuazione, pg. mitigação / atenuação) ist eben-falls nicht gleichbedeutend mit ‚Höflichkeit’. Zwar kann die Abschwächung („Milderung“, „Dämpfung“) einer Aussage Höflichkeitszwecken dienen. Um tatsächlich eine Höflichkeits-wirkung zu erzielen, bedarf es jedoch meist weiterer, ganz spezieller Bedingungen[10]. Außer-dem dient Mitigation ganz unterschiedlichen Zielen neben dem der Höflichkeit (Hölker 2003: 152).

Der Begriff der ‚Höflichkeit’ wird hier dem des ‚Respekts’ (Haase 1994, Simon 2003), der lediglich die „grammatikalisierten Varianten von Höflichkeit“ (Simon 2003: 81) bezeichnet, vorgezogen, da auch lexikalische Mittel – gleichwohl in geringerem Maße – in die vorliegende Darstellung miteinbezogen werden sollen.

Unter ‚Honorifikation’ versteht Haase (1994: 11) alle sprachlichen Verfahren der Bezugnahme bzw. der Bestimmung des sozialen Verhältnisses zwischen dem Sprecher, dem/den Angesprochenen und/oder Dritten, unabhängig davon, ob diese grammatikalisiert sind (= ‚Respekt’) oder nicht. Insofern entspricht dieses Konzept meiner Definition von ‚Höflichkeit’. Höflichkeitsbezogene Ausdrucksmittel werden daher im Folgenden auch als ‚Honorative’ oder ‚Honorifika’ (engl. honorifics) bezeichnet.

Als weitere Begriffe im Zusammenhang mit Höflichkeit, die hier jedoch nicht näher betrachtet werden können, sind die Termini ‚Deferenz’ (it. deferenza, pg. deferência) (vgl. u.a. Joseph 1987, Chodorowska-Pilch 2000a, 2000b) und ‚Reverenz’ („Ehrerbietung“) (it. ri-/reverenza, pg. reverência) (vgl. u.a. Ricciardi 1984) gebräuchlich.

Als Ziel des Ausdrucks von Höflichkeit kommt nicht nur der Adressat einer Äußerung in Frage, wenn also zu einer bestimmten Person gesprochen wird (‚Adressatenhonorifikation’), sondern auch ein unbeteiligter Dritter, d.h. wenn über eine bestimmte Person (oder u.U. Sache) gesprochen wird (‚Referenten’-/‚Unbeteiligtenhonorifikation’). Darüber hinaus kann auch in Anwesenheit bzw. gegenüber eines bestimmten ‚Mithörers’ (bystander), der nicht der eigent-liche Adressat einer Äußerung ist, Höflichkeit ausgedrückt werden (‚ bystander ’-/‚Mithörer-honorifikation’)[11] (vgl. auch Haase 1993: 105 f., Simon 2003: 76 ff.). Nach Simon (2003: 81) ist in den indoeuropäischen Sprachen fast ausschließlich diejenige Höflichkeit grammatika-lisiert, deren Ziel der Adressat ist[12].

Das unter den Höflichkeitsformen wohl augenfälligste und bekannteste Ausdrucksmittel ist in den indoeuropäischen Sprachen ein nach Intimität vs. Distanz differenziertes System von Anredepronomina. Abgesehen von der grammatischen Kodierung im Pronominalsystem, findet sich ein struktureller Niederschlag von Höflichkeit in den Sprachen der Welt jedoch an verschiedenen weiteren Stellen im System. Höflichkeit kann u.a. durch nominale Affixe ausgedrückt werden. Außerdem findet sich häufig eine Kodierung im Verbalsystem, beispielweise durch verbale Affixe, periphrastische Verbalformen, Modalverben, Verbmodus (Konjunktiv, Konditional) und -aspekt (Imperfekt), Passivkonstruktionen etc. (vgl. Subbarao/ Agnihotri/Mukherjee 1991: 36 f., Simon 2003: 189). Im Bereich des Wortschatzes kann Höflichkeit durch eine mehr oder weniger systematische Substitution weniger höflicherer durch höflichere Wörter, durch Höflichkeitsfloskeln sowie, bedingt, in Form von Partikeln lexikalisiert sein. In der (suprasegmentalen) Phonologie ist v.a. der Bereich der Intonation potentiell höflichkeitsrelevant, der im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht weiter betrachtet werden kann.

Bevor der Aufbau der vorliegenden Arbeit erläutert werden soll, folgt zunächst ein kurzer Literaturüberblick zum Thema (sprachliche) Höflichkeit. Held (1995: 103) bezeichnet die bisherigen sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zur Höflichkeit als “angloamerikanische Dominanz und romanistisches Defizit”. Die Betrachtung des italienischen und portugie-sischen Höflichkeitssystems soll diesem Einwand Rechnung tragen. Auch Simon (2003: 204) sieht als künftige Aufgabenfelder einen Bedarf an Untersuchungen zum strukturellen Nieder-schlag der Höflichkeit in anderen Sprachen als dem Deutschen. Duranti (1974) bezeichnet bereits im Titel seines Aufsatzes das Phänomen Höflichkeit bzw. Respekt als „un aspetto poco studiato“.

Die bisherige (synchrone) indoeuropäische Höflichkeitsforschung war v.a. pragma- und soziolinguistisch orientiert (vgl. Haverkate 1987, 1988, 1990, 1994, Koike 1992, Escandell Vidal 1995, Held 1995, Haferland/Ingwer 1996, Curcó 1998, Domínguez Calvo 2001, Rodrigues i.D. sowie den Überblicksartikel von Agha (1994)). Dabei nahm und nimmt die Anrede als Forschungsgegenstand eine privilegierte Stellung unter den Höflichkeitsformen ein (vgl. Meier 1951, Brown/Gilman 1960, Benigni/Bates 1977, Wilhelm 1979, Jensen 1981, Scotti-Rosin 1981, Kilbury Meißner 1982, Danesi/Lettieri 1983, Hammermüller 1984, 1993a, 1993b, 1997, Ibrahim 1984, Ricciardi 1984, Medeiros 1985, Cintra 21986/...1970/...1972, Bogusławski 1987, Joseph 1987, Terić 2000, Czachur 2004 sowie für eine – nicht mehr ganz aktuelle – Bibliographie zur Anredeforschung Braun/Kohz/Schubert 1986). Diachron stand meist die Herkunft und Entwicklung der höflichen Anredepronomina im Vordergrund (vgl. u.a. Simon 2003). Die Erforschung der „unorthodoxen“ Verwendung des Imperfekts und, in geringerem Maße, des Konditionals zu Höflichkeitszwecken – meist ebenfalls aus einem pragmalinguistischen Blickwinkel – erfreute sich erst in jüngerer Zeit zunehmender Beach-tung (vgl. Bazzanella 1990, Reyes 1990, Fleischman 1995, Chodorowska-Pilch 2000a, 2000b). Im Bereich der Lexikologie beschäftigte sich v.a. die Partikelforschung mit dem Thema Höflichkeit (vgl. dazu v.a. den von Held (2003) herausgegebenen Sammelband). Darüber hinaus existieren einige listenartige, meist nach Sprechabsichten bzw. Interaktionssituationen gegliederte Überblicksdarstellungen zu Höflichkeitsformeln im Italienischen bzw. Portugie-sischen (vgl. Kröll 1980-1986, Campo 1991, 1993, Elwert 1984). Systemlinguistisch bzw. grammatisch orientierte Untersuchungen zur Höflichkeit sind für indoeuropäische Sprachen nach wie vor rar (vgl. Haase 1994, Simon 2003).

Im Rahmen der vorliegenden, synchron ausgerichteten Arbeit zu den Höflichkeitsformen in den romanischen Sprachen, speziell im Italienischen und Portugiesischen, sollen als zentrale höflichkeitsrelevante Bereiche die Anrede (Kap. 3), die Modalität (Kap. 4) und die Lexik (Kap. 5) im Vordergrund stehen. Prosodische, insbesondere intonatorische Aspekte können nicht berücksichtigt werden. Zuvor wird ein kurzer Abriss zur pragma- und sozio-linguistischen Höflichkeitsforschung (Kap. 2) gegeben, die u.a. eine Erklärung dafür bieten kann, wieso (universal) überhaupt Höflichkeitsstrategien angewandt werden und infolge-dessen entsprechende Formen dafür grammatikalisiert bzw. lexikalisiert sind.

2 Pragma- und soziolinguistische Ansätze

Nahezu jede Einführung in die Pragmatik beinhaltet ein Kapitel zum Thema Höflichkeit (vgl. u.a. Green 1989: Kap. 7.1, Thomas 1995: Kap. 6, Yule 1996: Kap. 7, Peccei 1999: Kap. 8, Grundy 22000: Kap. 7, Meibauer 22001: Kap. 8.5). Sie gilt mitunter als eines der Hauptgebiete pragmalinguistischer Forschungen. Eine erschöpfende Darstellung deren Ergebnisse ist im Rahmen dieser Arbeit weder möglich noch vorgesehen. Es soll lediglich ein knapper Über-blick über einige Grundkonzepte gegeben werden, die im weiteren Verlauf der Arbeit fall-weise aufgegriffen werden.

Das face -Modell ist wahrscheinlich am häufigsten für eine Erklärung der Funktion von Höflichkeitsstrategien herangezogen worden. Der Begriff des ‚Gesichts’ oder ‚Images’ (face) geht auf Goffman (1955) zurück, der darunter das öffentliche Selbstbild („the public self image“[13]) versteht. Es wurde wesentlich von Brown/Levinson (1978 bzw. als Monographie 1987) weiterentwickelt. Diese treffen eine bipolare Unterscheidung zwischen ‚positivem’ (Anerkennung und Wertschätzung) und ‚negativem’ (Territorium) ‚Gesicht’, denen jeweils die Strategien der ‚positiven’ bzw. ‚negativen Höflichkeit’ entsprechen. ‚Positive Höflichkeit’ begegnet damit dem Wunsch des Kommunikationspartners nach Anerkennung, ‚negative Höflichkeit’ dem nach Freiheit in seinen Handlungen und Selbstbestimmung.

Weiterhin führen Brown/Levinson den Begriff des ‚gesichtsbedrohenden Aktes’ (face threatening act, FTA) ein. Eine potentielle ‚Gesichtsbedrohung’ – und damit einen Auslöser für Höflichkeitsstrategien wie Abschwächung, Indirektheit u.a. – stellen für den Sprecher Situationen wie Entschuldigungen, Schuldeingeständnisse, Versprechungen oder Selbstkritik dar, für den Hörer Kritik durch andere, Zurückweisungen, Beleidigungen, Verbote oder Aufforderungen. Höflichkeit wird nach dieser Auffassung als face -schützende Strategie, zur „kommunikativen Entschärfung“ (Held 1995: 74) eingesetzt. Der erforderliche Grad an Höflichkeit ist abhängig vom Gewicht bzw. der Intensität des gesichtsbedrohenden Aktes und, darüber hinaus, von soziologischen Variablen wie Distanz oder Macht vs. Solidarität (vgl. Brown/Gilman 1960).

Simon (2003: 72 f.) kritisiert jedoch am face -basierten Höflichkeitsmodell u.a., dass dieses noch keine eigentliche Erklärung dafür liefert, worin letztlich die Motivation für höfliches Sprechen bzw. Verhalten liegt. Hierzu könnten Moralauffassungen wie die „Goldene Regel“ (Haferland/Paul 1996: 13), wonach man andere so behandelt, wie man umgekehrt selbst behandelt werden will, herangezogen werden[14]. Zu weiterer Kritik am face -Modell siehe u.a. Simon (2003: 73 f.) und Haferland/Paul (1996: 16 ff.).

Als weitere „klassische“ Modelle pragmatischer Höflichkeitsforschung lassen sich Lakoffs (1973: 298) Regeln zur Höflichkeit (Don’t impose. Give options. Make A [= the addressee, Anm. d. Verf.] feel good – be friendly.) und Leechs (1983) Höflichkeitsmaximen bzw. sein Politeness Principle (PP), in Konkurrenz zum Griceschen (1975) Cooperation Principle (CP) innerhalb dessen Theorie der konversationellen Implikaturen, nennen. Demnach sieht sich der Sprecher bei der Kommunikation mit einer ständigen Spannung zwischen der Notwendigkeit größtmöglicher Effizienz und den Anforderungen an ein höfliches Verhalten konfrontiert. Durch die Wahl einer umständlicheren Ausdrucksweise weicht der Sprecher auf der Inhaltsebene vom Weg der maximalen Effizienz ab und verstößt gegen die Griceschen Konversationsmaximen. Durch diesen Verstoß drückt er auf der Beziehungsebene seinen Wunsch aus, höflich zu sein (vgl. Vorderwülbecke 1984: 307 ff., Simon 2003: 69 f.).

Die Theorie der indirekten Sprechakte von Searle (1975) versucht u.a., den Zusammen-hang zwischen Indirektheit und Höflichkeit zu erklären. Darüber hinaus kann sie als Er-klärung für die Frage herangezogen werden, weshalb Sätze wie (1a) oder (2a) (Behauptungen in der Funktion von Aufforderungen) überhaupt höflicher wirken können als ihre jeweiligen „direkten“ Entsprechungen (1b) bzw. (2b) (zahlreiche alternative Formulierungen wären denkbar), wo doch die eigentliche Intention des Sprechers allen klar ist:

(1) a. Hier zieht es.

b. Machen Sie (bitte) das Fenster zu!

(2) a. Die Suppe ist wenig gesalzen.

b. Reichen Sie mir (bitte) das Salz!

Nach Simon (2003: 72) liegt der Schlüssel zum Verständnis höflichen Verhaltens darin, dass es nicht darum geht, was real passiert (hier: Aufforderungshandlungen), sondern vielmehr darum, wie die Leute miteinander umgehen. Der Umweg über indirekte Sprechakte signali-siert dem Hörer, dass es dem Sprecher die Mühe wert ist, diesen einzuschlagen[15].

Mit dem Aufsatz von Brown/Gilman (1960) zu den Anredepronomina zwischen power und solidarity wurde bereits eine bahnbrechende Arbeit im Bereich der Soziolinguistik genannt. Sie postulieren einen Übergang von für sozial stratifizierte Gesellschaften typischen asymmetrischen Anredeverhältnissen hin zu einem sich durch ‚Solidarität’ auszeichnenden symmetrischen Pronominalgebrauch im Französischen, Italienischen und Deutschen.

Das hauptsächliche soziolinguistische Interesse am Phänomen Höflichkeit besteht darin zu untersuchen, wer gegenüber wem in welcher Situation und weshalb höflich spricht und welche der im System vorhandenen Formen er dafür verwendet. Ferner werden beispielweise gruppenspezifische Ausprägungen – schichten-, alters-, geschlechts- oder regionalspezifische Unterschiede – in der Verwendung bestimmter Höflichkeitsformen untersucht.

Die folgende Untersuchung hat eben dieses vom Sprachsystem bereitgestellte Inventar an Höflichkeitsformen in den romanischen Sprachen bzw., konkreter, im Italienischen und Portugiesischen zum Gegenstand.

3 Anredesystem

Das Anredesystem einer Sprache umfasst die Gesamtheit der in dieser Sprache zur Verfügung stehenden Mittel der Anrede. Dabei versteht man unter Anrede die explizite sprachliche Referenz eines Sprechers auf seine(n) faktisch oder imaginär vorhandenen Gesprächspartner (vgl. Czachur 2004: 741 f., Hammermüller 1993a: 1).

Zu den Anredeformen als (grammatikalisierte) sprachliche Mittel zur Herstellung eines zwischenmenschlichen Kontakts und/oder zur Verdeutlichung der Stellung der Gesprächs-partner zueinander gehören alle sprachlichen Erscheinungen, die für diese Bezugnahme verwendet werden. Dies sind Anredepronomina (eine spezielle Form der Personalpronomina, die wiederum eine Untergruppe der Pronomina darstellen) ebenso wie Anredenomina bzw. Vokative (Namen, Titel, Verwandtschaftsbezeichnungen). Die Abgrenzung zwischen pronominaler und nominaler Anrede ist beispielsweise im Portugiesischen (wie auch im Polnischen, vgl. dazu Czachur 2004: 746 ff.) nicht immer problemlos möglich (vgl. Abschnitt 3.1.4: o senhor).

Es lassen sich morphosyntaktische und lexikalische Anredeformen unterscheiden (vgl. Laroche-Bouvÿ 1989: 85). Zu den morphosyntaktischen Anredeformen gehören Pronomina bzw. Elemente mit deren Funktion (z.B. pg. o senhor), lexikalische Anredeformen sind entweder isolierte Lexeme, vgl. (1a), oder Nominalsyntagmen wie in (1b):

(1) a. Monsieur, Docteur, Président, Dupont, Paul

b. Monsieur le Président, Paul Dupont, cher ami, mon vieux, oncle Paul

Bisweilen findet sich auch eine Unterscheidung zwischen „gebundener“ und „freier“ Anrede (so z.B. bei Czachur 2004: 744 oder Haase 1994: 32), wobei unter „gebundener“ Anrede syntaktisch in einen Satz integrierte Formen verstanden werden, die die Funktion eines Subjekts, Objekts oder Attributs ausfüllen, wohingegen im Fall von „freier“ Anrede ein verbloser Satz allein geäußert wird bzw. eine entsprechende (vokativisch gebrauchte) Anredeform vor einem, hinter einem oder als Einschub in einen Satz steht, ohne in ihm eine syntaktische Funktion auszufüllen. Es lässt sich tendenziell eine Korrelation zwischen (pro)nominalen Anredeformen und deren Gebundenheit vs. Freiheit feststellen, wonach pronominale Anredeformen in der Regel syntaktisch gebunden und nominale Formen freistehend sind[16]. Es besteht jedoch durchaus die Möglichkeit der freien Bezugnahme auf einen Gesprächspartner durch Pronomina, vgl. (2a), und der gebundenen Bezugnahme durch Nominalformen wie in (2b) (vgl. Haase 1994: 32). Letztere ist insbesondere für das Portugiesische von Bedeutung (vgl. 3.1.4).

(2) a. Du, ich muss dir was erzählen.

b. Wünscht die Dame zu speisen?

Die Definition von „freier“ bzw. „gebundener“ Anrede stimmt mit der – hier bevorzugten – Unterscheidung zwischen vokativischen und nicht-vokativischen Anredeformen (vgl. Kilbury Meißner 1982) überein. Vokative sind also im Gegensatz zu den nicht-vokativischen Anredeformen nicht syntagmatisch in den jeweiligen Satz integriert („freie“ Anrede), sie stehen außerhalb der Satzsyntax und der spezifischen satzintonatorischen Kontur (vgl. Simon 2003: 1). Der Differenzierung nach vokativischen und nicht-vokativischen Anredeformen entspricht eine Unterscheidung zwischen „Anrede“ und „Anruf“ auf konzeptueller Seite. Wie bereits in (2) verdeutlicht wurde, kann jedoch zwischen diesen beiden Ebenen keine Eins-zu-eins-Entsprechung angenommen werden, denn „Anrufe“ sind auch durch normalerweise nicht-vokativisch gebrauchte Anredeformen ausdrückbar und umgekehrt (vgl. Hammermüller 1993a: 34, 36 ff.; Hammermüller 1997: 27).

Als weiterer Begriff ist der v.a. in der soziolinguistischen Literatur geläufige Terminus der „indirekten Anrede“ zu nennen (vgl. z.B. Czachur 2004: 752). Unter „direkter An-rede“ versteht man normalerweise die Anredepronomina, als die „eigentlichen“ Formen der Anrede, oder auch den Vokativ (vgl. Hundertmark-Santos Martins 21998: 370). Dagegen werden unter „indirekter Anrede“, die in (3) mit der entsprechenden deutschen Übersetzung in (3a) für das Portugiesische exemplifiziert wird (ferner auch pg. o sr. Doutor, o Manuel, o pai, a colega etc.)[17] Formen subsumiert, die gewöhnlich zur Bezugnahme auf Personen außerhalb der unmittelbaren Sprecher-Hörer-Beziehung gebraucht werden, wie aus der alternativen Übersetzung in (3b) deutlich wird. Diese gehen mit einer Verbform der (grammatischen) 3. Person einher:

(3) O senhor Martins já viu esta peça?

a. „Haben Sie dieses Theaterstück schon gesehen(, Herr Martins)?“
b. „Hat Herr Martins dieses Theaterstück schon gesehen?“

Zu einer Kritik an diesen Begriffen sei auf Hammermüller (1993a: 32, 34 f.; 1993b: 33 f.) und Haase (1994: 32) verwiesen.

Bezüglich des Anredeverhaltens, d.h. des Gebrauchs, den ein Sprecher von den ihm grundsätzlich zur Verfügung stehenden Anredeformen macht, kann zwischen symmetrischer und asymmetrischer Verwendung der Anredeformen unterschieden werden. Symmetrisch ist beispielsweise im Deutschen der wechselseitige Gebrauch der distanzierten Anrede mit SieSie bzw. der familiären Anrede mit dudu, wohingegen die reziproke Anrede mit Siedu asymmetrisch ist. Letzterer Gebrauch findet sich nach Brown/Gilman (1960: 255 ff.) v.a. in sozial stratifizierten Gesellschaften, in denen der Faktor power dominierend ist. Im Falle von symmetrischem Anredeverhalten überwiegt umgekehrt der Faktor solidarity (vgl. ibd.: 257 ff.). Ein Rückgang asymmetrischer zugunsten symmetrischer Anredeverhältnisse aufgrund der von Brown/Gilman (ibd.: 260) festgestellten Entwicklung, wonach sich solidarity gegenüber power durchgesetzt habe, ließe sich wahrscheinlich nicht nur für das Französische, Italienische und Deutsche (ibd.: 264) feststellen.

Im Folgenden sollen zunächst die Pronominalsysteme des Italienischen und Portugie-sischen in ihren Grundzügen dargestellt sowie anschließend untersucht werden, in welchem Bereich des Pronominalsystems in diesen beiden Sprachen Höflichkeit ausgedrückt wird. Dabei soll das Hauptaugenmerk auf den grammatischen Besonderheiten des Systems der heutigen Anredepronomina im Italienischen und Portugiesischen liegen. Insbesondere für das Portugiesische sollen weiterhin nicht-pronominale, d.h. Anredenomina als nicht-vokativische Anredeformen dargestellt werden. Den Abschluss bildet eine Betrachtung zu den Vokativen in beiden Sprachen.

3.1 Pronominale und nominale nicht-vokativische Anredeformen

In fast allen (west)indoeuropäischen Sprachen der Gegenwart gibt es für die Anrede einer einzelnen Person mindestens zwei im Höflichkeitsgrad unterschiedene Pronomina. Aus-nahmen hierzu bilden v.a. das Englische sowie, auf dialektaler Ebene, bestimmte süd-italienische[18] Varietäten. Manche Sprachen besitzen autonome Sonderformen für das höfliche Anredepronomen, die synchron sonst nirgends im Pronominalsystem auftreten (z.B. sp. usted, niederl. U). Dagegen finden sich die höflichen Anredepronomina anderer Sprachen (z.B. dt. Sie, fr. vous) auch unter den „normalen“ Personalpronomina (3. Ps. Pl. bzw. 2. Ps. Pl.) wieder (vgl. Simon 2003: 89 ff.).

In diesem Kapitel sollen nach einer knappen Darstellung der Pronominalsysteme des Italienischen und Portugiesischen die höflichkeitsrelevanten Pronomina darin für beide Sprachen untersucht werden. Es werden, traditionell gesprochen, die Subjekt- und (un-) betonten Objektformen der Personalpronomina sowie Possessiv- und Reflexivpronomina berücksichtigt.

3.1.1 Die Pronominalsysteme des Italienischen und Portugiesischen

In (4) ist das Paradigma der italienischen Personalpronomina dargestellt, in (5) das der portugiesischen Personalpronomina. Die Achsen der (zweidimensionalen) Paradigmentafel werden durch die grammatischen Kategorien Numerus (Sg./Pl.) bzw. Person (1., 2., 3. Ps.) und Kasus (Nom., Akk. = dir. Obj., Dat. = ind. Obj.) gebildet. Innerhalb der 3. Ps. kommt (teilweise) noch eine Unterscheidung nach Genus (Mask./Fem.) hinzu.

Die Frage danach, wo innerhalb dieses Paradigmas die Höflichkeitsformen einzuordnen sind, wird erst Gegenstand der nächsten beiden Abschnitte sein (vgl. 3.1.2 für das Italienische bzw. 3.1.3 für das Portugiesische).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In beiden Sprachen ist es möglich, pronominale Subjekte unausgedrückt zu lassen. Dies ist keine universale Eigenschaft von Sprachen, d.h. crosslinguistisch variieren Sprachen bezüglich eines Pro -drop-Parameters. Italienisch und Portugiesisch sowie beispielsweise auch das Spanische fixieren den Wert des Pro -drop-Parameters positiv; im Gegensatz dazu gehören etwa das Französische, Englische oder Deutsche nicht zu den Pro -drop-Sprachen[23]. Das dennoch mitverstandene Subjekt in Pro -drop-Sprachen wird syntaktisch durch ein nicht-overtes Pronomen repräsentiert, wie im Folgenden gezeigt werden soll (vgl. z.B. Haegeman 21994: 450 ff.).

Aufgrund des Erweiterten Projektionsprinzips (EPP) muss auch in Pro -drop-Sprachen die Subjektposition (IP-Specifier-Position) besetzt sein. Sie ist von einem Null-Element – genauer: von einer Null-NP, denn die projizierte Subjektposition ist eine NP-Position – besetzt, das phonetisch nicht realisiert und in der die externe Theta-Rolle des Verbs verwirklicht wird. Es handelt sich dabei um ein kovertes Pronomen, das wie ein overtes interpretiert, mit pro bezeichnet wird und das auf der D-Struktur präsent ist:

(6) a. pro Ha parlato.

b. Giannii dice che proi ha telefonato.

Die relativ reiche Verbalflexion im Italienischen und Portugiesischen – im Gegensatz etwa zum Englischen – erlaubt es, Subjekte ohne lexikalische Realisierung dennoch richtig zu interpretieren, denn die grammatikalischen Merkmale Person und Numerus des Subjekts können auch ohne overtes Pronomen anhand der Verbalflexion (inflection, INFL) bzw. genauer des Kongruenzverhaltens (agreement, AGR) identifiziert werden:

(7) proi parloi

Im Englischen hingegen können aufgrund der recht „armen“ Verbalflexion nur Subjekte in der 3. Ps. Sg. Präs. identifiziert werden.

Subjektpronomina werden jedoch overt gebraucht, wenn das Subjekt hervorgehoben werden soll, beispielsweise aus Gründen der Kontrastierung bei antithetisch gebauten Sätzen wie in (8) und (9) oder in emphatischen Cleft-Konstruktionen, vgl. (10). Weiterhin werden pronominale Subjekte explizit gemacht, wenn der Bezug der finiten Verbform nicht eindeutig ist, d.h. wenn andernfalls nicht deutlich würde, wer oder was gemeint ist. Dies kann bei einem koreferentiellen Bezug der Fall sein, wenn es mehr als ein mögliches Antezedens des Pronomens gibt, vgl. (11), oder aus morphologischen Gründen bei Formengleichheit beispielsweise im Konjunktivparadigma (Präsens, Perfekt, Plusquamperfekt) wie in (12), hier am Italienischen verdeutlicht, oder in der 1. und 3. Ps. Sg. des portugiesischen Imperfekts, vgl. (13). Verschafft der Kontext hier keine Klärung, so wird zur Verdeutlichung die Subjektform gesetzt:

(8) a. Tu hai meritato il premio, non Carla.

b. *Æ hai meritato il premio, non Carla.

(9) Eu trabalho enquanto tu dormes.

(10) Sou eu que ganho o dinheiro.

(11) Se Mario balla con Carla, (lei) sceglie la musica.

(12) a. Voglio che (tu) sia felice.

b. Non so se (lui) abbia detto ciò.
c. Non credeva che (tu) avessi taciuto.

(13) (Eu, Ele/Ela, Você, O senhor/A senhora, ...) falava sempre nisso.

Eine detailliertere Darstellung von Fällen, in denen die Subjektpronomina overt gebraucht werden (müssen), findet sich für das Italienische z.B. bei Renzi (1988: 538 ff.) und Krenn (1996: 260 ff.) sowie für das Portugiesische u.a. bei Kilbury Meißner (1982: 16 ff.) und Hundertmark-Santos Martins (21998: 80 f.).

Das äußerst komplexe und kontrovers diskutierte Problem der Stellung der Objektpronomina kann hier lediglich angedeutet werden. Was löst die Bewegung von Klitika aus, welche Landepositionen sind für Klitika möglich und was sind die Determinanten von Enklise und Proklise? Diese und andere Fragen können bei der Klitisierung in den romanischen Sprachen als entscheidend angesehen werden (Rizzi 2000: 96). Grob gesagt gibt es in der generativen Literatur zwei Ansätze zur Klitisierung speziell in den romanischen Sprachen (für eine ausführliche Darstellung vgl. Sportiche 1996: 220 ff.): eine ältere, auf Bewegung beruhende Analyse einerseits (z.B. Kayne 1991) und eine heute größtenteils vertretene, von Basis-Generierung ausgehende Analyse andererseits (z.B. Sportiche 1996).

Bezüglich der Stellung der unbetonten Objektpronomina im Italienischen lässt sich sagen, dass dort – im Gegensatz zum Portugiesischen – eine systematische Proklise in finiten Sätzen besteht und die enklitische Anordnung auf nicht-finite Sätze (Infinitiv, Partizip, Gerund) und affirmative Imperative beschränkt ist. Komplizierter liegen die Dinge insbesondere beim Auftreten von Modalverben, Verben der Bewegung, aspektuellen Verben und bei Auxiliarverben (vgl. Renzi 1988: 572 ff., Kayne 1991: 648 ff.).

Für das moderne europäische Portugiesisch gilt zunächst im Unterschied zu anderen romanischen Sprachen wie Italienisch oder Französisch, dass Klitika nicht an absolut satzinitialer Position auftreten können (Gesetz von Tobler-Moussafia). Als Normalfall, d.h. in Abwesenheit bestimmter, näher zu spezifizierender Auslöser der Proklise, kann für die Stellung von Objektklitika im heutigen europäischen Portugiesisch Enklise angenommen werden (zur Stützung dieser Annahme durch sprachgeschichtliche und spracherwerbliche Daten vgl. Brito/Duarte/Matos 62003: 850 ff.). Auslöser der Proklise (atractores de próclise, proclisadores) müssen dem Hostverb (hospedeiro verbal) des Klitikons vorausgehen und es c-kommandieren. Zu ihnen zählen u.a. Satz- und Konstituentennegatoren, wh -Phrasen, (einfache und komplexe) Complementizer, Adverbien, einige Quantoren, eine Teilmenge der koordinierenden Konjunktionen sowie Fokuskonstruktionen. Auf die Besonderheiten bei der Stellung der portugiesischen Klitika in nicht-finiten Sätzen kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden. Bemerkenswert ist noch die im modernen europäischen Portugiesisch aus älteren Sprachstufen verbliebene Mesoklise bei Futur und Konditional, die jedoch im Verschwinden begriffen ist. Näheres zu den portugiesischen Klitika findet sich u.a. bei Uriagereka (1995), Barbosa (1996, 2000), Vigário (1999), Duarte/Matos (2000), Raposo (2000) und Raposo/Uriagereka (2005).

Nach dieser überblicksartigen Darstellung der Personalpronomina im Italienischen und Portugiesischen sollen nun die Possessivpronomina betrachtet werden, die für die beiden romanischen Sprachen in (14) bzw. (15)[24] – zunächst wiederum ohne die entsprechenden Höflichkeitsformen – zusammengefasst sind. Dabei sind vertikal Numerus und Person des „Besitzers“ abgetragen, horizontal Genus und Numerus des „Besitzobjektes“.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die italienischen und portugiesischen Possessiva kongruieren – mit Ausnahme von it. loro, das invariabel ist – in Genus und Numerus mit dem Substantiv, auf das sie sich beziehen, d.h. mit dem „Besitzobjekt“:

(16) a. Luigii, dov’è il tuoi dizionario?

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Sie können sowohl adjektivisch(1) als auch substantivisch(2) gebraucht werden:

(17) o meu(1) carro e o teu(2)

Bei adjektivischem Gebrauch ist die unmarkierte Wortstellung die vor dem Substantiv. Dem Substantiv nachgestellt werden Possessiva in Verbindung mit dem unbestimmten Artikel, vgl. (18a), einer Zahl, vgl. (18b), einer wh -Phrase, vgl. (18c) sowie nach einigen Quantoren, vgl. (18d). Außerdem ist eine Nachstellung aus emphatischen Gründen wie in (18e) möglich:

(18) a. Este rapaz é um neto meu.

b. Vi sete amigos meus.
c. A que obra sua se refere?
d. Tens aí uns/alguns/vários/bastantes/poucos/diversos livros meus.
e. Deus meu!

Possessiva können nicht nur mit dem (bestimmten) Artikel wie in (19a) oder einem Demonstrativpronomen wie in (19b) auftreten, sondern auch mit Quantoren, vgl. (19c,d). Als mögliche Strukturtypen ergeben sich (unter Vernachlässigung der oben dargestellten Fälle, in denen das Possessivum dem Nomen nachgestellt wird bzw. der Artikel entfällt) die unter (19) aufgeführten:

(19) Art / Dem + (Quant) + Poss + N,

(Quant) + Art / Dem + Poss + N

a. São os nossos amigos franceses.
b. Esses teus defeitos enternecem-me.
c. os meus muitos/numerosos/vários livros
d. Todos os nossos amigos.

Zum Abschluss der Darstellung der Personalpronomina sollen nun noch die italienischen (vgl. (20)) und portugiesischen (vgl. (21)) Reflexivpronomina in ihren unbetonten (forme atone) bzw. klitischen (forme clitiche) und betonten (forme toniche) bzw. freien (forme libere) Formen aufgeführt werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

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Wie auch im Deutschen fallen die Formen der Reflexivpronomina der 1. und 2. Ps. mit denen der Objektpronomina zusammen, sodass sich lediglich die 3. Ps., identisch in Sg. und Pl., morphologisch von den Personalpronomina unterscheidet.

[...]


[1] Vom Bereich der non-verbalen Höflichkeit, beispielweise des Sich-Verbeugens, Türaufhaltens, Platzanbietens usw., soll im Folgenden gänzlich abstrahiert werden.

[2] Vorderwülbecke (1984: 301) unterscheidet im Rahmen dieses alltagssprachlichen Verständnisses von ‚Höflichkeit’ eine konventionelle und eine individuelle Bedeutung. Erstere zielt auf die Erfüllung gesell-schaftlicher Normen ab, letztere auf all das, was über diese Normen hinausgeht.

[3] ‚Höflichkeit’ ist nach Haferland/Paul (1996: 7) insofern ein „interpretativer Begriff“, als unterschiedliche Situationsteilnehmer bzw. Beobachter in der Beurteilung eines Falls von Höflichkeit unter Umständen stark voneinander abweichen können.

[4] Als mögliche Beispiele ließen sich das italienische pejorative Wortbildungssuffix -accio/-accia (vgl. 5.1) sowie einige Verwendungsweisen des Imperativs (vgl. 4.2.1) anführen.

[5] Für eine erste, intuitive Annäherung an den Begriff des face soll zunächst die auch im Deutschen geläufige Metapher des „Gesichtsverlustes“ bzw. der „Wahrung des Gesichts“ genügen.

[6] Eine Einordnung verfügbarer Höflichkeitsformen gemäß ihrer Höflichkeitsgrade auf einer solchen Skala kann meistens nicht in Form einer absoluten Einstufung erfolgen („unhöflich“, „höflich“, „sehr höflich“ etc.), sondern vielmehr in („schwächeren“) relativen Größen („ist höflicher / weniger höflich als“).

[7] So würde z.B. die Verwendung des Anredepronomens você in Portugal (im Gegensatz zu Brasilien) anstelle eines erwarteten o/a senhor/a (Dr./a etc. ) als unhöflich wahrgenommen, wohingegen eine situationsadäquate Anredeformwahl noch nicht unbedingt als höflich auffiele.

[8] Kröll (1993) führt beispielsweise bestimmte Ersatzformen für die Selbstbezeichnung mit der 1. Ps. Sg. im Portugiesischen (eu) auf. Ein solcher Ersatz durch bestimmte Wendungen kann bescheiden wirken, da die eigene Person (scheinbar) „herabgesetzt“ wird. Dies ist im Portugiesischen z.B. der Fall bei Verwendung des eigenen Namens (o Manuel Facão) anstelle des Personalpronomens der 1. Ps. Sg., bei (pro)nominalen Ersatzformen wie um homem, a gente, uma pessoa, bei Verwendung der 3. Ps. (a boa da Amélia cá está), insbesondere mit Ausdrücken wie este seu (vosso) amigo, o rapaz, a minha graça, o filho de meu pai..., o tolo de mim, o perro de mim, o cachorro de mim..., o indígena, cá o meco usw. Eine solche Strategie lässt sich in ähnlicher Weise auch für das Italienische und andere Sprachen beobachten.

[9] Indirekte Aufforderungen wie Da ist die Tür! machen die Intention des Sprechers sehr deutlich und sind alles andere als höflich (Haferland / Paul 1996: 23).

[10] Haverkate (1990: 39) hingegen begreift ‚Mitigation’ als eine spezifische Form der Höflichkeit.

[11] Die Mithörerhonorifikation kann beispielsweise in der Wortwahl (vgl. Kap. 5) – insb. bei Tabuthemen – eine Rolle spielen, wenn in der Gegenwart bestimmter Personen auf den Gebrauch bestimmter Wörter verzichtet wird bzw. diese durch andere ersetzt werden.

[12] Weiterhin geht Simon (2003: 81) jedoch davon aus, dass sich der indoeuropäische Adressatenrespekt ähnlich verhält wie der Unbeteiligtenrespekt in anderen Sprachen.

[13] Zit. nach Held (1995: 64).

[14] Auch Simon (2003: 73) verweist auf diese Regel, die sich bereits im Neuen Testament findet. – Freilich kann es im Falle abweichender Moralauffassungen auch andere Auffassungen von Höflichkeit geben.

[15] Simon (2003: 72) bemerkt treffend, dass der schöne Schein folglich wohl genügt und führt ein Zitat Wilhelm Buschs an (ibd.):

Da lob ich mir die Höflichkeit

Das zierliche Betrügen.

Ich weiß Bescheid, du weißt Bescheid

Und allen macht’s Vergnügen.

[16] Czachur (2004: 744) weist außerdem darauf hin, dass unter soziolinguistischen Gesichtspunkten die gebundene Anrede auf Dauer nicht weggelassen, die freie Anrede jedoch bei Unsicherheit vermieden werden kann.

[17] Hammermüller (1993b: 33 f.) verwendet hier das Bild des Anredenden, der seinem Gegenüber gewissermaßen nicht in die Augen zu sehen wagt. Dieses entspringt einer Art „linguistischer Metaphorik“, die „letztlich wohl nur historisch bzw. etymologisch zu motivieren“ und für eine systematisch-synchrone Betrachtungsweise „eher irreführend“ ist (ibd.).

[18] Niculescu (1966) untersucht beispielweise die exklusive Verwendung der 2. Person Singular tu in einem Gebiet, dessen Zentrum die Abruzzen bilden (niedere soziale Schichten).

[19] Unbetonte werden durch betonte Objektformen ersetzt, wenn „besonderer Nachdruck“ auf den Personalpronomina liegt, z.B. bei Hervorhebung und Gegenüberstellung (Ho visto te, non lei. / *Ti ho visto, non lei.), in Koordinationsstrukturen, in denen ein weiteres Objekt folgt (Ho parlato a lui e a sua moglie. / *Gli ho parlato e a sua moglie.) sowie nach allen Präpositionen (Parlavano di te / *ti.).

[20] Die beiden Möglichkeiten loro und gli beziehen sich nicht auf eine Unterscheidung zwischen Mask. und Fem., sondern sind Alternativen. Loro ist eigentlich die betonte Form des Objektpronomens der 3. Person Plural und wird immer häufiger durch (das umgangssprachlichere) gli ersetzt. Zu beachten ist die unterschiedliche Stellung der Pronomina, die sich aus dem Unterschied betont vs. unbetont erklärt: vgl. Farò sapere loro l’ora del mio arrivo. vs. Gli farò sapere l’ora del mio arrivo.

[21] Eine Ausnahme stellt die Präposition com dar, die zusammen mit den betonten Objektpronomina eigene, meist kontrahierte Formen bildet: comigo, contigo, com ele / com ela, connosco, (convosco) / com vocês, com eles / com elas.

[22] Das Subjektpronomen vós (2. Ps. Pl.) ist veraltet und wird nur noch regional begrenzt, in der Kirche und gelegentlich zu rhetorischen Zwecken verwendet. An dessen Stelle ist (das umgangssprachliche) vocês (+ Verb in der 3. Ps. Pl.) getreten.

Zu einer interessanten Parallele, nämlich dem Verlust von vosotros (Ersatz durch ustedes) im amerikanischen Spanisch und dessen (syntaktischen) Konsequenzen vgl. Company Company (1997).

[23] Beim Erstsprachenerwerb muss ein Kind herausfinden, ob die Sprache, der es ausgesetzt ist, eine Pro -drop-Sprache ist oder nicht, wofür offensichtlich bereits wenig Evidenz ausreicht.

[24] Einen Vergleich der portugiesischen und deutschen Possessiva bietet Sousa-Möckel (1997).

[25] Bei unklarer Referenz von suo wird dieses durch eine Präpositionalphrase di + betontes Objektpronomen ersetzt, wodurch die Referenz disambiguiert wird: vgl.

Carloi arriverà con sua mogliej e suoi/j padre. vs. Carlo arriverà con sua moglie e il padre di lei.

Annai è in montagna con il suo fidanzatoj e suai/j madre. vs. Anna è in montagna con il suo fidanzato e la madre di lui.

[26] Bei den Formen der 3. Ps. Sg. und Pl. (o seu, a sua, os seus, as suas) könnten darüber Unklarheiten entstehen, wer der „Besitzer“ ist. Wie später noch genauer zu erörtern sein wird (vgl. Abschnitt 3.1.3), dient die 3. Ps. im Portugiesischen (wie im Übrigen auch im Italienischen) der höflichen Anrede, so dass bei den genannten Formen der „Besitzer“ entweder der Angeredete oder ein Dritter sein kann. Für die Referenz auf Dritte wird daher normalerweise die Präposition de + betontes Objektpronomen gebraucht: dele, dela, deles, delas (zum Italienischen siehe auch Fußnote 25): vgl.

o seu livro („Ihr Buch, sein/ihrSg./ihrPl. Buch“) vs. o livro dele („sein Buch“)

Ende der Leseprobe aus 89 Seiten

Details

Titel
Höflichkeitsformen im Italienischen und Portugiesischen
Hochschule
Universität Passau  (Lehrstuhl für Allgemeine Linguistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
89
Katalognummer
V81942
ISBN (eBook)
9783638840743
ISBN (Buch)
9783638845854
Dateigröße
863 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Höflichkeitsformen, Italienischen, Portugiesischen
Arbeit zitieren
Thomas Strobel (Autor:in), 2005, Höflichkeitsformen im Italienischen und Portugiesischen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81942

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