Wie erklaert es sich, dass das Bundesverfassungsgericht bei den umstrittenen Vertrauensfragen 1982 und 2005 in seinen Urteilen ganz den Erwartungen des Bundeskanzlers, des Bundestages und des Bundespraesidenten folgte, obwohl der Fall der unechten fingierten Vertraunsfrage im Rahmen des Artikels 68 GG in der weit ueberwiegenden Verfassungslehre als verfassungswidrig abgelehnt wird? Schliesslich ging es dem Bundeskanzler und den ihm in dieser Angelegenheit verbuendeten politischen Kraeften offensichtlich nur darum, durch eine inszenierte Abstimmungsniederlage im Bundestag im Rahmen der Vertrauensfrage, einen Vorwand zu schaffen, um so den Bundestag vom Bundespraesidenten ausfloesen zu lassen und um so Neuwahlen herbeifuehren zu koennen. Um diesen bemerkenswerten Sachverhallt gerade vor dem Hintergrund einer aeusserst machtvollen Verfassungsgerichtsbarkeit, die fuer das politische System der Bundesrepublik kennzeichnend ist, aufzuklaeren, legt die Arbeit den Schwerpunkt auf zwei Faktoren, die die aussergewoehnliche richterliche Zurueckhaltung (judicial restraint) in diesem Fall erklaeren; naemlich einerseits der hohe verfassungsrechtliche Rang der Vertrauensfrage als Klagegegenstand. Dieser kennzeichnet sich dadurch, dass der Vertraunsfrage die direkte Willensbekundung dreier oberster Verfassungsorgane zugrunde liegt, ueber die sich das Bundesverfassungsgericht nicht einfach hinwegsetzen kann, wenn es nicht eine Staatskrise provozieren will. Um wieviel mehr Spielraum verfuegt das Gericht etwa, wenn es sich beim jeweiligen Klagegegenstand nur um einen Verwaltungsakt oder ein letztinstanzliches Gerichtsurteil handelt. Daneber gilt es als zweiten besonderen Faktor die Tatsache zu bedenken, dass die drei an der Vertrauensfrage direkt beteiligten Verfassungsorgane nicht untereiander zerstritten waren, sondern vielmehr 1982 wie auch 2005 einen einheitlichen festen Willen bei der Beurteilung des Artikels 68 kundtaten, was in Verfassungsstreitfragen die Ausnahme ist, wenn man etwa an die Kopftuchdebatte denkt, was aber zusaetzlich den Spielraum des Gerichtes erheblich einschraenkte. Ist man sich dieser Faktoren, zuzueglich der Prezedenzwirkung des Urteiles von 1983, bewusst, so kann man die billigenden Entscheidungen des BVerfG einerseits als pragmatisch betrachten; sie verdeutlichen aber auch angesicht der beschriebenen Faktoren die faktischen und realpolitischen Grenzen jeder Art der Verfassungsgerichtsbarkeit.
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- A. Hinführung zum Thema
- B. Fragestellung und Vorgehensweise
- II. Hauptteil
- A. Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in einem politischen System – zwischen Richterlichem Aktivismus (judicial activism) und Richterlicher Zurückhaltung (judicial restraint)
- B. Die Mitwirkung des Bundeskanzlers, des Bundestages und des Bundespräsidenten innerhalb der Systematik des Artikels 68 GG
- 1) Die Rolle des Bundeskanzlers innerhalb des Artikels 68 GG
- 2) Die Rolle des Parlamentes innerhalb des Artikels 68 GG
- 3) Die Rolle des Bundespräsidenten innerhalb des Artikels 68 GG
- C. Das Problem der fingierten unechten Vertrauensfrage
- 1) Die verfassungsrechtliche Problematik
- 2) Die Ansicht der Rechtswissenschaft zur Problematik fingierter unechter Vertrauensfragen
- a) Grammatische Auslegung
- b) Systematische Auslegung
- c) Historische Auslegung
- d) Teleologische Auslegung
- 1) Die Ansichten zur Vertrauensfrage am 17.12.1982
- a) Der Bundeskanzler
- b) Der Bundestag
- c) Der Bundespräsident
- 2) Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 16. Februar 1983
- a) Die Urteilsbegründung
- b) Kritik an der Urteilsbegründung
- 3) Die Ansichten zur Vertrauensfrage am 1.7.2005
- a) Der Bundeskanzler
- b) Der Bundestag
- c) Der Bundespräsident
- 4) Das Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 25.8.2005
- a) Die Urteilsbegründung
- b) Kritik an der Urteilsbegründung
- III. Fazit
- A. Der hohe verfassungsrechtliche Rang der Vertrauensfrage als Klagegegenstand
- B. Die einhellige Ansicht aller drei Verfassungsorgane zum Verfassungsstreit der unechten fingierten Vertrauensfrage
- C. Die Präzedenzwirkung des Urteils aus dem Jahre 1983
- Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld zwischen judicial activism und judicial restraint
- Die Bedeutung der Vertrauensfrage im deutschen politischen System
- Die verfassungsrechtlichen und praktischen Implikationen der fingierten unechten Vertrauensfrage
- Die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes zu den Fällen Kohl (1983) und Schröder (2005)
- Die Präzedenzwirkung des Urteils von 1983
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit analysiert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zum Artikel 68 des Grundgesetzes, insbesondere im Hinblick auf die Anwendung der Vertrauensfrage zur Herbeiführung von Neuwahlen. Die Arbeit untersucht, warum das Bundesverfassungsgericht die beiden Fälle der Kanzler Kohl und Schröder, die eine fingierte unechte Vertrauensfrage einsetzten, für rechtmäßig erklärte, obwohl diese Praxis in der Staatsrechtswissenschaft und Teilen der Öffentlichkeit umstritten war.
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik ein und erläutert die Fragestellung der Arbeit. Sie stellt die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zum Artikel 68 GG im Kontext der Debatte um judicial activism und judicial restraint dar.
Der Hauptteil der Arbeit untersucht zunächst die allgemeine Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in einem politischen System und die Unterscheidung zwischen judicial activism und judicial restraint. Anschließend analysiert die Arbeit die Mitwirkung des Bundeskanzlers, des Bundestages und des Bundespräsidenten innerhalb des Artikels 68 GG. Ein Schwerpunkt liegt auf der Analyse der Problematik der fingierten unechten Vertrauensfrage, wobei sowohl die verfassungsrechtlichen Aspekte als auch die Ansichten der Rechtswissenschaft beleuchtet werden.
Die Arbeit widmet sich dann den beiden konkreten Fällen von Kohl und Schröder, analysiert die Ansichten der drei Verfassungsorgane zu den jeweiligen Situationen und untersucht die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes. Abschließend werden die Urteile kritisch betrachtet und die Kritik an den Urteilsbegründungen beleuchtet.
Schlüsselwörter
Vertrauensfrage, Artikel 68 GG, Bundesverfassungsgericht, judicial activism, judicial restraint, fingierte unechte Vertrauensfrage, Bundeskanzler, Bundestag, Bundespräsident, Staatsrecht, Verfassungsrecht, Rechtsprechung, Präzedenzwirkung.
- Arbeit zitieren
- Sebastian Dregger (Autor:in), 2007, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu Art. 68 GG. Ein Beispiel für richterliche Zurückhaltung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82580