Wer für die Literaturwissenschaft erstellen möchte, was es für andere Wissenszweige längst gibt, ein internationales Lexikon der Sachbegriffe, sieht sich vor besondere Schwierigkeiten gestellt. In ihrer Beschreibung werden grundlegende Unterschiede zwischen literaturwissenschaftlichen und anderen (z. B. natur oder sozialwissenschaftlichen) Fachbegriffen deutlich. In einer Zeit wachsender internationaler Zusammenarbeit, in der sich der vergleichende Gesichtspunkt immer starker durchsetzt, lohnt es sich, einmal einige der Hauptprobleme zu skizzieren, die einer “international” zu verwendenden Fachsprache in unserem Arbeitsfeld entgegenstehen.
Der Geltungsbereich unserer literarischen Sachbegriffe
I. Wer für die Literaturwissenschaft erstellen möchte, was es für andere Wissenszweige längst gibt, ein internationales Lexikon der Sachbegriffe, sieht sich vor besondere Schwierigkeiten gestellt. In ihrer Beschreibung werden grundlegende Unterschiede zwischen literaturwissenschaftlichen und anderen (z. B. natur- oder sozialwissenschaftlichen) Fachbegriffen deutlich. In einer Zeit wachsender internationaler Zusammenarbeit, in der sich der vergleichende Gesichtspunkt immer starker durchsetzt, lohnt es sich, einmal einige der Hauptprobleme zu skizzieren, die einer “international” zu verwendenden Fachsprache in unserem Arbeitsfeld entgegenstehen. [1]
Unterschiede zwischen literarischen und anderen Fachsprachen
I.1 Internationale Speziallexika der Natur- oder Sozialwissenschaften [2] unterscheiden sich von einem Literaturwörterbuch zumeist darin, dass die in ihnen terminologisch erfassten Wissenszweige zur Zeit ihrer Ausbildung von einer Nation und deren Sprache entwickelt und geprägt wurden. Am deutlichsten ist das bei neueren Gebieten wie der Computer Science zu beobachten. In den einschlägigen Wörterbüchern werden fast nur Übersetzungen von eindeutig definierten englischen Fachwörtern (bit, circuit, software etc.) in die jeweilige Gebrauchssprache zusammengestellt. In manchen Gebieten dominieren auch zwei oder drei Sprachen, z. B. in der Medizin nach dem Lateinischen das Deutsche im 19. und frühen 20. Jahrhundert und das Englische seit dem 2. Weltkrieg; in der Anthropologie das Französische, Deutsche und EngIische, in der Psychologie zuerst das Deutsche und später das Englische. In einem Literaturlexikon begegnen sich dagegen von Anfang an gleichberechtigte Literaturen in ihren Fachbegriffen; je weiter sein Rahmen gespannt ist, desto mehr. Das gilt zumindest, wo sich die dominierenden Literaturen (die arabisch-persische, chinesische, indische und japanische mit den europäischen) durch Übersetzungen gegenseitig beeinflussen, im Sinne von Goethes Begriff der “Weltliteratur”. Allerdings haben diese dann wieder ihre “Satellitenliteraturen”, die von ihnen völlig beherrscht werden, besonders die chinesische.
I.2. Anthropologische, psychologische oder medizinische Einsichten, ja selbst philosophische Erkenntnisse, sind universal und deshalb Ieichter übersetzbar als literarische Phänomene in ihrer engen Bindung an sprachliche und kulturelle Traditionen. Die Begriffe der Psychoanalyse z. B. bedeuten in jeder Sprache dasselbe, Wer, außer den Japanologen, kann dagegen die Assoziationen nachvollziehen. die sich z.B. dem Japaner beim Gebrauch der Begriffe sabi, wabi oder yugen einstellen? Wir brauchen jedoch für das Verständnis dieses Sachverhalts unseren Kulturkreis nicht zu verlassen: Welcher Angehörige eines romanischen oder lateinamerikanischen Volkes kann ohne weiteres nachvollziehen, was Deutschen ein Weihnachtslied (oder gar ein Adventslied bedeuten kann? - Mit Begriffserklärungen, selbst wenn sie mit guten Beispielen versehen sind, wird ein volles Verständnis also oft nicht erreicht, wenn sich beim Leser nicht die entsprechenden Assoziationen einstellen.
I.3. Für die Vertreter anderer Wissenschaften in verschiedenen Nationen ist im Prinzip jeweils die gleiche Anzahl von Begriffen wissenswert. Begriffe wie “Verdrängung” in der Psychologie, “Photosynthese” in der Biologie oder “bit” in der Computer Science haben weltweit die gleiche Bedeutung und Wichtigkeit. Wie steht es aber in unserer Disziplin mit Begriffen wie innere Form, soshi (jap.) oder dipaka (ind.)? Schon aus wenigen Beispielen wird offensichtlich, wie viel stärker unsere Wissenschaft an die jeweiligen Literaturen (und damit Kulturen) gebunden ist, aus denen sie ihre Erfahrungen entnimmt und für die sie ihre Fachausdrücke münzt. Man kann deshalb vereinfachend sagen: es gibt nur eine Biologie, Medizin. Physik etc. mit jeweils nur einer internationalen Fachterminologie, - während es viele Literaturwissenschaften mit jeweils verschiedenem Sachwortschatz gibt.
Allgemeine Schwierigkeiten im Vergleich literarischer Sachbegriffe
II.1. Das deutet sich bereits in der Tatsache an, dass es keine wirklich internationalen Sachwörterbücher der Literaturwissenschaft gibt, sobald man über den europäischen Kulturraum (Nordamerika immer inbegriffen) hinausschaut. Es gibt auch kaum befriedigende Sachwörterbücher für einzelne außereuropäische Literaturen in europäischen Sprachen. [3] Die Definitionen von Sachbegriffen in den von westlichen Spezialisten geschriebenen Handbüchern [4] sind jedoch in der Regel klarer und für uns hilfreicher als übersetzte Erläuterungen einheimischer Wissenschaftler. Da die westlichen Werke aber nicht vollständig sind, kann sich der Komparatist einen systematischen Überblick über außereuropäische Literatursprachen nur auf mühsamen Umwegen verschaffen. Die japanische Situation ist mir selbst vertraut. Aufgrund einer Befragung von Spezialisten für asiatische und orientalische Literaturen [5] bin ich zu dem Eindruck gekommen, dass die Lage in anderen Literaturen nicht besser ist.
II.2. Je nach dem Stand ihrer Ausbildung und Tradition unterscheiden die Literaturwissenschaften der verschiedenen Nationen eine höchst unterschiedliche Anzahl von Sachbegriffen. Wir Deutschen scheinen mit Wilpert 1979 [6], das jetzt ungefähr 4500 Sachbegriffe (die ausländischen mitgezählt) erläutert, an der Spitze zu stehen. Meyers Handbuch über Literatur enthält über 3000 Stichworte. Shipley's Dictionary of World Literary Terms definiert immerhin ca. 3000 Begriffe. Ramón Esquerra in seinem Vocabulario literario (mit ca. 3400 Begriffen) und Federico Sainz de Robles im Ensayo de un diccionario de la literatura (ca. 3000 Begriffe) liegen in derselben Klasse. Alle anderen vergleichbaren europäischen und besonders außereuropäischen Werke bringen wesentlich weniger.
Die Anzahl literarischer Sachbegriffe und ihre Erfassung in Handbüchern sind aber natürlich zu unterscheiden. Deshalb unterzog ich wenigstens eine außereuropäische Literatur, die japanische, folgender Kontrolluntersuchung: Aus Kodanshas Encyclopedia of Japan, dem von Hammitzsch gerade neu herausgebrachten Japan Handbuch., dem von Bruno Lewin edierten Kleinen Wörterbuch der Japanologie[7], René Siefferts La littérature japonaise[8], dem unter Jaroslav Pruseks Leitung von vielen Spezialisten redigierten Dictionary of Oriental Literatures[9], Hisamatsus Vocabulary of Japanese Literary Aesthetics sowie den japanischen Literaturgeschichten von Gundert und Florenz [10] schrieb ich sämtliche Sachbegriffe heraus. Der Überschneidungsfaktor war so groß, dass ich hoffen darf, eine ziemlich vollständige Liste erstellt zu haben [11]. Sie enthält rund 970 Begriffe verschiedenster Art, von denen 70 als Synonyme entfallen. Es bleiben also 900 Konzepte. Unser Nomenclator (Ruttkowski, 1980) kam auf ähnliche Weise zustande. Die exzerpierten Handbücher sind dort in der Bibliographie angeführt. Nach Ausscheidung der außereuropäischen kam ich auf eine Gesamtzahl von ungefähr 2400 Konzepten, die dort in jeweils mindestens sieben Sprachen und mit ihren Synonymen aufgeführt sind, also zweieinhalb mal (!) so vielen wie in der japanischen Literatur. (Selbst wenn man einem größeren Bekanntheitsfaktor für die europäischen Begriffe Rechnung trägt, sind es sicher noch immer mehr als doppelt so viele als die japanischen. Selbstverständlich kann man das Niveau einer Literaturwissenschaft nicht aus der Anzahl ihrer Fachbegriffe ableiten.) Den vielen griechischen und lateinischen Termini im europäischen Begriffsschatz sind im Japanischen die chinesischen zu vergleichen, wie überhaupt die chinesische Kultur auf Japan einen ähnlich prägenden Einfluss gehabt hat, wie die antike auf Europa.
Es fällt nun sofort auf, wenn man die Sachbegriffe nach ihren Anwendungsgebieten einteilen will, dass ein sehr hoher Prozentteil von ihnen für mehrere in Frage kommt. Mehr als 300 der europäischen Termini (also über 12 %) sind doppel- oder mehrsinnig, d. h. sie können jeweils zwei oder mehr der gebräuchlichen Sachgebiete (Metrik, Stilistik, Rhetorik, Struktur,Technik, Gattung-Textsorten, Perioden-Bewegungen-„Ismen“) zugerechnet werden.[12] Fast jede Kombination ist möglich, z.B. Ballade als Gattung und metrisch festgelegte Form, Kommentar sowie Kitsch als Stilform und Gattung, Realismus als Stil- und Periodenbegriff etc. Da solche Begriffsgruppen, in denen sich zwei oder mehr Sachgebiete überschneiden, doppelt gezählt werden müssen, wenn wir den Anteil der Sachgebiete innerhalb der literarischen Fachsprache feststellen wollen, erhalten wir am Schluss mehr als 100% bzw. mehr als die Gesamtzahl von 2400 Konzepten. lm Japanischen ist die Situation ganz ähnlich. Dort gibt es besonders viele Überschneidungen von inhaltlichen und stilistischen Kategorien. Wenn man nun diesen verunklärenden Faktor der mehrsinnigen Begriffe neben den der häufigen Synonyme hält, die von der Gesamtzahl der Konzepte abgezogen werden müssen, und außerdem noch bedenkt, dass sich bei vielen Begriffen überhaupt streiten lässt, ob sie zu den „literarischen“ zählen, so wird sofort offensichtlich, dass zahlenmäßige Angaben über literarische Sachbegriffe nur ungenau ausfallen können.
Zu den oben genannten (in Ruttkowski 1969 noch eingehaltenen) Sachgruppen füge ich, vom Begriffsmaterial selbst genötigt, noch einige hinzu. Man hätte auch anders untergliedern können. Es kommt nur darauf an, eine möglichst deutliche Anschauung von der Beschaffenheit des Wortschatzes zu geben.
Die weitaus zahlreichste Gruppe wird in beiden Sprachen von den Gattungs - oder besser: Textsorten bezeichnungen im weitesten Sinne ausgemacht (mit rund 890 europ. Begriffskomplexen, 37%, und sogar 490 japanischen, also rund 54%). Dazu habe ich auch Bezeichnungen gerechnet, die nicht zur Dichtung gehören, wie z. B. Festschrift, sowie Kollektivbezeichnungen wie Romanzyklus und Sonettenkranz.
Die zweitstärkste europäische Gruppe (mit rund 460 Begriffskomplexen oder 19%) ist in ihren Umrissen die verschwommenste. Zu ihr gehören alle Ausdrücke, die sich auf Stil und Struktur von Literatur beziehen, eingeschlossen die antiken Kategorien der Rhetorik. Diese Gruppe ist im Japanischen (mit 57 Begriffen oder 6%) weitaus schwächer vertreten.
Von dieser habe ich eine kleinere Gruppe von Begriffen abgetrennt, die sich ebenfalls auf „Technisches“ beziehen, jedoch weder auf Stil noch Struktur des Ganzen, z.B. Abkürzung, Rubrik oder Nachtrag (im Nomenclator mit ca. 160 Begriffen oder 7% in der japanischen Liste mit 57 Begriffen oder 6% vertreten).
Die drittgrößte europäische Gruppe (von ca. 385 Begriffen, 16%) umfasst, was wir zur Metrik, Verskunst bzw. Prosodie zählen. In dieser gibt es besonders viele Überschneidungen mit der der Gattungen in Namen, die zugleich einen Literaturtyp und dessen metrische Form bezeichnen, den so genannten Festen Formen (z. B. Sonett). Diese Gruppe ist im Japanischen nur schwach entwickelt (mit rund 20 Begriffen oder 2%), weil sich die wenigen japanischen metrischen Formen schon ganz früh ausgebildet und danach nicht mehr entwickelt haben. Außerdem gibt es in der japanischen Dichtung keine "Reimkunst" in unserem Sinne. Zusammengenommen erhalten die formalen Elemente der Literatur im Westen also wesentlich stärkere Beachtung, als in Japan, wenn man die Anzahl der Einteilungskategorien als ein lndiz dafür ansehen darf. [13] Dort überwiegen allerdings die Gattungsnamen in erstaunlichem Masse. Diese werden jedoch zumeist durch Inhaltliches festgelegt und nur selten durch Formales. (Ausnahmen: Haiku, Renga etc.)
In der viertgrößten europäischen Gruppe (von rund 250 Konzepten oder 10.4%) habe ich Begriffe zusammengefasst, die sich auf Inhalt, Gehalt oder Stimmung von Literatur beziehen [14], z. B. kafkaesk oder Weltschmerz. Diese Begriffe werden in westlichen Handbüchern charakteristischerweise weitgehend übersehen, weshalb ich besonderen Wert auf ihre Erfassung im Nomenclator gelegt habe. Im Japanischen dagegen wurden sie immer wichtig genommen; einige der berühmtesten japanischen Literaturkonzepte gehören in diese Gruppe, vor allem die vom Geist des Zen und der Teezeremonie inspirierten (84; 9.3 %)
Die verbleibenden europäischen Gruppen sind wesentlich kleiner. Ich habe rund 150 Begriffe (6%) gefunden, die Literaturperioden, -bewegungen, -moden und - ismen bezeichnen. Diese Gruppe ist im Japanischen mit 67 Begriffen (7.4%) vertreten.
Dem Theater und der Dramaturgie sowie den tänzerisch-pantomimischen Misch- und Vorformen der Literatur, nicht aber den dramatischen literarischen Gattungen, sind in Europa ca. 110 weitere Begriffe (5%) zuzurechnen, z. B. Simultanbühne oder Pawlatschentheater, im Japanischen 79 Begriffe (8.7%) wobei es hier durchaus möglich ist, dass mir einige Begriffe, die ich nicht kenne, entgangen sind.
Nur rund 35 Begriffe (weniger als 2%) werden in den europäischen Literaturen von jeher zugleich als linguistische oder grammatische und literarische gebraucht und mussten deshalb aufgenommen werden, z. B. Umgangssprache. Ansonsten habe ich es aber vermieden, den Nomenclator mit linguistischem Vokabular aufzuschwemmen, da dieses in eigenen Sachwörterbüchern zugänglich ist. Hinsichtlich der vielen neuen, von der modernen Linguistik beeinflussten Literaturbegriffe haben wir uns entschieden, nur die aufzunehmen, deren Gebrauch sich schon mehr oder weniger durchgesetzt hat. Für derartige Begriffe habe ich im Japanischen keine Entsprechungen gefunden, was aber nicht bedeutet, dass es sie gar nicht gibt. Wahrscheinlich werden sie aber nur als Fremdworte (mit Übersetzungen oder Erläuterungen) benutzt, wenn überhaupt.
Etwa 30 weitere Begriffe bezeichnen Spezialrichtungen und Disziplinen in der westlichen Literaturwissenschaft (z. B. New Criticism oder Schallanalyse), im Japanischen etwa die gleiche Zahl.
In einer letzten umfangreicheren Gruppe von 385 Begriffen (16%) musste ich alle Konzepte zusammenfassen, die sich in den obigen nicht unterbringen lassen, z. B. solche über Autorschaft (Pseudonym, Toponym), Verlagswesen und Textbeschaffenheit (Taschenbuch, Sammelhandschriften). Im Japanischen blieben ca. 60 derartige Begriffe übrig (weniger als 7%).
Das Ergebnis dieses Vergleichs hat selbstverständlich nur einen vorläufig hinweisenden Charakter und beansprucht keinerlei wissenschaftliche Exaktheit. Es deutet aber m.E. doch darauf hin, dass eine “Zuordnung” von literarischen Begriffen, wie sie im Nomenclator für die westlichen Begriffe versucht wurde, über den “abendländischen “ Kulturkreis hinaus schon deshalb nicht in Frage kommt, weil die außereuropäischen Fachsprachen an Umfang und Beschaffenheit ganz andersartig sind.
[...]
[1] Dem Verfasser kommen dabei Erfahrungen als Herausgeber zweier grundsätzlich verschieden konzipierter, mehrsprachiger Literaturwörterbücher zugute: In Ruttkowski 1969 (Literaturwörterbuch. Glossary of Literary Terms. München-Bern: Francke 1969, 68 Sn./pp., B5 (mit/with R.E. Blake) wurde erstmalig versucht, fast 900 literarische Sachbegriffe in die Sprachen (dt., engl., fr.) sowohl nach sachlichen Komplexen wie auch alphabetisch geordnet anzubieten, und zwar in den fünf Gruppen: Metrik; Stilistik/Rhetorik; Struktur/Technik; Gattung/Art/Typ und Perioden/Bewegungen, sowie innerhalb dieser nach Synonymen. Halbsynonymen, Antonymen und Unterbegriffen, jeweils mit Zahlenverweisen auf verwandte Begriffe. Dieses Unternehmen ist deshalb von Claus Friedrich Köpp (Literaturwissenschaft, Literaturwissenschaftstheorie. Forschungssystematik und Fachsprache Berlin DDR, 1980, 371) als „erster Thesaurus der Literaturwissenschaft” bezeichnet worden.
In einer auf über 3000 Sachbegriffe in jeweils sieben Sprachen (dt., engl., frz,, ital., span., niederl., russ.) erweiterten Neufassung, dem Nomenclator Litterarius (München-Bern: Francke 1980, 548 Sn./pp., ed. W. Ruttkowski. mit/with W. Langebartel, G. MacDonald, C. De Vos, P. De Jaegher, A. Yamamoto).) musste die sachliche Anordnung der Begriffe zugunsten größerer Vollständigkeit und eines erweiterten Sprachhorizontes aufgegeben werden. Dafür konnten nun die am häufigsten anzutreffenden Sachbegriffe außereuropäischer Literaturen aufgenommen werden, besonders arabische, persische, indische, chinesische und japanische.
M. W. der einzige, der sich mit einer ähnlichen Problematik, von ähnlichen Erfahrungen ausgehend, beschäftigt hat, ist Janusz Slawiñski („Probleme der literaturwissenschaftlichen Terminologie“ In: J.S.: Literatur als System und Prozess. Übers. R. Fieguth, München 1975, 65-81). Slawiñskis Augenmerk ist jedoch fast ausschließlich auf die Beschaffenheit einer Iiterarischen Terminologie innerhalb eines Sprachbereichs gerichtet, während es mir hier nur um die Beziehungen von sich (teilweise) entsprechenden Begriffen über Sprach‑ und Kulturgrenzen hinweg geht. Obwohl der Nomenclator nur aus praktischen Gesichtspunkten zustande gekommen ist und keinerlei wissenschaftliche Ansprüche stellt, möge doch ein Zitat Slawiñskis (S. 66) andeuten, in welcher Erfahrung wir übereinstimmen: “Wer sich mit dergleichen einmal befasst hat, weiß sehr gut, dass eine solche Arbeit in hohem Maße darauf beruht, über endlose theoretische Zweifel hinwegzugehen und Entscheidungen zu treffen, die solche Zweifel im Namen der praktischen Bedürfnisse ganz einfach abschneiden. Dennoch vergegenwärtigt gerade die Arbeit an einem Wörterbuch in viel höherem Maße als alle ‚rein’ metawissenschaftlichen Fragestellungen die Licht- und Schattenseiten der Sprache einer Disziplin, enttarnt ihr Funktionieren als Erkenntnisinstrument und Verständigungsmittel der Forscher.“
Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, dass unser Buch im Sinne Slawiñskis (S. 67) noch keine „Nomenclatur“ bietet oder bieten kann, sondern allenfalls eine Zusammenstellung von Rohmaterial, aus der vielleicht eines Tages ein besser geordnetes Begriffsinstrumentarium entwickelt werden kann. Ich wollte das durch den Namen „Nomenclator” (statt Nomenclatur) andeuten: Wir befanden uns sozusagen erst in der Lage des „Wortsammlers“, des Zusammenstellers von Rohmaterial. Für dessen klare Definition und Abgrenzung, wenn diese überhaupt möglich wäre, ist in einer solch umfangreichen Zusammenstellung kein Raum.
[2] Beispiele: Günther Haensch, Hg. Dictionary of International Relations and Politics; Systematic and Alphabetical in Four Languages, German English/American French and Spanish. Amsterdam 1965. - ; International Dictionary of Applied Mathematics. Princeton, N.J. 1960. -S.K. Runcorn, ed. International Dictionary of Geophysics. 2 Vols. Oxford 1967. - Cohn Brown, ed. New International Dictionary of New Testament Theology. Grand Rapids 1975-78. - Hans Breuer: Dictionary for Computer Languages. London 1966. - Donald D. Spencer: Computer Programmer's Dictionary and Handbook. Waltham/Mass. 1968. - Union Académique Internationale: Dictionnaire de la terminologie du droit international; Tables en Anglais, Italien, Espanol, Allemand. Paris 1960.
[3] So findet man z. B. in Hisamatsu Sen'ichis Vocabulary of Japanese Literary Aesthetics (Tokyo: Centre for East Asian Cultural Studies 1963) im „Glossary of Literary Terms“ (Appendix C, S. 103-12) nur 87 Begriffe, von denen 21 Gattungsbezeichnungen sind, während der Rest sich auf Ton- und Stilqualitäten inhaltlicher Art und Stimmungen bezieht.
[4] Das von Horst Hammitzsch neu herausgegebene Japan Handbuch (Wiesbaden 1981, Stuttgart 2.A.,1984) enthält ungefähr 430 Sachbegriffe in einem Hauptartikel über Literatur und 36 Folgeartikeln. - Kodanshas Encyclopedia of Japan (ed. Gen Itasaka, Tokyo 1983) enthält im 5. Band in rund 70 Artikeln höchstens 300 Sachbegriffe. - Das von Bruno Lewin herausgegebene Kleine Wörterbuch der Japanologie (Wiesbaden 1968) enthält immerhin etwas über 400 Sachbegriffe. Keines dieser Werke hat ein separates Register der literarischen Sachbegriffe.
[5] Die Sekundärliteratur für die Sachbegriffe der weniger umfangreichen Literaturen ist erwartungsgemäß besonders dürftig. Das wurde durch das Ergebnis einer schriftlichen Umfrage bestätigt, in der ich Experten für verschiedene orientalische Literaturen um eine Schätzung der ungefähren Gesamtzahl an Sachbegriffen und um bibliographische Angaben hinsichtlich der ergiebigsten Nachschlagewerke bat. - So schätzt etwa Anna J. Allot (University of London) die Gesamtzahl der burmesischen Literatursachbegriffe auf 100 bis 200, von denen weniger als die Hälfte (50-100) in einem soeben erscheinenden Dictionary of Burmese Literature bisher erklärt wurden. - Ein ungenannt bleiben wollender Experte für die Literatur Kambodias schätzt deren Sachbegriffe auf insgesamt 30. - Professor Charles Bawden (University of London) schreibt, dass er kein Sachwörterbuch für die mongolische Literatur kenne. - Professor Peter H. Lee (University of Hawaii) schätzt die Gesamtzahl der koreanischen Sachbegriffe auf 100 +, von denen etwa 50% in einem koreanischen Lexikon erklärt werden. - Professor Ch.B. Reynolds (University of London) schätzt die Gesamtzahl der sinhalesischen Literaturbegriffe auf 50, von denen die meisten in einem Handbuch erläutert wurden.
Dagegen schreibt Professor J. Crump (University of Michigan) für die chinesischen Sachbegriffe „A thousand is a wild guess!“ Allerdings sind auch diese bisher nirgends vollständig erfasst. – In diesem Zusammenhang sollte man sich allerdings klar machen, dass allein das traditionelle chinesische Musiktheater ca. 400 verschiedene lokale Formen entwickelt hat, von denen uns Bernd Eberstein in die wichtigsten einführt (Das chinesische Theater im 20. Jahrhundert. Schriften des Instituts für Asienkunde in Hamburg, Bd. 45, Wiesbaden 1983)
Professor Stuart McGregor (University of Cambridge) meint sogar hinsichtlich der indischen Sachbegriffe: „It is clear that several thousand terms, at least, deserve consideration.“ – Dazu muss man allerdings einige Bemerkungen von Professor Michio Yano (Kyoto Sangyo University) sehen: „Since Sanskrit is a kind of artificial language, literary technical terms are almost infinite. You can create a new term if you want. Even in the limited field of metrics, there are at least 150 kinds of meters differentiated by the numbers of syllables. If you count the variety according to the combination of heavy and light syllables, you might be able to understand how vast it is.“
[6] Literaturhinweise, die nicht in den Anmerkungen erscheinen, findet man in der Bibliographie am Ende des Bandes, in dem dieser Artikel zuerst erschien.
[7] Siehe Anm. 4.
[8] Langues et Civilisations. Paris 1973.
[9] London 1974, Vol. I: East Asia, Vol. II: South and South-East Asia, Vol. III: West Asia and North Africa.
[10] Wilhelm Gundert: Die Japanische Literatur. Handbuch der Literaturwissenschaft, Hg. O. Walzel, Potsdam 1929; Karl Florenz: Geschichte der Japanischen Literatur. Leipzig 2.A., 1909, Unv. Nachdruck: Stuttgart 1969.
[11] Da es bisher keine umfassende Darstellung gibt, auf die ich einfach verweisen könnte, stellte ich im Anhand dieses Beitrags eine nach Sachgebieten geordnete Liste von annähernd 1000 Begriffen zusammen, die hier aus Raumgründen wegfallen muss. Für ihre kritische Durchsicht meiner Liste danke ich herzlich meinen japanischen Kollegen, Prof. Teruo Wakabayashi (Emeritus, Kyoto Universität) und Prof. Seichi Kanai (Kyoto Sangyo Universität). Wegen der vielen Homonyme im Japanischen ist es häufig schwierig, die richtige Schreibung und Einordnung bereits transkribierter Begriffe zu beurteilen, die im Satzzusammenhang oder in Kanji-Schreibung klar wären.
Ich gehe davon aus, dass für einen internationalen Vergleich hauptsächlich die japanischen Literaturkonzepte interessant sind, die ausländischen Betrachtern (hauptsächlich Japanologen) irgendwann einmal aufgefallen sind bzw. für wichtig genug gehalten wurden, in einem Handbuch erwähnt zu werden. Falls es andere gibt, sind diese entweder von so begrenzter Bedeutung oder so unklar profiliert, dass sie für einen Vergleich mit den im Nomenclator erfassten Begriffen ohnehin nicht in Frage kommen. Nur so lässt sich rechtfertigen, dass ich (als Nicht-Japanologe) mich auf die Auswertung von nichtjapanischen Nachschlagewerken beschränke, obwohl japanischer Gelehrtenfleiß mehr Lexika erarbeitet hat, als alle anderen asiatischen Völker.
Das umfangreichste japanische Literaturlexikon ist m.W. das achtbändige Nihon bungaku dai-jiten (Hg. T. Fujimura, Tokyo 1949 ff.). In seinem Vorwort wird nicht erwähnt, wie viele Sachbegriffe es (neben den biographischen und werkbeschreibenden Artikeln) enthält. Aber es hat immerhin einen 178-seitigen Index, von dem ausgehend ich mit jap. Kollegen auf Erläuterungen bzw. Erwähnungen von rund 1000 Sachbegriffen schätze. Diese Zahl entspricht ungefähr der von mir aus dt., engl. und franz. Werken exzerpierten Gesamtzahl an Begriffserläuterungen, wenn man die Synonyme mitzählt. Das eben erwähnte Werk ist später in zwei Lexika gespalten und überarbeitet worden, das sechsbändige Nihon kindai-bungaku dai-jiten (Hg. Odagiri Susumu, Tokyo 1977), welches sich auf die moderne Zeit spezialisiert, und das Nihon kotenbungaku dai-jiten (ebenfalls 6 Bde., Hg. Ichiko Teiji u.a. Tokyo 1983), welches hauptsächlich das Altertum und die klassische Zeit behandelt. lm Vorwort zum Index des zunächst genannten Werks (1977) findet sich sogar eine Angabe über die Anzahl der behandelten Sachbegriffe (660). In dem zuletzt genannten sucht man vergeblich nach einem Hinweis. Jedoch überschneiden sich die Sachbegriffe der beiden (zusammen 12 stattliche Bände ausmachenden) Werke.
Genauere Ermittlungen sind sinnlos, weil man ohnehin bei vielen Begriffen darüber streiten kann, ob sie als „literarische” zu gelten haben. Außerdem lassen sich viele Gattungen verschieden weit auffächern. Gero von Wilpert räumt allein unter dem Buchstaben A folgenden Roman-Typen einen Artikel ein, die im Nomenclator nicht berücksichtigt wurden, weil ihre Bedeutung zu offensichtlich ist: Adelsroman, Agentenroman, Ankunftsliteratur (als sozialistische Abart des Erziehungsromans), Anti-Utopie, Arztroman, Aventurierroman (neben Aventiure). Dass wir beide Abenteuerroman, Amadisroman, Antiroman und Arbeiterdichtung aufführen, versteht sich von selbst.
Für meine Ermittlung ist ohnehin die Gesamtzahl der Sachbegriffe in verschiedenen Literaturwissenschaften weniger interessant als ihre prozentuale Verteilung auf die verschiedenen Anwendungsgebiete.
[12] In von Wilpert (Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 1955. 6.A. 1979) sind allein unter den Begriffen, die mit A anfangen, elf ausdrücklich als mehrsinnig gekennzeichnet, indem die Erläuterungen nummeriert sind (z. B. “1. In der Metrik 2. In der Rhetorik ...“ etc.). Zwei Bedeutungen haben die Stichworte Abhandlung, Akephal, Anakiesis, Antithese, Antizipation, Antonomasie, Arbeiterdichtung, Argument, Auflösung. Drei Bedeutungen hat Antistrophe, und Abecedarien sogar vier.
[13] Vergl. R. R. Wuthenow in seiner Rezension einer Anthologie japanischer Iiteraturw. Fachtexte (In: Poetica, 15, 1983, S. 369): „Im Ganzen zeigt sich eine andere Begrifflichkeit, viel weniger Formales, weniger Analyse, der theoretische Aspekt spielt keine so große Rolle... Überhaupt sind poetologische Reflexionen höchst spärlich.“ (S. 373).
[14] Slawiñski (s.o. 1975, 70) spricht vom „weiten Kreis der Benennungen für die... Morphologie der Inhaltsebene im literarischen Werk... wo die Quasi-Namen fast allmächtig sind“ und die „einem bei näherer Betrachtung hilflos angesichts der Vielfalt und Unterschiedlichkeit ihrer Verwendungen“ lassen.
- Arbeit zitieren
- Dr. Wolfgang Ruttkowski (Autor:in), 1986, Der Geltungsbereich unserer literarischen Sachbegriffe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82642
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