Leseprobe
Inhalt
Einleitung
1. Der Löwe
1.1. Verständnis des Löwen im Mittelalter
Symbolik des Löwen im „Iwein“
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Stark, eigenwillig, frei, gnädig, klug, mutig, wild, zugleich ruhig, tugendhaft, ehrenvoll, streng, großherzig, demütig.
– Eigenschaften, die dem Löwen zukommen, und seit frühesten Zeiten, lange noch vor der Blütezeit des Löwenvergleichs im Mittelalter oder gar Anspielungen und Verbildlichungen in biblischen Erzählungen, bestanden und bis heute ihre Bedeutung nicht verloren haben.
„Der König der Tiere“1 war, ist und bleibt Symbol (überwiegend) guter Merkmale, wonach der Mensch streben sollte. Nicht sonderlich verwunderlich scheint es somit, dass die Metapher des Löwen weit verbreitet war – heute ebenfalls noch ist, wenn auch in geringerem Ausmaß – und deren Anwendung auf eine Person, vorwiegend Herrscher, Ritter und Helden, jene mit Ruhm und Ehre schmückte.
Auf eine nicht zu zählende Masse an Werken vom Löwen zum Löwenvergleich bis hin zur Verwandlung eines Menschen in einen Löwen und umgekehrt, lässt sich in unserer heutigen Zeit zurückblicken. Ein epochenübergreifendes Thema, das im Mittealter, speziell im Frühmittelalter, seinen Höhepunkt und seine größte Entfaltung2 erfuhr, was an dem darauf folgenden Wandel von Naturdeutung zur objektiven Naturkunde zu belegen sein mag3.
Zu den bedeutendsten und somit auch „entscheidenden Werke[n]“4 dieser „von Löwen behafteten“ Zeit gehört Chrétiens de Troyes „Yvain ou le chevalier au Lion“ oder aber, um welche Erzählung es sich hier handeln wird, die Übersetzung Hartmanns von Aue „Iwein“.
Jener Löwe, der lediglich im Titel des französischen Originals erwähnt wird, im mittelhochdeutschen „Iwein“ dennoch keineswegs in Vergessenheit gerät, im Gegenteil sogar mehr Menschlichkeit und Symbolik erfährt als bei Chrétien, – derselbe, der den gesamten zweiten Handlungsstrang des Werks bestimmt – wird im Licht einiger Interpretationstheorien – wie z.B. der von Milnes, Harris, Cramer – betrachtet und darf als zentrales Thema dieser Ausarbeitung gesehen werden.
1. Der Löwe
Die äußeren Merkmale des in Nordafrika, Mittelost und Indien beheimateten Tiers5, wie die charakteristische Mähne des Männchens, der lange, mit einem Fellbüschel endende Schwanz
und natürlich der grazil anmutende Körper, sind weitest gehend bekannt. Dies gilt für unsere Zeit, wie jedoch auch für die bereits vor Jahrhunderten, bzw. Jahrtausenden zuvor lebenden Menschen und ihre Kultur. Die Erklärung hierfür, dass der Löwe dennoch in aller Munde war und von allen gekannt wurde, trotz der für damalige Verhältnisse viel zu großen Distanzen zu solchen Orte, an denen ihnen Löwen begegnen konnten, nennt Brodeur teils im Folgenden:
Ancient Rome knew the lion as he appeared in the arena, brave and terrible; [...] Europe, partly from the exaggerated tales of travelers, partly from the Physiologus, partly from Scriptural texts, knew the lion as a noble, knightly beast, which might serve as the symbol of Christ.6
1.1 Verständnis des Löwen im Mittelalter
Brodeur erwähnt u.a. den Physiologus, wie auch die biblischen Erzählungen, womit er bereits die beiden einflussreichsten Medien des Mittelalters einbringt. Diese beiden „nahverwandten“ – da der Physiologus kaum als Eigenständiges, von der Bibel Unabhängiges, da auch als „christliche Bearbeitung von Tierberichten“7 bekannt, gesehen werden kann – Schriften galten etwa um 1000 n.Chr. als „literarischer Erfahrungs- und Erwartungshorizont“8, was dazu führte, dass die eigentliche Naturkunde, das Widerspiegeln der Wirklichkeit, lediglich eine Naturdeutung war. Dies ermöglichte, dass der brüllende, wilde Löwe zu einem Sinnbild Christi, somit „der König der wilden Tiere“ gleichbedeutend für den „König der Könige“9 wurde.
Der Physiologus verstand es, jegliche Allegorien zwischen Gottessohn und Löwen aufzustellen, sodass der in den Bergen umherstreifende und seine Fährte vor Jägern verwischende Löwe als der Erlöser der christlichen Kirche gesehen wurde, der ebenfalls aus den Höhen kam und seine Spur der Gottheit, da im Körper einer Jungfrau geboren und als Mensch unter Menschen lebend und sterbend, verstecken vermochte.10
Für den Leser heute mögen die Vergleiche teils bizarr und wie „an den Haaren herbeigezogen“ wirken oder aber man mag nun der Versuchung erliegen, in jedem Löwenbild des Mittelalters den Gottessohn zu erkennen, doch gilt es – bereits damals – mit voreiligen Christusinterpretationen in Löwen sorgfältig umzugehen, denn „nicht immer bezeichnet ein
Berg den Herrn, nicht immer bezeichnet ein Stein den Herrn, nicht immer bezeichnet ein
Es entspricht zwar den Tatsachen, dass der Symbolgehalt dieses Tieres überwiegend geistlich12 war, dennoch, wie bereits vorweggenommen, wurde er auch als Vergleichstier zu Herrschern und Rittern verwandt. Ginge man hierbei soweit, im nächsten Schritt, da der Löwe als Symbol Jesu und ebenfalls als das eines Herrschers gesehen werden kann, sogleich den Herrscher aus dem Löwenvergleich als gottgleich zu verstehen, käme dies, im Sinne des Mittelalters, der Blasphemie nahe. – Somit muss man die Löwenmetapher auf zwei Bahnen13 betrachten, die vermutlich parallel laufen: den Löwen, stellvertretend für den in der Apokalypseallegorie löwenartigen gegen den Schlangenteufel streitenden Christus und für den gerechten und edlen Herrscher, bzw. für den tapferen und ausgeglichenen Ritter.
Gerecht, edel, tapfer und ausgeglichen. – Lassen sich nun noch vier weitere Eigenschaften der Liste des Löwen hinzufügen, die die bereits erwähnte (s. Einleitung) ergänzt, jedoch längst nicht vervollständigt. Auffällig bleibt, dass die Eigenschaften durchgehend – mit Ausnahme der meisten in den Fabeln vorkommenden Löwen – positiv sind, welches sich bereits im Mittelalter geradezu für ein moralisches Bild anbot, welches in Bestiarien, den Nachfolgern des Physiologus’, jedoch mit weniger heilsgeschichtlichen Allegorien, zusammengefasst wurde. Abzüglich jener Vergleiche blieb das Sinnbild eines vor „virtutes“14 – nach Augustinus: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Selbstbeherrschung – strotzenden Tieres, das das Ideal eines jeden Menschen verkörperte, da es die edelsten Werte in sich trug.
Metaphern und Vergleiche wie das „ lewen herze “ und „ alsam ein lewe wilder “15 ergänzten dieses Idealbild eines jeden heldenhaften Mannes und setzten Eigenschaften voraus, wie „Königlicher[/n] Edelmut, Kräfte, entschlossene Kühnheit, Emsigkeit und Schrecken – nicht ohne Pracht –[…]“16, Freiheit, die insofern galt, dass nur den eigenen Wünschen Folge geleistet werden musste, weiterhin Wildheit im Kampf17, jedoch Ruhe, Rücksicht und Barmherzigkeit gegenüber Unschuldigen, Gnade angesichts sich Niederwerfender und nichtsdestotrotz oder vor allem, über allem stehende Furchtlosigkeit18.
– Gilt es nun als Letztes lediglich noch die Fabeln zu erwähnen, welche dem Physiologus und den Bestiarien an Verbreitung und Bekanntheit nicht nachstanden.
[...]
1 George, Wilma; Yapp, Brunsdon. "III. Mammals 1. Wild Mammals (i) Beasts with Claws – Leo." The Naming of the Beasts – Natural History in the Medieval Beastiary. George, Wilma; Yapp, Brunsdon (Hgg.). Erstauflg. London: Duckworth, 1991. S. 46-49. Hier: S.46.
2 vgl. Brodeur, Arthur G.. "The Grateful Lion." PMLA 39.3, 1924. S. 485-524. Hier S.485.
<http://links.jstor.org/sici?sici=0030–8129%28192409%2939%3A3%3C485%3ATGL%3E2.0.CO%3B2–1>.
3 vgl. Weddige, Hilkert. Einführung in Die Germanistische Mediävistik. Hilkert Weddige (Hgg.). München: Beck, 1987. Hier S. 77.
4 Jäckel, Dirk. Der Herrscher Als Löwe. Neuhaus, H. (Hgg.). Köln: Böhlau & Cie, 2006. Hier S.214.
5 vgl. George, Wilma; Yapp, Brunsdon. Naming. S.46/47.
6 vgl. Brodeur, Arthur G.. Grateful. S.492/493.
7 Weddige, Hilkert. Mediävistik. S.71.
8 ebd., S.74.
9 Jäckel, Dirk. Herrscher. S.145.
10 vgl. Seel, Otto. "I. Vom Löwen." Der Physiologus – Tiere Und Ihre Symbolik. Otto Seel (Hgg.). Neuauflg. Düsseldorf; Zürich: Artemis & Winkler, 2000. S. 5-7. Hier S.5.
Löwe den Herrn, […] (Augustus von Hippo)“11.