Die kranken Königssöhne

Wilhelm Meister und der Hamletismus der Moderne


Seminararbeit, 2004

17 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Hamletismus

3. Symptome
3.1 Unentschlossenheit und Impulsivität
3.2 Weltschmerz und Innerlichkeit
3.3 Wanderlust und Schlendern
3.4 Empfindsamkeit und Ästhetismus
3.5 Suche nach Halt in einer aus den Fugen geratenen Welt

4. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1. Einführung

„Hamlet’s image is one of those that appear to shift and change with the vantage point of the beholder. Moreover, what the beholder says he sees sometimes tells us more about himself than about Hamlet.” (H.P. Bailey, S XIII)[1]

Hamlet und Wilhelm Meister, Kinder des Hauses par excellence, typisieren die Problematik der Söhnegeneration. Beide leben in Zeiten bedeutender Epochenwenden und müssen damit zu Recht kommen. Beide müssen ihre Häuser „untergehen“ sehen bzw. in andere Hände übergeben, damit ein neuer Anfang gemacht werden kann. Die Heilungsgeschichten dieser zwei „kranken Königssöhne“ haben eine starke literaturgeschichtliche Wirkung, die bis ins 21. Jahrhundert andauert. Shakespeares Hamlet gilt als eines der meistinterpretierten literarischen Werke überhaupt und löste unzählige intertextuelle Bezüge und Nachahmer aus. Wilhelm Meisters produktive Fehlinterpretation des Hamlet als Werther-ähnlichen Schwärmer prägte lange Zeit das Hamletbild sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern Europas. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelangen es Karl Jaspers Deutung des Hamlet als aktiven Wahrheitssuchenden[2] und Döblins darauf basierende Hamlet, oder die lange Nacht nimmt ein Ende, den Werther-Hamlet völlig zu vertreiben und den Weg für Heiner Müllers Hamlet-Auseinandersetzung zu ebnen.

Wie das oben angeführte Zitat verdeutlicht, hat jede Generation ihr eigenes Hamletbild geschaffen, vom tatenlosen Träumer der Romantiker bis hin zum arischen Action-Helden der Nationalsozialisten (vgl. Zimmermann, S. 293ff). Es existiert bereits eine breite Palette an Literatur zur deutschen Hamletrezeption, vor allem zum Hamletbild in Wilhelm Meister. Deshalb verzichte ich hier auf einen Versuch, das Hamletbild im Roman festzumachen[3]. Diese Arbeit soll die Modernität und Allgemeingültigkeit der Figur des Wilhelm Meister anhand der Attribute des modernen hamletschen Helden aufzeigen. Für die Charakterisierung des hamletschen Helden stütze ich mich weitgehend auf die Arbeiten von Davis und Bailey. Um mit Wilhelm zu sprechen, „hoffe ich meine Meinung durchaus mit Stellen belegen zu können“ (WML, S. 218).

Wilhelms Interpretation von Hamlet ist naiv und beschränkt[4], darf also nicht mit der Auslegung Goethes gleichgesetzt werden (allein schon die ironisierende Erzählhaltung in den Lehrjahren verbietet eine Identität der Interpretationen Wilhelms und Goethes), wie es etliche Literaturwissenschaftler gemacht haben[5]. Sieht man jedoch die Figur Wilhelms als eine Persona, der Goethe Shakespeares Hamlet zugrunde gelegt hat, gewinnt man einen tieferen Blick in Goethes Hamlet-Verständnis und eine vielseitigere und modernere Analyse der Figur Hamlets.

2. Hamletismus

Der Begriff Hamletismus wurde 1886 erstmals im westeuropäischen Raum[6] vom französischen Schriftsteller und Literaturkritiker Laforgue verwendet, dessen Umdeutung des Hamletfabels in eine symbolistische Prosaerzählung (Hamlet, ou les suites de la pieté du fils[7] ) als früher Höhepunkt der modernen literarischen Auseinandersetzung mit Hamlet gilt. Laforgue beschäftigte sich Zeit seines Lebens mit Hamlet und identifizierte sich stark mit dem Protagonisten, den er als Symbolfigur eines mit dem Rätsel des Lebens konfrontierten Menschen deutete. Der Begriff Hamletismus taucht zwar erstmals im darauf folgenden Jahrhundert in Deutschland auf, in der Form einer von Bab verfassten Kampfschrift gegen den Hamletismus. Die Hamlet-Identität lässt sich jedoch viel früher und mit einer größeren Intensität[8] in Deutschland feststellen, wo „jede Zeit, jede Geistesrichtung ihre eigene Anschauung in Hamlet hineinprojizierte und sich selbst nur in ihm sah“ (Lüthi, S. 10). Der Vormärzdichter Freiligrath brachte diese Identität 1844 in seinem Gedicht Deutschland ist Hamlet auf den Punkt, in welchem er einen Intellektuellen beschreibt, „der über den Worten die Taten vergessen, der das Engagement für die Freiheit sinnierend versäumt und der die Revolutionen, über ihre Rechtfertigung reflektierend, verpaßt hat“ (Loquai, S. 8). Laut Heine kennen die Deutschen „diesen Hamlet, wie wir unser eignes Gesicht kennen, das wir so oft im Spiegel erblicken“ (Heine, zit. bei Loquai, S. 5). Börne geht noch weiter, indem er behauptet: „Ein Deutscher […] schreibt sich ab, und Hamlet ist fertig“ (zit. bei Loquai, S. 4). Im Roman fehlen Andeutungen auf diese Identität mit dem melancholischen Helden nicht. So konstatiert Aurelie: „Es ist der Charakter der Deutschen, daß sie über allem schwer werden, daß alles über ihnen schwer wird“ (WML, S. 278).

Das Phänomen Hamletismus wird generell als ein negatives betrachtet. So spricht Muschg von einer „Hamletkrankheit“ (Muschg, S. 208), Zumbrink vom „Hamletfieber“ (Zumbrink, S. 49), während Loquai das „Hamlet-Syndrom“ als „Ensemble von Symptomen“ beschreibt (Loquai, S. 14). In Freuds psychoanalytischem Deutungsversuch des Hamlet erwähnt er die Interpretationen anderer Hamlet-Ausleger, die „einen krankhaften, unentschlossenen, in das Bereich der Neurasthenie fallenden Charakter (zu) schildern (…)“ versuchen (Freud in Kaiser, S. 27f). Im Folgenden wird ein Katalog der Symptome des hamletschen Helden der Moderne zusammengestellt, die anschließend an der Figur des Wilhelm nachgewiesen werden sollen.

3. Symptome

In diesem Abschnitt sollen neben den in der deutschen Rezeption typischen Eigenschaften wie seinem Zögern und Hang zur Passivität vor allem seltener beleuchtete Charakteristika eines hamletschen Helden untersucht werden. Hierbei stütze ich mich auf die Analysen zweier Romanisten, die sich mit Hamletfiguren in der französischen Literatur beschäftigen. In ihrer folgenreichen Monographie Hamlet in France geht Bailey weit über diese bekannten Aspekte hinaus und fasst den modernen Hamletismus wie folgt zusammen:

„It has primarily an aesthetic connotation […] signifying neutrality in contrast to choice. It suggests distractibility and impulsiveness as much as hesitation and doubt. There is something in it, too, of pride, a pride not easily sustained – in one’s difference from the general run of humanity; of darkness and obsession with death; of ambivalence and frustration, a feeling of ineffectualness, combined with a sense of the futility of all endavour. It implies a nostalgia for integrity and a sense of remoteness from the goal of self-realisation”.[9] (Bailey, S. 153)

Während einige dieser Aspekte durchaus nur auf den Menschen im 20. Jahrhundert zutreffen, so stechen einige der oben genannten Merkmale hervor, die genauso zu Goethes Titelfigur passen, so z.B. Ablenkbarkeit, Stolz und Impulsivität.

Angeregt durch Baileys Arbeit und ausgehend von Essays Valérys und Daniel-Rops, die die Stimmung der Unentschlossenheit in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg mit Hamlet vergleichen[10], untersucht Davis französische Romane der 20er Jahre, deren Helden hamletsche Eigenschaften vorweisen. Unter den gemeinsamen Charakteristika der Protagonisten stellt Davis folgende Eigenschaften fest: Selbstzweifel, -anklagen bzw. Reflexionen über persönliche Mängel, Angst vor der Tat, Unentschlossenheit, Wanderlust/Eskapismus, Ziellosigkeit, Weltschmerz, Suche nach Halt in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, das existentielle Gefühl des Ausgeliefertsein an das menschliche Los. Davis sieht im modernen hamletschen Helden den Vorgänger des absurden Helden wie z.B. von Camus, Sartre o.ä.

3.1 Unentschlossenheit und Impulsivität

Unentschlossenheit und deren Folgen, Zögern und Tatenlosigkeit, gelten als die hamletschen Eigenschaften schlechthin, mit dem Ergebnis, dass jede zaudernde literarische Figur mit Hamlet gleichgesetzt wird. Bailey (siehe Zitat oben) weist jedoch darauf hin, dass Impulsivität und unüberlegtes Handeln genauso zum Charakter eines hamletschen Helden gehören wie diese klassischen Merkmale. David Aubry, der Held von Philippe Soupaults A la dérive ist ein ewig getriebener Suchender, der nicht in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen (vgl. Davis, S. 41). Wenn er schließlich gezwungen wird, sich festzulegen, macht er dies nicht vernunftgeleitet, sondern instinktiv.

Beispiele der Unentschlossenheit und des Zauderns Wilhelms durchziehen den Text wie ein roter Faden. Die Entscheidungsproblematik ist sogar das Thema des einzigen von Wilhelm vollbrachten literarischen Werks – sein Jugendgedicht „Der Jüngling am Scheidewege“. Der Protagonist ist sich seiner Unentschlossenheit bewusst, spricht sie sogar mehrmals an: „es scheint dir unmöglich, dich zu entscheiden; du wünschst, daß irgendein Übergewicht von außen deine Wahl bestimmen möge“ (WML, S. 276).

So fällt er die Entscheidung, in der Stadt zu bleiben, nicht selbst: „Unschlüssig, ob er gehen oder beleiben sollte, stand er unter dem Tore und sah den Arbeitern zu […]“ (WML, S. 90). Selbst über Kleinigkeiten vermag Wilhelm sich nicht zu entscheiden: „er brachte einen unruhigen Tag zu, an dem er sich nicht entschließen konnte zu seinen Handelskorrespondenten zu gehen, und die Briefe, die dort für ihn liegen mochten, abzuholen“ (WML, S. 250). Er lässt sogar den Erfolg der Hamletpremiere – was Zumbrink als seine große Tat, vergleichbar mit Hamlets Racheakt, bezeichnet – lieber auf eine höhere Macht ankommen anstatt er eine Entscheidung über die Besetzung der Rollen des Königs und des Geistes zu treffen. Hierin stellt er eine Gegenfigur zu der des Oheims dar, dessen in den Bekenntnissen festgehaltene Lebensmaxime wie folgt lautet: „Des Mensch größtes Verdienst bleibt wohl, wenn er die Umstände soviel als möglich bestimmt und sich so wenig als möglich von ihnen bestimmen lässt“ (WML, S. 405). Zumbrink sieht in seinem Zögern „nur ein Symptom einer umfassenden Entwicklungshemmung Wilhelms“ (Zumbrink, S. 167). Diese Eigenschaft bleibt bis zum Schluss bestehen, auch nachdem Wilhelm im Zuge seiner Entwicklung andere hamletsche Merkmale abgelegt hat. Auf der Reise zu der kranken Mignon zaudert er noch und will umkehren, weil er glaubt, der Brief sei von der Gräfin (vgl. WML S. 510). Auch nachdem er sich vergewissert hat, dass es sich um die Schrift der schönen Amazone handelt, zweifelt er immer noch daran.

[...]


[1] „Das Image Hamlets scheint sich je nach dem Blickwinkel des Betrachters zu verschieben und zu verändern. Des Weiteren sagt uns das, was der Betrachter zu sehen glaubt, mehr über sich selbst als über Hamlet.“

[2] Vgl. Jaspers, Von der Wahrheit, S. 936ff

[3] Laut Zumbrink (wo) kann man sowieso nicht von einem einheitlichen Hamletbild sprechen, da sich die Hamletinterpretation im Roman mit der Figur des Wilhelm dynamisch entwickelt.

[4] Sie basiert auch auf Wielands nach dem Empfinden der Zeit „bereinigte“ Übersetzung, die Hamlets Wahnsinn in Schwermut umdeutet und die meisten sexuell zweideutigen Stellen weglässt (vgl. Zimmermann, S. 296)

[5] Laut Diamond waren es v.a. die Namen von Goethe und Coleridge die ein rationelles Verständnis des Charakter Hamlets verhinderten (Diamond, S. 90f).

[6] Auf den russischen Hamletismus einzugehen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

[7] Hamlet, oder die Folgen der Pietät des Sohnes

[8] Dies lässt sich möglicherweise anhand der starken Kritik der führenden Schriftsteller Frankreichs (allen voran Voltaire) an der Formlosigkeit Shakespeares erklären, während in Deutschland die Rezeption Shakespeares und die Shakespeare-Begeisterung durch Goethe, Schiller, Herder, Wieland, K.P. Moritz usw. vorbereitet und vorangetrieben wurde.

[9] „Er (der Hamletismus) hat eine vorwiegend ästhetische Konnotation […] und bedeutet Neutralität im Gegensatz zu Entschlossenheit. Er deutet genauso so sehr Ablenkbarkeit und Impulsivität wie Zaudern und Zweifel an. Er weist auch Elemente des Stolzes auf, eines Stolzes, der nicht leicht aufrechterhalten werden kann – in dem Unterschied zwischen einem selbst und dem normalen Menschen, der Dunkelheit und Todesbesessenheit; der Zweideutigkeit und des Frustes, ein Gefühl der Unwirksamkeit verbunden mit einem Sinn der Zwecklosigkeit allen Bestrebens. Er impliziert ein nostalgisches Sehnen nach Unversehrtheit und ein Gefühl der Ferne vom Ziel der Selbstverwirklichung“

[10] Interessant ist die „Hochkonjunktur“ der Hamlet-Stücke und Romane unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg in Frankreich (vgl. Wilhelms Hamlet-Interpretation mit den Folgen des „weggemähten Geschlechtes“), während in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg das Interesse an Hamlet wiederbelebt wird.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Die kranken Königssöhne
Untertitel
Wilhelm Meister und der Hamletismus der Moderne
Hochschule
Technische Universität Dresden
Veranstaltung
Vorlesung: Kinder des Hauses
Note
2,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
17
Katalognummer
V82797
ISBN (eBook)
9783638898478
Dateigröße
386 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Königssöhne, Vorlesung, Kinder, Hauses
Arbeit zitieren
Brendan Bleheen (Autor:in), 2004, Die kranken Königssöhne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82797

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