Ausgehend von der Überlegung, dass sich in der Konstitutions- oder Formierungsphase der Soziologie als Fach die nach Wilhelm Dilthey am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts existierenden drei philosophischen Grundpositionen - der aus dem Materialismus und Naturalismus hervorgegangene Positivismus, der objektive Idealismus und der Idealismus der Freiheit, oder subjektive Idealismus - als Vorlage für die Entwicklung einer eigenständigen Position gedient haben, Soziologie sich also in der Relation zu Philosophie oder in der Auseinandersetzung mit den genannten Grundpositionen entwickelt hat, läßt sich Soziologie theoriegeschichtlich bis ca. 1920 als eine Disziplin verstehen, die Philosophie in Soziologie transformiert.
Diese Transformation kann in zwei unterschiedlichen Strategien erfolgen, nämlich, einerseits in der Entwicklung einer Position, welche Philosophie durch Soziologie ergänzt, die erkenntnistheoretischen und moralphilosophischen Fragen also nicht in der Soziologie alleine beantworten will oder kann, und andererseits als eine solche, die Philosophie durch Soziologie ersetzt.
Bei der Ergänzung einer philosophischen Grundposition wird der Ansatz ins Empirische, die empirisch historische Wirklichkeit verlängert, bei der Ersetzung besteht der Anspruch der Soziologie, alles Grundlegende in soziologischen Begriffen selbst fassen zu können, die philosophische Position bzw. der Ansatz wird gewissermaßen überwunden, weil Soziologie, da sie konkrete empirische Ergebnisse vorlegen kann, erkenntnistheoretische Fragen besser beantworten könne.
[...]
Bezogen auf Durkheims Moraltheorie gilt es die oben genannte Ersetzungs - These der Naturalisierung und Soziologisierung von Kants Metaphysik der Sitten durch Durkheim im Folgenden zu diskutieren, bzw. einige der Aspekte dieser Diskussion aufzuzeigen.
Gliederung
Einleitung
1 Kants Metaphysik der Sitten als Vorlage für Durkheims Physik der Sitten und des Rechts
1.1 Aufbau und Begrifflichkeiten beider Werke im Vergleich
1.2 Eine Auswahl von Zitaten, welche die Bezugnahme Durkheims auf Kant belegt
2 Vergleich der Ansätze von Kant und Durkheim
2.1 Die These von der Naturalisierung und Soziologisierung von Kants Metaphysik der Sitten durch Durkheim
2.2 Die differierenden Grundannahmen
Schlussbetrachtung
Literatur
Einleitung
Ausgehend von der Überlegung, dass sich in der Konstitutions- oder Formierungsphase der Soziologie als Fach die nach Wilhelm Dilthey[1] am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts existierenden drei philosophischen Grundpositionen[2] - der aus dem Materialismus und Naturalismus hervorgegangene Positivismus, der objektive Idealismus und der Idealismus der Freiheit, oder subjektive Idealismus - als Vorlage für die Entwicklung einer eigenständigen Position gedient haben, Soziologie sich also in der Relation zu Philosophie oder in der Auseinandersetzung mit den genannten Grundpositionen entwickelt hat, läßt sich Soziologie theoriegeschichtlich bis ca. 1920 als eine Disziplin verstehen, die Philosophie in Soziologie transformiert[3].
Diese Transformation kann in zwei unterschiedlichen Strategien erfolgen, nämlich, einerseits in der Entwicklung einer Position, welche Philosophie durch Soziologie ergänzt, die erkenntnistheoretischen und moralphilosophischen Fragen also nicht in der Soziologie alleine beantworten will oder kann, und andererseits als eine solche, die Philosophie durch Soziologie ersetzt.
Bei der Ergänzung einer philosophischen Grundposition wird der Ansatz ins Empirische, die empirisch, historische Wirklichkeit verlängert, bei der Ersetzung besteht der Anspruch der Soziologie, alles Grundlegende in soziologischen Begriffen selbst fassen zu können, die philosophische Position bzw. der Ansatz wird gewissermaßen überwunden, weil Soziologie, da sie konkrete empirische Ergebnisse vorlegen kann, erkenntnistheoretische Fragen besser beantworten könne.
Der Bezug bei der theoriegeschichtlichen Betrachtung auf das Konzept des Forschungsprogramms ermöglicht die Zuordnung von geeigneten Autoren[4] bzw. deren Theorien zu dem erwähnten Rückbezug auf philosophische Grundpositionen. Der "harte Kern" der Forschungsprogramme, der z.T. empirischer Überprüfung nicht ausgesetzt werden kann (dadurch geschützt, durch „negative Hermeneutik“)[5], steckt in der Übernahme oder Transformation dieser Grundpositionen. Dabei kann, wie oben erwähnt, die Transformation in unterschiedlicher Art und Weise erfolgen.
So kann die Soziologie Emile Durkheims mit der Vorlage des subjektiven Idealismus, vertreten durch Immanuel Kant, als "soziologischer Kantianismus"[6] dann verstanden werden, wenn man die Ersetzungsthese zugrunde legt[7].
Der zweite Einfluß, dem Durkheim zweifellos unterlag, ist der des Positivismus, vertreten durch August Comte. Hierin liegt - Comte verlangte die „radikale Absage an jede Metaphysik und [erhob] die Forderung, daß jede theoretische Aussage positiv zu begründen sei, d.h. auf empirischen Beobachtungen basieren müsse.“[8] - sicherlich zum einen die Wende Durkheims in der Auffassung (ebenso in der Titelwahl) von der "Metaphysik zur Physik" begründet, und zum anderen die Auffassung, wie gesellschaftliche Verhältnisse zu analysieren seien - nämlich durch empirische Beobachtung. Als „Schlüsselüberlegung“ Durkheims bezeichnen Schülin und Brunner denn auch die Überzeugung, „daß Soziales nur durch Soziales erklärbar sei.“[9] Soziale Sachverhalte müssen als eine eigene Wirklichkeit betrachtet werden, als Dinge, wie in den Regeln der soziologischen Methode formuliert[10].
Durkheims Soziologie[11] ist somit in der Kombination von französischen und deutschen Einflüssen – Comte und Montesquieu einerseits, Kant und Wilhelm Wundt andererseits, - als ein Amalgam von französischen und deutschen Denktraditionen zu verstehen. Es sollten „sich französischer Cartesianismus und deutscher Kantianismus zu einer neuen Wissenschaft Soziologie als einer Art Sozialpsychologie verbinden, beide entscheidend modifiziert durch das empirisch-induktive Verfahren.“[12]
Bezogen auf Durkheims Moraltheorie - nach Hans-Peter Müller hat „kaum ein Sozialwissenschaftler […] der Moral in seinem Denken größere Bedeutung beigemessen als Emile Durkheim […]“[13], und Rene König untertitelt gar sein Kapitel über Durkheim in Klassiker des soziologischen Denkens: „Der Soziologe als Moralist“[14] - gilt es die oben genannte Ersetzungs - These der Naturalisierung und Soziologisierung von Kants Metaphysik der Sitten durch Durkheim im Folgenden zu diskutieren, bzw. einige der Aspekte dieser Diskussion aufzuzeigen.
Zunächst soll am Aufbau der "Physik der Sitten und des Rechts " (Durkheim) einerseits und der "Metaphysik der Sitten" (Kant) andererseits, und an der Verwendung bzw. Übernahme von Begrifflichkeiten der Bezug zwischen Durkheim und Kant nachgewiesen werden. Diese Bezugnahme ist die notwendige Voraussetzung für die Transformationsthese.
Sodann soll anhand eines Vergleichs der Ansätze versucht werden, die o.g. These zu belegen. Hierzu wird eine Betrachtung der grundlegenden Annahmen vorgenommen, welche den moraltheoretischen Arbeiten Durkheims und Kants zugrunde liegen.
[...]
[1] Dilthey 1957: S. 402f.
[2] Dilthey überschreibt das Kapitel: "2. Typen der philosophischen Weltanschauung." (Dilthey 1957: S. 402)
[3] "Soziologische Forschungsprogramme entstanden zunächst aus der Transformation philosophischer." (Schluchter 1998: S. 364)
[4] Auf eine Darstellung des Auswahl- und Beziehungsproblems, sowie auf eine Darstellung des Konzeptes des Forschungsprogramms soll hier verzichtet werden.
[5] Schluchter: laut Vorlesungsmaterial (siehe Anmerkung in Fußnote 11)
[6] Im Unterschied zur kantianisierenden Soziologie Max Webers (Schluchter 2000: S. 33). Beide genannten Autoren – Durkheim wie Weber begründen ihre Soziologie laut Schluchter „aus dem Geist eines transformierten Kant.“ (Schluchter 1996: S. 266)
[7] Schluchter 1991: S. 208; Fußnote 71
[8] Schülin, Brunner 1994: S. 40ff.
[9] Ebd.: S.41
[10] „Die erste und grundlegendste Regel besteht darin, die soziologischen Tatbestände wie Dinge zu betrachten.“ (Durkheim 1961: S. 115)
[11] Hierzu eine Anmerkung: Diese These und alle in der Einleitung, sowie im weiteren Verlauf dieser Arbeit nicht mit Quellen belegten Ansichten und Einsichten sind aus eigenen Aufzeichnungen entnommen, die bei den von Prof. Dr. Wolfgang Schluchter in den Semestern: WS 2002/2003 bis SS 2004 an der Universität Heidelberg gehaltenen Vorlesungen, angefertigt wurden, sowie aus Folienkopien, wie sie in den Vorlesungen benutzt worden sind.
[12] Schluchter 2000: S. 61
[13] Müller 1986: S. 71
[14] König 1976: S. 312
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