Der Integrierte Behandlungs- und Rehabilitationsplan (IBRP)

Möglichkeiten und Grenzen seiner Anwendung aus heilpädagogischer Sicht


Diplomarbeit, 2005

115 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Fachliche Grundlagen des IBRP und ihr Bezug zur Heilpädagogik
2.1 Historischer und fachlicher Entstehungskontext
2.2 Fachliche Grundlagen des IBRP
2.2.1 Chronische psychische Krankheit und Behinderung
2.2.2 Merkmale der Personenzentrierung
2.2.3 Merkmale der Lebensfeldorientierung
2.3 Heilpädagogischer Bezug
2.3.1 Chronische psychische Krankheit und Behinderung
2.3.2 Bezug zur Personenzentrierung
2.3.3 Bezug zur Lebensfeldorientierung

3 Aufbau und Verfahren des IBRP
3.1 Ermittlung des Hilfebedarfs
3.2 Das Komplexleistungsprogramm
3.3 Ermittlung des Personalbedarfs

4 Realisierung der fachlichen Grundlagen
4.1 Implementationsprojekte und Datenlage
4.2 Ebene der Erstellung und Anwendung in Diensten und Einrichtungen
4.2.1 Stand der Umsetzung
4.2.2 Realisierung der fachlichen Grundlagen
4.3 Ebene der Organisation
4.3.1 Empfehlungen der Kommission
4.3.2 Stand der Umsetzung
4.3.3 Realisierung der fachlichen Grundlagen
4.4 Ebene der Finanzierung
4.4.1 Empfehlungen der Kommission
4.4.2 Stand der Umsetzung
4.4.3 Realisierung der fachlichen Grundlagen

5 Schlussbetrachtung

Quellenverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

Das Alte wird nie alt, es wird nur alt das Neue “ (Friedrich Rückert).

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einem faszinierenden Ver- such eines Paradigmenwechsels in der psychiatrischen Versorgung. Per- sonenzentriertheit soll das neue Paradigma sein. Dies bedeutet, vom Menschen her zu denken, die Individualität des Hilfeempfängers zu be- achten und ihm Unterstützung je nach seiner eigenen Bedürfnislage an- zubieten. Nicht länger geben hierbei Einrichtungen vor, welche Hilfe der Einzelne erhält. Der Hilfebedarf des Individuums steht im Zentrum des Hilfesystems (vgl. Kruckenberg 2000, 17ff). Der Integrierte Behandlungs- und Rehabilitationsplan (im Folgenden IBRP) ist das Instrument, welches diesen Paradigmenwechsel in der Praxis unterstützen soll.

Als ich in einem Seminar vom IBRP und dem mit ihm geplanten Para- digmenwechsel hörte, entstand in mir Faszination und Neugier. Ich wollte mehr über den Weg erfahren, auf welchem Personenzentriertheit durch den IBRP realisiert werden soll. Dies führte zur Wahl meines Diplomar- beitsthemas.

Der IBRP entstand im Rahmen eines Forschungsprojektes, welches das damalige Bundesgesundheitsministerium im Jahr 1992 in Auftrag ge- geben hatte. Das Forschungsprojekt sollte Grundlagen für die Personal- bemessung im ambulanten, auch außerklinisch oder komplementär be- zeichneten Bereich der psychiatrischen Versorgung erarbeiten. Mit der Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) von 1990 war für den statio- nären und teilstationären Bereich bereits eine Neuregelung der Personal- bemessung erfolgt. Sie zeichnete sich insbesondere dadurch aus, dass der Bedarf des Patienten nun nicht mehr durch einen festen Platz in der Klinik definiert wurde. Die Hilfegestaltung sollte durch das neue Verfahren vom individuellen Patienten ausgehen. Der Auftrag an die Kommission war es nun, auch für den außerklinischen Bereich eine derartige Konzep- tion zur Personalbemessung zu erarbeiten.

In den Jahren 1992-1996 entwickelte eine vom Bundesgesundheits- ministerium beauftragte Expertenkommission der Aktion Psychisch Kran- ke (im Folgenden APK) daraufhin ihre Empfehlungen, welche sie 1999 in der Langfassung des Berichtes (vgl. BMG 1999a) und in der - mittlerweile fünften Auflage- Kurzfassung (vgl. APK 2005) veröffentlichte Die Kommission beschränkte ihre Empfehlungen nicht auf ein Verfah-ren zur Personalbemessung. Sie setzte Personenzentriertheit als Grund-lage für einen kompletten Umbau des ambulanten psychiatrischen Ver-sorgungssystems. Auf allen Ebenen des Hilfesystems untersuchte die Kommission die Möglichkeiten für eine personenzentrierte Umgestaltung. Sie entwickelte daraus ihre Empfehlungen zur Veränderung der vorhan-denen Strukturen.

Die Personenzentriertheit ist keine neue Idee. Sie ist wohl so alt wie Hilfeformen selbst es sind. Die Individualität des Einzelnen zu beachten, ihn nicht zu entmündigen und von seinem Willen und Wunsch auszuge- hen, ist eine uralte Anforderung an Hilfen. Diese Anforderung wird jedoch immer wieder neu thematisiert, weil es anscheinend nicht selbstverständ- lich ist, dass sie umgesetzt wird. Sie könnte als ‚alter Hut’ bezeichnet wer- den. Dass sie es tatsächlich nicht ist und immer wieder einer besonderen Erwähnung bedarf, beweisen - neben anderen Ansätzen - die Empfehlun- gen der Kommission.

Die Idee eines wirklich individuum-bezogenen Hilfesystems, in wel- chem der Einzelne genau das bekommt, was er benötigt, dies übte auch auf mich eine starke Faszination aus. Personenzentriertheit ist ebenfalls das zentrale Anliegen der Heilpädagogik und ich verfolge in dieser Arbeit auch das Ziel, die fachlichen Grundlagen der Empfehlungen auf Parallelen zur Heilpädagogik zu überprüfen. Meine Kernfrage der Arbeit ist daher:

Was sind die fachlichen Leitlinien des IBRP und wie werden sie bislang realisiert? Was geschieht mit ihnen während ihres ‚langen Marsches’ durch das gegebene Versorgungssystem? Wo liegen die Grenzen für die Umsetzung der Leitidee der Personenzentriertheit?

Die fachlichen Grundlagen werden jedoch auch kritisch betrachtet werden. Der IBRP ist ein Instrument, welches gegenüber Kostenträgern attraktiv gemacht werden muss. Anforderungen der Ökonomie muss heut- zutage jeder neue Ansatz, jede neue gute Idee im Bereich der sozialen Hilfen genügen. Daher will ich finanzielle Aspekte nicht per se als negativ und ,böse’ verstehen. Jedoch wird erörtert werden, inwieweit die Verwen- dung fachlicher Argumentation tatsächlich auch aus einer fachlichen Moti- vation herrührt.

Der Aufbau und das methodische Vorgehen der Arbeit ist folgendes:

2. Kapitel

Zunächst wird die für den IBRP relevante geschichtliche Entwicklung der psychiatrischen Versorgung dargestellt. Im nächsten Schritt werden die fachlichen Grundlagen der Empfehlungen vorgestellt und auf Paralle- len zur Heilpädagogik hin überprüft. Der theoretische Ansatz der Inklusion der Behindertenpädagogik weist besondere fachliche Parallelen auf, da- her ziehe ich ihn hinzu. Er ist zwar geeignet, um die Verbindung zwischen IBRP und Heilpädagogik herzustellen, wirft jedoch auch einige Fragen auf. Daher wird der Begriff der Inklusion vor dem Hintergrund der funktional- strukturellen Systemtheorie Niklas Luhmanns um die Perspektive der Ca- pabilities nach Amartya Sen ergänzt. Diese Ergänzung ist aus meiner Sicht notwenig, um die Betrachtung der Möglichkeiten und Grenzen der Realisierung umfassender und detaillierter durchführen zu können. Sie vervollständigt die heilpädagogische Sicht auf die Realisierung der fachli- chen Leitlinien.

3. Kapitel

Nun wird das Instrument IBRP in seinem Aufbau und Vorgehen bei der Ermittlung des Hilfebedarfs dargestellt. Seine Einbettung in das Komplexleistungsprogramm Sozialpsychiatrische Behandlung, Rehabilitation und Eingliederung wird umrissen und im Anschluss daran wird das Verfahren zur Personalbemessung erläutert. Zum Abschluss und als Übergang folgt ein grober Überblick über den Gesamtzusammenhang der Realisierung, vor welchem der IBRP gesehen werden muss.

4. Kapitel

Hier geht es um die Hauptfragestellung. Wo finden sich die fachlichen Grundlagen (ergänzt um die Perspektive der Capabilities) in der Realisie- rung wieder? Besonderen Wert lege ich in diesem Kapitel auf die Ebene der Beziehung von Klienten und Helfern, auf die organisatorische Ebene und auf die Finanzierung. Die wesentlichen rechtlichen Aspekte werden nicht gesondert thematisiert sondern finden sich besonders innerhalb der organisatorischen Ebene wieder.

5.Kapitel:

In der Schlussbetrachtung fasse ich die Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung des IBRP zusammen und nenne auch die Fragen, welche mir offen geblieben sind.

In der vorliegenden Arbeit wird durchgängig die männliche Bezeichnung verwendet, wenn auch eine weibliche möglich wäre. Dies stellt keine Diskriminierung des weiblichen Geschlechts dar, sondern soll der Lesbarkeit des Textes dienen.

2 Fachliche Grundlagen des IBRP und ihr Bezug zur Heilpädagogik

Das zentrale Anliegen in diesem Kapitel ist die Suche nach den fachli- chen Gemeinsamkeiten der Theorien, welche dem IBRP zugrunde liegen und ausgewählter Aspekte der Heilpädagogik. Dafür stelle ich die fachli- chen Grundannahmen der Empfehlungen der Kommission vor, bezogen auf das zugrunde liegende Konzept chronischer psychischer Krankheit und Behinderung, das Menschenbild und die Konzeption psychiatrischer Rehabilitation. Im weiteren Schritt überprüfe ich sie auf ihren heilpädago- gischen Bezug.

Um die Funktion und fachliche Bedeutung des Integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplans verstehen zu können, bedarf es im ersten Schritt dieses Kapitels einer kurzen Herleitung der geschichtlichen Entwicklung der psychiatrischen Reformen seit 1975 hinsichtlich ihrer Relevanz für den IBRP. Ebenfalls relevant für die fachliche Bedeutung des IBRP ist die Kritik der Kommission an der Reha-Kette, welche mit der geschichtlichen Entwicklung eng verzahnt ist.

2.1 Historischer und fachlicher Entstehungskontext

Ausgehend von den Forderungen der Psychiatrie-Enquéte von 1975 hatte in den Jahren von 1975 bis 1988 ein konstanter Aufbau von kom- munalen gemeindenahen psychiatrischen Angebotstrukturen in einem jeweils festgelegten Standardversorgungsgebiet der Gemeinde stattge- funden. Im Jahr 1988 wurde diese Entwicklung durch eine erste Experten- kommission beurteilt. Das größte Problem stellte die mangelnde Integrati- on besonders der chronisch und schwer psychisch erkrankten Mitbürger dar (vgl. Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit 1988). Kulenkampff formulierte dies folgendermaßen: „… da ß die deutli- chen Verbesserungen der Lage psychisch Kranker, welche sich zweifels- frei infolge der Psychiatrie-Enqu é te ergeben haben, weitgehend an der hier gemeinten Gruppe langfristig psychisch Kranker und Behinderter vor- beigegangen sind ( … ). In gewissem Sinne kann man nachträglich sagen, dass die Qualität eines Gesamtsystems psychiatrischer Versorgung wahr- scheinlich von der Qualität des Instrumentariums abhängig ist, welches der Versorgung chronisch psychisch Kranker dient “ (Kulenkampff 1990, 15-16). Als gewichtigsten Grund für die mangelnde Integration wurde das Fehlen eines ausreichend aufgebauten ambulanten Bereiches betrachtet. Das Ziel ,ambulant vor stationär’ welches seit der Enquéte die primäre Leitvorstellung der Psychiatriereform darstellte, war nach den Erkenntnis- sen der Kommission von 1988 noch nicht genügend verwirklicht. Psy- chisch Kranke und Behinderte erhielten Behandlung, Rehabilitation und Betreuung noch immer überwiegend in stationären Einrichtungen (vgl. APK 2005, 10). Um nun eine tatsächlich bedarfsgerechte ambulante Ver- sorgung für alle Patientengruppen zu ermöglichen, wurde vom Bedarf der am schwersten erkrankten Menschen ausgegangen (vgl. Kulenkampff 1990, 11-12). Benötigt wurde eine Beschreibung der Hilfebedarfe einzel- ner Klientengruppen unabhängig von institutionellen Rahmenbedingun- gen, also losgelöst von der institutionellen Definition des Hilfebedarfs. Um diese Loslösung von der Institutionsperspektive zu ermöglichen, unterteil- te die Kommission das Versorgungsgebiet in Funktionen, welche eine fachgerechte Behandlung und Betreuung aller psychisch Kranken gewähr- leisten sollten (vgl. Peukert 2003a, ohne Zählung). Diese Gliederung in Funktionsbereiche führte zu den Bausteinen der gemeindepsychiatrischen Versorgung im Gemeindepsychiatrischen Verbund (GPV) (vgl. Kulen- kampff; APK 1990), in welchem nach den Empfehlungen der Experten- kommission in einem Standardversorgungsgebiet (150.000 Einwohner) mindestens folgende Einrichtungsarten vorhanden sein müssen: ein auf- suchend ambulanter Dienst, eine Einrichtung mit Kontaktstellenfunktion sowie eine Tagesstätte. Der GPV hatte zum Zweck, die ausreichende Be- reitstellung der Hilfen in der Kommune verbindlich zu machen, eine Ver- sorgungsverpflichtung für die Träger der einzelnen Regionen sollte die „ Zersplitterung der Träger und Betreibergruppierungen “ (Kulenkampff 1990, 23) in einer Region zu überwinden helfen.

Durch ein Verfahren zur Personalbemessung für den ambulanten, gemeindepsychiatrischen Bereich sollte nun auch durch die Finanzierung ein solcher Strukturwandel unterstützt werden. Die zweite Kommission erarbeitete also in den Jahren 1992-1996 ihre Empfehlungen, welche in den folgenden Erläuterungen dargestellt werden.

Die Zielsetzung des Entwurfes der Kommission lässt sich kurz und prägnant mit dem zu Beginn des Berichtes formulierten Satz benennen: „ Ausgehend von den ‚ Empfehlungen der Expertenkommission von 1988 ’ gilt als Ma ß stab das Ziel, auch den Menschen mit längerfristigen, schwe- ren psychischen Erkrankungen ein selbstbestimmtes Leben im eigenen Lebensfeld zu ermöglichen “ (BMG 1999a, 18, Hervorh. im Orig.).

Der Personenkreis, auf welchen sich die Empfehlungen der Kommis- sion beziehen, sind Menschen mit einer schwer und chronisch verlaufen- den psychischen Erkrankung. Jedoch geht es nur um einen „ verhältnis- m äß ig sehr kleinen Kreis von schwerer und chronisch psychisch kranken Personen “ (ebd.). Diese kommen mit der herkömmlichen ambulanten Be- handlung in ihrem Lebensfeld nicht aus (vgl. APK 2005, 16). Es ist jedoch ebenfalls möglich, dass das jeweilige Lebensfeld mit diesen Personen nicht auskommt (ebd.). Der Begriff Lebensfeld bezieht sich insbesondere auf die sozialen Bezugspersonen (Familie und Freunde), jedoch auch auf die Gemeinde, also das weitere soziale Umfeld des Einzelnen (ebd.). Die- se Personengruppe ist betroffen von chronischen und chronisch rezidivie- rend verlaufenden psychischen Erkrankungen. Unter den herkömmlichen psychiatrischen Versorgungsstrukturen sind diese Menschen nicht ausrei- chend in der Lage, Hilfen für die Bewältigung der Erkrankung aktiv und selbständig zu gestalten (vgl. BMG 1999a, 35).

Die Menschen des skizzierten Personenkreises benötigen meist unter- schiedliche Formen der Hilfe in verschiedenen Bereichen der Lebensfüh- rung. Da das herkömmliche System der Versorgung auf der Annahme beruht, dass ambulante Hilfe wenig Hilfebedarf bedeutet und stationäre Hilfe einen umfassenden und komplexen Hilfebedarf abdeckt, bedeutet dies, dass der Patient mit komplexem Hilfebedarf sich in eine stationäre Einrichtung begeben muss (vgl. Kunze 1997, 18). Der Begriff der Reha- Kette bezeichnet die Aufeinanderfolge von psychiatrischen Einrichtungen, welche ein Patient vom Zeitpunkt seiner Entlassung aus dem stationären Klinikbereich an durchläuft: Geschlossene Station, Offene Station, Reha- Station, Tagesklinik, Institutsambulanz, Fachpraxis, Übergangswohnheim, Dauerwohnheim, Betreutes Wohnen, Tagesstätte, Werkstatt für Behinder- te, Kontakt- und Beratungsstelle, Sozialpsychiatrischer Dienst. Diese Ein- richtungsarten sind „ viele verschiedene, in sich möglichst homogene Standardpakete für Personen mit im Querschnitt möglichst gleichem Hil- febedarf “ (Kunze 2003, 19). Obwohl der Ausbau der verschiedenen Ein- richtungstypen eine in der Psychiatrie-Enquéte und in den Empfehlungen der Expertenkommission von 1988 geforderte Erweiterung des ambulan- ten Angebotes und dadurch einer Reduktion von Langzeithospitalisationen bedeutete, zeichnete sich das System der Versorgung dennoch weiterhin durch das „ zentrale Grundprinzip der Anstalt “ (Kunze 2004a, 661-662) aus. Das „ Anstaltsparadigma “ (BMG 1999A, 64) bewirkt, dass die Planung und Organisation psychiatrischer Hilfen die Klinik als Mittelpunkt voraus- setzt. Es prägte noch immer

- „ die therapeutischen Konzepte;
- die Organisation von (psychiatrischen) Einrichtungen;
- die traditionellen Personalbemessungs-Richtlinien;
- das Denken von Kostenträgern “ (APK 2005, 10).

Die Gestaltung der Hilfe wird hier nicht von dem Hilfeempfänger aus gedacht, sondern der Hilfeempfänger muss sich nach dem vorhandenen Angebot an Einrichtungen und Diensten in seiner Gemeinde richten. Eine Veränderung des Hilfebedarfes erfordert nach dieser Logik einen Wechsel der Einrichtung (vgl. Kunze 2003b, 19) wie zum Beispiel der Wechsel ei- nes Patienten von der Station einer psychiatrischen Klinik in ein Über- gangswohnheim. „ Gem äß dem Anstaltsparadigma kommt die hilfebedürf- tige Person zur Hilfe, statt umgekehrt die Hilfe zur Person in ihrem Le- bensfeld “ (BMG 1999a, 64).

Die Probleme, welche sich aus diesem System ergeben, sind für den betroffenen Erkrankten vielfältig (vgl. Kunze 1997, 19): fremdbestimmte Beziehungsabbrüche und Ortswechsel sind eine schwere Belastung be- sonders für psychisch Erkrankte. Die Entwurzelung des Erkrankten steht einer Stabilisierung seines Zustandes entgegen, da er sich immer wieder mit neuen Menschen und neuen Orten arrangieren muss. Gerade aufge- baute vertrauensvolle Beziehungen zu einzelnen Mitarbeitern oder Be- wohnern der Einrichtung reißen ab und Teilfortschritte in der Behandlung werden dadurch oft wieder zunichte gemacht, zumindest verringert. Je- doch ist auch der Verbleib in einer Einrichtung nicht unproblematisch: der Aufenthalt in der Institution lässt die Gefahr der sozialen Ausgliederung des Erkranken steigen. Die Menschen im Lebensfeld des Erkrankten ler- nen nicht, mit der veränderten Situation umzugehen. Eine umfassende Versorgung in der Institution vermindert die Selbständigkeit der Person, ihre Selbsthilfekräfte werden durch eine Versorgung in der Institution nicht gestärkt. Was Erving Goffman bereits 1961 in seinem Buch „ Asylums - Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates “ als krankmachende und behindernde Wirkungen des Lebens in psychiatri- schen Anstalten angeprangert hatte, hat zum Zeitpunkt der Ergebnisse der Kommission von 1997 noch erhebliche fachliche Relevanz. Auch wenn die Beschreibung der Problematik des Lebens in einer Einrichtung nun nicht mehr in dem radikalen Ton formuliert wird und sich nicht haupt- sächlich auf die Situation in einer geschlossenen „ totalen Institution “ (Goffman 1996, 23) bezieht, so übt die Kommission auch im Jahre 1997 noch eine Grundkritik am Wohnen in einer psychiatrischen Einrichtung. Diese betrifft die Schwächung der Selbstbestimmungs- und Selbsthilfe- kräfte des Klienten durch erhöhte Abhängigkeit und durch die Vernachläs- sigung des sozialen Umfeldes des Erkrankten (vgl. Kunze 2003b, 20). Die Kommission schlussfolgert daraus: „ Einrichtungszentrierte Rehabilitation und Eingliederung wirkt also rehabilitations- bzw. eingliederungsbehin- dernd, ist deshalb nicht bedarfsorientiert und damit auch nicht wirtschaft- lich “ (APK 2005, 13).

Die Überwindung dieser behindernden Bedingungen in der psychiatri- schen komplementären Versorgung ist das Ziel der Empfehlungen der Kommission. Wie dies erreicht werden soll, stelle ich mit dem Rehabilitati- onskonzept der Kommission dar. Zuvor soll jedoch das Behinderungsver- ständnis und das Menschenbild der Kommission erläutert werden.

2.2 Fachliche Grundlagen des IBRP

2.2.1 Chronische psychische Krankheit und Behinderung

Der Behinderungs- und Krankheitsbegriff wurde ursprünglich von der Kommission mit dem früheren Klassifikationsschema International Classi- fication of Impairment, Disability and Health der Weltgesundheitsorganisa- tion (WHO 1980) inhaltlich gefüllt. In der neuesten Auflage der Empfeh- lungen von 2005 passte die Kommission ihre Erläuterungen dem aktuellen Klassifikationsschema der WHO (vgl. Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (im Folgenden DIMDI) 2004, www.dimdi.de), der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) an. Hiernach stellt sich psychische Behinderung auf fol- genden Ebenen dar:

1. die Ebene der Körperfunktionen (zu welchen die mentalen und psychischen Funktionen zugeordnet wurden) und Körperstrukturen . Bei psychischen Erkrankungen können diese Körperfunktionen nach Sicht der Kommission zum Beispiel betreffen: Affektivität, Antrieb, Wahrnehmung, Konzentration, Merkfähigkeit etc.
2. die Ebene der Aktivitäten der Person. Eine problematisch veränderte Aktivität kann Folge von Störungen der Körperfunktionen sein oder durch Umweltfaktoren beeinflusst werden. Zum Beispiel kann die Ausübung von Aktivitäten des alltäglichen Lebens (Einkaufen, Körperhygiene etc.) erschwert sein, des Weiteren die Aufnahme und Pflege sozialer Kontakte oder die Erfüllung allgemeiner Rollenerwartungen.
3. die Ebene der Teilhabe oder Partizipation an Lebensbereichen, diese bezieht die Kommission besonders auf Beeinträchtigungen der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wie zum Beispiel der Verlust des Arbeitsplatzes, Ausgliederung aus dem Wohnbereich, soziale Isolation, Stigmatisierung und Diskriminierung.

Diese drei Ebenen stehen in einem differenzierten Gefüge wechselseitiger Beeinflussungen (vgl. APK 2005, 17), auch mit den persönlichen und umweltbedingten Kontextfaktoren, welche in den Empfehlungen keine detailliertere Erläuterung finden.

Die Wechselwirkungen von verschiedenen Ebenen der Behinderung werden auf die Problematik der Einrichtungsbezogenheit der Hilfen bezo- gen: eine traditionelle Einrichtung ist ein künstliches Lebensfeld, welches sich den jeweiligen funktionellen Einschränkungen des Erkrankten ange- passt hat und sie durch Hilfen zu kompensieren versucht. Sie gleicht die Fähigkeitsstörungen und „ sozialen Beeinträchtigungen “ (ebd., 19) aus, indem sie relativ klar strukturierte Anleitung und Ordnung bezüglich der Lebensführung anbietet, so zum Beispiel im Bereich des Wohnens, der Ernährung, der Tagesstrukturierung und der Arbeit (vgl. APK 2005, 18). Es ist nach der Sicht der Kommission jedoch notwendig, die Hilfe bezogen auf die reale Lebenssituation des Einzelnen zu beziehen und dadurch Krankheitsfolgen auf der personalen und auf der Verhaltensebene so früh wie möglich abzuschwächen. Die Berücksichtigung von persönlichen und umweltbezogenen Kontextfaktoren müsse demnach immer an erster Stel- le stehen (vgl. ebd.). Auf der Ebene der Aktivitäten gehe es besonders um die Handlungsfähigkeit der erkrankten Person in der Ausübung von All- tagsrollen, welche es zu erhalten bzw. zu fördern gelte (vgl. ebd.).

Die Kommission zitiert zusammenfassend Specht, man könne „ eine Behinderung nicht haben. Es kann eine Person lediglich behindert wer den. … Behinderung ist ein Vorgang, dem Wechselwirkungen zwischen bestimmten Beeinträchtigungen undäu ß eren, vor allem sozialen Umstän den zugrunde liegen “ (Specht 1995, zit. n. APK 2005, 17). Um eine größtmögliche Stabilisierung im eigenen Lebensfeld zu ermöglichen, ist es nach Ansicht der Kommission bei der Rehabilitation psychischer Erkrankungen daher nötig, auf drei Ebenen anzusetzen:

1. Die Handlungsfähigkeit der erkrankten Person zu verbessern, besonders in Bezug auf ihre Alltagsrollen,
2. die Rollenerwartungen der Bezugspersonen an die Einschrän- kungen der Person anzupassen und
3. Ausgrenzungsprozesse möglichst früh zu verhindern oder aus- zugleichen, um die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen (vgl. ebd. 19).

Die Kommission bezieht ihr Verständnis von Behinderung schwer- punktmäßig auf das Leben in einer Einrichtung. Einrichtungen sind nach ihrer Ansicht behindernd und daraus erwächst ihre Forderung nach le- bensfeldzentrierter Rehabilitation. Dies wird in Punkt 2.2.3 weiter ausge- führt.

2.2.2 Merkmale der Personenzentrierung

Es wird nun die Grundhaltung der Kommission gegenüber Menschen mit einer psychischen Erkrankung erläutert. Die Grundannahme des den Empfehlungen zugrunde liegenden Menschenbildes ist, dass jeder Mensch als Subjekt seines Handelns zu achten ist, auch und besonders der erkrankte Mensch (vgl. Crome 1997, 27). Das dialogische Prinzip nach Martin Buber, nach welchem die Beziehung zwischen zwei Men- schen ein dialogisches Verhältnis sein sollte bedeutet, den erkrankten Menschen in seiner subjektiven Wahrnehmung ernstzunehmen und seine Bedürfnisse und individuellen Ziele zu achten (vgl. ebd.). Personenzent- riertes Arbeiten heißt demnach immer „ subjektorientiertes Arbeiten, part- nerschaftlich, in Zusammenarbeit mit dem Klienten, ausgehend von sei- nen Bedürfnissen, Fähigkeiten, Zielvorstellungen und Lebensverhältnis- sen “ (Kruckenberg 2000, 18). Therapeutische Arbeit und professionelle Begleitung auf Basis der Subjektzentrierung spricht sich gegen Passivi- tät und Fremdbestimmung des Erkrankten aus und zielt auf die Aktivie- rung der Selbsthilfekräfte des Einzelnen und seines Umfeldes (ebd.). Die- se auf der Ebene der Fähigkeiten und Chancen des Einzelnen ansetzen- de Ressourcenorientierung muss gepaart sein mit dem Prozess der Krankheitsbewältigung, welche auf der Ebene der Erkrankung ansetzt. Durch die therapeutische Förderung der Krankheitsbewältigung kann die Person die Bedeutung der Erkrankung in individueller biographischer Perspektive und ihre subjektive Sinnhaftigkeit erkennen (vgl. Crome 1997, 28). Die Haltung der Professionellen sollte diese Achtung vor dem Sinn einer Erkrankung für den Einzelnen stets aufweisen und sie sollten dem Erkrankten in wertschätzender Zuwendung nach dem dialogischen Prinzip gegenübertreten: „ es geht darum, den Menschen mit seinen Bedürfnissen und Zielen trotz aller krankheitsbedingten persönlichen Einschränkungen ernstzunehmen und ihn nicht zum blo ß en Objekt therapeutischer Aktivitä- ten zu machen “ (ebd., 27).

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Grundhaltung bzw. des Menschen- bildes der Kommission ist die Selbstbestimmung. Die größtmögliche Unabhängigkeit des Erkrankten vom Hilfesystem anzustreben sollte ober- stes Ziel der professionellen Aktivitäten sein (vgl. Kruckenberg 2000, 19). Autonomie und Selbstbestimmung werden ermöglicht, indem die Kom- munikation zwischen Klient und Professionellen auf einer gleichberechtig- ten Ebene im Sinne des sozialpsychiatrischen Grundsatzes „Verhandeln statt Behandeln“ stattfindet. Bei der Planung der Rehabilitationsmaßnah- men hat die Achtung der Ziele und Vorstellungen des Klienten daher oberste Priorität.

Die Mehrdimensionalität der psychischen Erkrankung, das Einge- bundensein des einzelnen Menschen in einen vielfältigen psychosozialen, biologischen und kulturellen Kontext mit den jeweiligen Interdependenzen der einzelnen Bereiche zu beachten, ist ein weiterer wesentliches Merk- mal des zugrunde liegenden Menschenbildes (vgl. Crome 1997, 27-28). Der Patient steht in einem sozialen Bedingungsgefüge, vor welchem er mit all seinen Ausdrucksmöglichkeiten und hinsichtlich des Verlaufs der Behandlung und Rehabilitation gesehen werden muss. Die Wechselwir- kungen zwischen dem sozialen Beziehungsfeld, der Symptomatik und der Behandlung gilt es, zu beachten und einzubeziehen in die Beobachtung des Verlaufs (vgl. ebd., 28). Die Mitglieder der medizinischen Berufsgrup- pen, allen voran die Ärzte, sollen bemüht sein, „ die biologische Dimension - zu relativieren und in ein Gesamtkonzept zu integrieren “ (ebd.).

2.2.3 Merkmale der Lebensfeldorientierung

Gemäß der skizzierten mehrdimensionalen, subjekt- und ressourcen- orientierten Betrachtungsweise orientiert sich der Rehabilitationsbegriff der Empfehlungen an der Konzeption von Douglas Bennett, welche be- reits der Psychiatrie-Enquéte handlungsleitend zugrunde lag. Hiernach bedeutet Rehabilitation, „ chronisch psychisch kranke Personen zu befähi- gen, in einem soweit wie möglich normalen sozialen Kontext den best- möglichen Gebrauch von ihren verbliebenen Fähigkeiten zu machen “ (Bennett 1975, zit.n. APK 2005, 20.). Die Integration in das Lebensfeld des Klienten muss möglichst unmittelbar nach der Akutbehandlung im Krankenhaus geschehen. Lebensfeld bedeutet hier: der reale Lebenskon- text, die Bereiche umfassen Wohnen, Arbeit/Ausbildung, Freizeit (vgl. Kunze 2004, 112). Das Handlungskonzept psychiatrischer Rehabilitation soll demnach besonders auf eine Gemeindeintegration psychisch er- krankter Menschen zielen und die Gemeinde ihrerseits befähigen, mit psychisch erkrankten Menschen offen und ohne ausgrenzende Haltungen umgehen zu können. „ Die Befähigung der Gemeinde, das Phänomen psychischer Krankheit so zu bewältigen, dass psychisch kranke Men- schen als Personen angesehen werden “ (APK 2005, 20). Die Ressour- cenorientierung als Aktivierung und Einbezug sozialer Bezugsrahmen des Klienten in den Behandlungs- und Rehabilitationsverlauf bedeutet also für die Kommission auch, die Integration in die Gemeinde zu ermöglichen und die Kompetenz zu fördern für den Umgang mit psychiatrisch erkrankten Mitbürgern. Besonders dann, wenn psychische Störungen fortbestehen, ist die Förderung des relevanten sozialen Umfeldes im Lebensfeld des Erkrankten besonders geboten (ebd., 21), da die Kompetenz des sozialen Umfeldes im Umgang mit der Erkrankung entscheidend ist für die Integra- tion, Rehabilitation und Eingliederung (vgl. BMG 1999a, 69). Ergänzend dazu ist es wichtig, den nicht-psychiatrischen Diensten bei der Unterstüt- zung der Bezugspersonen und bei der Stabilisierung der erkrankten Per- son zu helfen (ebd.).

Psychiatrische Hilfe soll an letzter Stelle in Frage kommen und den nicht-psychiatrischen Hilfen beratend und unterstützend zur Seite stehen: „ Bestandteil fach-psychiatrischer Hilfe ist es dann, nichtpsychiatrische und nichtprofessionelle Hilfsmöglichkeiten aufzufinden bzw. zu fördern “ (APK 2005, 28).

Hierfür bedarf es eines Hilfesystems, welches selbst personenzentriert ist. Das bedeutet, dass es den Klienten „ echte Wahlchancen “ (Krucken- berg 2000, 18) ermöglicht. Besonders relevant in Bezug auf die Wahl- chancen ist, dass der Klient seinen Wohnort selbst wählen kann. Die Hil- feform und das Wohnen müssen demnach entkoppelt werden (vgl. APK 2005, 14). Das Wohnen ist „ menschliches Grundbedürfnis “ (BMG 1999A, 71), „ basale Notwendigkeit “ (ebd., 72) und „ entscheidende Voraussetzung für soziale Verwurzelung, psychische Stabilität und personale Identität “ (ebd., 71). Die eigene Wohnung ist in erster Linie ein Ort, an dem Ge- wohntes und Alltägliches stattfindet und das Gefühl der Zugehörigkeit und Verwurzelung verleiht (ebd., 72). Das Leben in einer eigenen Wohnung bzw. in der selbstgewählten Wohnform (z.B. in einer therapeutischen Wohngemeinschaft oder einem betreuten Appartement) ist nach Ansicht der Kommission die entscheidende Voraussetzung, damit alle weiteren rehabilitativen Maßnahmen größtmöglichen Erfolg erzielen können (APK 2005, 15). Wahlmöglichkeiten soll der Klient auch haben bezüglich der erfolgenden therapeutischen und rehabilitativen Maßnahmen, es gilt, die für ihn akzeptable und gewünschte Therapieform zu finden (Kunze 2004a, 105).

Die Wahlmöglichkeiten des Klienten zu erhöhen und damit eine selbstbestimmte Lebensweise zu unterstützen, ist das eine Ziel der Ent- koppelung von Wohnen und Hilfe. Eine weitere Begründung für lebens- feldzentrierte Hilfen ist die - besonders durch die Forschungsergebnisse von Drake (1999) bestätigte - Tatsache, dass Rehabilitationserfolge stark abhängen vom jeweiligen sozialen Kontext, in welchem sich der Klient befindet. Ein Transfer von in einem künstlichen Setting einer Einrichtung gemachten Therapieerfolgen ins eigene reale Lebensfeld ist oftmals mit Schwierigkeiten und Rückschritten verbunden. Drake konnte nachweisen, dass Rehabilitationserfolge wesentlich besser und langfristiger sind, je stärker die Maßnahmen in den konkreten Verhältnissen „vor Ort“ stattfin- den (vgl. Kunze 2004b, 112).

Um eine Kontinuität der Hilfeerbringung auch bei wechselndem Hilfe- bedarf und Wechsel der Kostenträgerschaft zu ermöglichen, müssen die Hilfen flexibel organisiert werden und dürfen nicht abhängen von der Art der Wohnform des Klienten (BMG 1999a, 69). Therapeutische und soziale Beziehungen werden dann nicht mehr unterbrochen, wie es nach dem Prinzip der Reha-Kette der Fall ist (vgl. Kunze 2003b, 22). Lebensfeld- zentrierte Hilfe bedeutet also:

- „ Integration im Lebensfeld statt Institutionalisierung “ (ebd.) und
- „ Kontinuität statt Fragmentierung “ (ebd.) der Hilfeangebote.

Die fachlichen Grundlagen für die Rehabilitation und Behandlung schwer und chronisch psychisch Kranker lauten zusammengefasst (vgl. BMG 1999a, 52-53): an erster Stelle steht das Anknüpfen an die Bedürf- nisse des Klienten. Die therapeutische Grundhaltung soll nicht defizitorien- tiert fokussiert sein auf die Symptomlage, sondern die ressourcenorientier- te Förderung von vorhandenen Fähigkeiten, Interessen, Neigungen, Bes- serung der Befindlichkeit, der Lebenszufriedenheit etc. zum Ziel haben. Die weitestgehende Autonomie und Mitbestimmung des Klienten als Prin- zip der Selbstbestimmung und Selbsthilfe und der Einbezug von Ange- hörigen und anderer sozial nahe stehender Bezugspersonen des Klienten soll dafür sorgen, dass der Klient zum „ Experten für seine Krankheit und Behinderung sowie deren Bewältigung “ (Kunze 2004a, 105) wird. Eine Vermeidung der Veränderung des Lebensfeldes des Klienten im Sinne des Normalisierungsprinzips (vgl. APK 2005, 28) wird durch eine flexib- le ambulante Durchführung der Hilfen gewährleistet. Ein Einbezug von psychotherapeutischen, psychopharmakologischen und sozialtherapeuti- schen Hilfen sowie Hilfen zur beruflichen Eingliederung ermöglichen eine mehrdimensionale Behandlung.

Hierfür bedarf es eines Instrumentes, mit welchem dieser institutions- unabhängige Bedarf festgelegt und die Umsetzung in Hilfemaßnahmen ermöglicht wird. Dieses Instrument ist der IBRP. Personenzentrierte Re- habilitationsplanung mit dem IBRP nimmt den Bedarf einer Person als Grundlage für die Hilfegestaltung, richtet sich also personenzentriert nach dem Bedarf des Einzelnen und stimmt die Hilfen einrichtungs-, berufs- gruppen- und trägerübergreifend ab (vgl. Kunze 2004b, 108). Der IBRP soll Komplexleistungsprogramme in unterschiedlicher Trägerzuständigkeit und in unterschiedlichen Einrichtungen koordinieren und Grundlage für die Zuteilung von finanziellen Ressourcen sein. Doch bevor das Instrument näher dargestellt wird, soll zunächst die Beziehung zur Heilpädagogik ge- klärt werden.

2.3 Heilpädagogischer Bezug

Heilpädagogisches Denken lässt sich nicht fassen in einer einzigen Theorie. Vielmehr besteht in der Wissenschaft der Heilpädagogik ein Ne- ben- wenn nicht sogar Gegeneinander verschiedener Konzepte heilpäda- gogischer Ausrichtung, welche mit Bleidick in Rückbeziehung auf Kuhn (1967) als Paradigmen bezeichnet werden können (vgl. Bleidick 1977, 208). Von „ unreflektierter Paradigmenkonkurrenz “ spricht Thimm (1975, 154, zit.n. ebd.) und Kuhn diagnostiziert eine „ wissenschaftliche Krise “ (1981, zit.n. Müller 1986, 2) durch das Nebeneinander, die Konkurrenz und die Rivalität mehrerer Theorieansätze. Es ist nicht Aufgabe der vorlie- genden Arbeit, diese - von verschiedenen Autoren unterschiedlich katego- risierten und wahrgenommenen - Theorien der Heilpädagogik darzustel- len. Eine Erwähnung der Theorienvielfalt ist jedoch aus meiner Sicht wich- tig, damit nicht der Eindruck entsteht, die nachfolgenden Erläuterungen bedeuteten die eine heilpädagogische Theorie und unumstößliche Er- kenntnis und Wahrheit.

2.3.1 Chronische psychische Krankheit und Behinderung

Innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses der Heilpädagogik wird sich bislang aus meiner Sicht nicht ausreichend mit dem Phänomen der psychischen Behinderung beschäftigt. Daher kann von einem genuin heil- pädagogischen Bezug zum Konzept chronischer psychischer Krankheit und Behinderung nicht gesprochen werden. Allerdings weisen die Heilpä- dagogik und die Sozialpsychiatrie Parallelen auf im Bereich ihrer theoreti- schen und praktischen Konzepte. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Be- trachtung der Parallelen von den fachlichen Grundlagen des IBRP und der heilpädagogischen Aspekte, welche die vorliegende Arbeit thematisiert.

Die Konzepte psychischer Krankheit haben sich im letzten Jahrhun- dert konstant weiterentwickelt (vgl. Forster 1997). Zunächst dominierte ein medizinisches Verständnis von psychischer Krankheit. Dieses wurde mit der Entstehung der ‚Sozialpsychiatrie’ und besonders durch die Bewe- gung der ‚Antipsychiatrie’ in Frage gestellt und psychische Krankheit wur- de von den radikalsten Vertretern als ausschließlich gesellschaftlich und sozial verursacht verstanden (vgl. Szasz 1978; Scheff 1973). Mittlerweile sind die heutigen Krankheitskonzepte geprägt von einer multidimensiona- len, Medizinisches, Psychologisches und Soziales integrierenden Sicht geprägt (vgl. Finzen 1998, 5). Sie sind das - stets vorläufige und revidier- bare - Ergebnis der Diskussion zwischen den drei psychiatrischen Sicht- weisen Medizin, Psychologie (Psychoanalyse und Verhaltenstherapie) und Soziologie über psychische Auffälligkeiten und Probleme (vgl. Forster 1997, 165). Am weitesten fortgeschritten in der Entwicklung mehrdimen- sionaler Krankheitsverständnisse ist man in der Befassung mit dem Krankheitsbild der Schizophrenie (vgl. Zubin 1990; Ciompi 1982).

Über psychische Behinderung oder chronische psychische psychische Krankheit existiert bislang nicht nur in der Heilpädagogik, sondern auch in den anderen Nachbardisziplinen kein differenziertes Konzept (vgl. Cechu- ra 1993, 10). Chronisch psychisch Kranke sind bislang wenig ‚erforscht’ und es existieren wenig Definitionen über Art und Wesen chronischer psychischer Krankheit und Behinderung (vgl. Steinhart 1989, 33).

Die bekanntesten Ansätze seien exemplarisch an dieser Stelle be- nannt: John K. Wing übertrug die drei Ebenen der primären, sekundären und tertiären Behinderung auf das Krankheitsbild der Schizophrenie (vgl. Wing 1996). Nach der Theorie der Affektlogik von Luc Ciompi sind für die Chronifizierung schizophrener Erkrankungen psychosoziale Faktoren aus- schlaggebend und weitaus mehr bedeutsam als die biologisch verankerte Vulnerabilität (vgl. Ciompi 1982, 45). Cechura beschäftigte sich ausführ- lich mit den verschiedenen Konzepten psychischer Behinderung und stell- te zusammenfassend fest, dass der Begriff psychische Behinderung sich einer medizinisch-sozialrechtlichen Betrachtungsweise verdankt und durch einen ambivalenten Doppelcharakter gekennzeichnet ist (vgl. Ce- chura 1993, 80-81).

Die einzig konkret greifbare Abgrenzung und Definition von psychischer Behinderung stellt aus meiner Sicht der sozialrechtliche Begriff dar. Er kann mit Bleidick als „ handlungsbegrifflicher Bezugsrahmen “ (Bleidick 1977, 224) betrachtet werden, bietet also einen pragmatischen, praxisorientierten Blick auf den Begriff psychischer Behinderung.

Der sozialrechtliche Begriff der Behinderung ist definiert in §2 Abs. 1 SGB IX. Demnach sind Menschen „… behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahr scheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist “ (§2 Abs. 1 SGB IX).

§3 der Eingliederungshilfeverordnung des SGBXII bestimmt, welche Arten seelischer Störung eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefä- higkeit zur Folge haben können und dadurch Anspruch auf Eingliede- rungshilfeleistungen nach §53 Abs1 Satz 1 SGBXII haben: „ Seelische Stö- rungen, die eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit im Sin- ne des § 53 Abs1 Satz 1 des Gesetzes zur Folge haben können sind

1. körperlich nicht begründbare Psychosen
2. seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verlet- zungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen,
3. Suchtkrankheiten
4. Neurosen und Persönlichkeitsstörungen “ (§3 Eingliederungs- hilfe-Verordnung).

Die Bestimmung über das Vorliegen einer Behinderung obliegt dem Amtsarzt im für den Erkrankten zuständigen Bezirk. Zuvor muss der er- krankte Mensch oder sein gesetzlicher Vertreter einen Antrag auf Feststel- lung der Behinderung stellen. In Verbindung mit einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§2 Abs.1 SGB IX) kann die Behinderung festgestellt werden. Die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und das Vorliegen einer Abweichung von der für das Lebensalter typischen seelischen Gesundheit sind also die sozialrech- tlichen Kriterien, welche darüber entscheiden, wer als behindert eingestuft wird.

Der sozialrechtliche Begriff der psychischen Behinderung ergibt sich aus einer medizinischen Betrachtungsweise, welche durch das SGB IX ergänzt wurde um die Relevanz gesellschaftlicher Bedingungen, die Mög- lichkeiten zur Teilhabe. Die Feststellung einer Behinderung ist also ge- bunden sowohl an in unserer Gesellschaft geltende Vorstellungen über Gesundheit und Krankheit (Diagnose), als auch an unsere Vorstellungen über die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft. Eine medizinische Diagnose in Verbindung mit der Dauer der Erkrankung in Verbindung mit einer Einschränkung der Teilhabefähigkeit ergibt nach sozialrechtlicher Logik eine psychische Behinderung.

Wie das SGBIX erweiterte auch das ICF die Betrachtungsweise auf Behinderung um den Aspekt der gesellschaftlichen Dimension. Die Kon- textfaktoren (Umwelt- und personenbezogene Faktoren) beinhalten diese Dimension. Jedoch klassifiziert sie das Psychische unter den Körperfunk- tionen und grenzt geistige und seelische Funktionen nicht voneinander ab (vgl. DIMDI 2004, www.dimdi.de,). Hierdurch dominiert in der ICF die bio- logische Sicht. Auch in der Art des Verfahrens der Entscheidung über eine Behinderung verbleibt die Medizin dominierend: Es ist alleiniges Recht von Medizinern, die Behinderung festzustellen. Die Hinzuziehung von so- zialen Bezugspersonen, Berichten oder die Befragung des Erkrankten selbst ist nicht verpflichtend. Daher vermute ich, dass die gesellschaftliche Komponente in Gefahr ist, bei mangelhaftem Bemühen des entscheiden- den Arztes um eine umfassende Sicht auf die Lebenssituation des Patien- ten, ein nachrangiges Kriterium zu werden (vgl. Bendel; Rohrmann 2003, ohne Zählung).

Die medizinische Perspektive ist in der Praxis zwar noch dominierend, jedoch ist die Erweiterung um gesellschaftliche Bedingungsfaktoren bei einer psychischen Behinderung in den letzten Jahren stetig vorangeschrit- ten, wie das SGB IX und das ICF exemplarisch zeigen. Dies macht Hoff- nung, dass chronische psychische Krankheit und psychische Behinderung in der Zukunft zunehmend multidimensional und ganzheitlich betrachtet werden. Dies ist aus sozialpsychiatrischer und aus heilpädagogischer Sicht sehr wünschenswert. Die Empfehlungen der Kommission sind ein Versuch, diese ganzheitliche Sicht unter den gegebenen sozialrechtlichen Bedingungen und auch mit Hilfe der vorhandenen Klassifikationen für die Praxis anzuwenden.

2.3.2 Bezug zur Personenzentrierung

Die Grundannahme der Expertenkommission, dass der Mensch als Subjekt seines Handelns zu sehen und zu achten ist, findet sich in der geisteswissenschaftlichen Ausrichtung der heilpädagogischen Theorie fest verankert, mit den bedeutendsten Vertretern wie Heinrich Hanselmann, Paul Moor und Emil E. Kobi. Sie orientierten sich an hermeneutischen Sinnfragen und einer dialogischen Auffassung ihres Tuns. In Bezugnahme auf Buber wird das heilpädagogische Verhältnis zwischen Erzieher und Kind hier als dialogisches Verhältnis beschrieben (vgl. Buber 1984, 9). Den Kern dialogischen Denkens (vgl. Buber 1984, 7ff) bildet der Unter- schied zwischen direkter, gegenseitiger Beziehung zwischen gleichwerti- gen Personen (Ich-Du-Beziehung), in welcher sich die Personen einander in ihrem einzigartigen Wert bestätigen, und indirekter, zweckmäßiger Be- ziehung (Ich-Es-Beziehung), bei der sich die Personen nicht wirklich aner- kennen (vgl. ebd.). Eine wirkliche Begegnung zwischen zwei Menschen entsteht nur „ von Subjekt zu Subjekt “ (Häußler 1999, 233), und eine wirk- liche Annahme des Gegenübers gelingt nur durch die ehrliche Bemühung, den anderen zu verstehen durch emphatische Zuwendung. Mit seinem bekannten Postulat „W ir müssen das Kind erst verstehen, bevor wir es erziehen “ formuliert Moor (1965, 17) dieses Prinzip. Speck betont, dass die „ Anerkennung der Andersartigkeit “ des (behinderten) Kindes Grundla- ge ist für die Haltung des Erziehers (vgl. Speck 1993, 278). Lotz erläutert, dass der zunächst fremde Andere erst durch die Hinwendung zu ihm wahrgenommen und erkannt werden kann: „ An-schauung und An-hörung sind also Voraussetzungen für die An-nahme von Menschen “ (Lotz 1997, 25). Der behinderte Mensch soll demnach in seinem So-Sein akzeptiert werden, angenommen und auf Basis menschlicher Zuwendung und Liebe durch „ umfassende Hin-Gabe “ (ebd.) wahrgenommen und mit hermeneu- tischer Methodik verstanden werden. Die Heilpädagogik erkennt somit die Individualität und die Subjekthaftigkeit jedes Menschen an und akzeptiert die individuelle Lebensgeschichte sowie Art und Weise als auch Rhyth- mus und Tempo individueller Entwicklung.

Ein Mensch mit Behinderung stellt sich oft die Frage nach dem Sinn für seine Situation. Es ist Aufgabe heilpädagogischer Arbeit, diesen Pro- zess der Sinnsuche zu unterstützen, nicht indem Antworten gegeben wer- den, sondern indem der Heilpädagoge zunächst mitfühlt und ein wirkliches Da-Sein für und Mit-Sein mit dem erkrankten Menschen praktiziert (vgl. Lotz 1997, 42). Wenn ein Mensch psychisch erkrankt, bricht zunächst eine Welt für ihn zusammen, „die tragenden Sinnsäulen “ (ebd.) der eigenen Existenz sind nicht mehr wahrnehmbar. Diese „ totale Erschütterung “ (Bollnow 1984, zit.n. ebd.) muss ausgehalten und durch ein „ Verweilen in der Situation und ein Mitfühlen der Sinnleere, die nun real erlebt wird “ (ebd.) angenommen und zugelassen werden. In einem weiteren Schritt geht es darum, durch Selbst-Distanzierung des Erkrankten von sich sein Leid zu verändern, indem er neue Sinngebungen findet. Im Prozess der Krankheitsbewältigung, welches von der Kommission als zentrale Metho- de therapeutischer Arbeit empfohlen wird, geht es genau darum. Der Er- krankte rekonstruiert durch diesen Prozess auf einer dialogischen Basis mit dem Therapeuten den individuellen Sinn seiner Erkrankung und kann sie durch diese Erkenntnis zunächst akzeptieren und dadurch kompeten- ter damit umgehen.

Das Ziel heilpädagogischen Handelns ist es, den Menschen durch ei- ne ganzheitliche Wahrnehmung seiner selbst nicht auf seinen Defekt zu reduzieren, sondern Ressourcen und Potentiale des Individuums zu er- kennen und zu bestärken. Hiermit geht eine Ermutigung (im Sinne der Individualpsychologie Alfred Adlers) einher, welche dem Einzelnen den Mut gibt, seine Situation eigenständig zu bewältigen (vgl. Dreikurs 1969). Ziel einer heilpädagogischen Maßnahme ist also die Befähigung zur Selbsthilfe und Reduktion von Abhängigkeit. Der Mensch soll so weit wie möglich befreit werden von Bevormundung und Entmündigung. Empo- werment und Selbstbestimmung sind Konzepte, welche dies als zentra- len Inhalt und zur Forderung haben: Empowerment ist nach Theunissen „ ein Prozess, in dem Betroffene als „Experten in eigener Sache“ihre An- gelegenheiten selbst(bestimmt) in die Hand nehmen, sich dabei ihrer Fä- higkeiten bewusst werden, eigene Kräfte entwickeln und soziale Ressour- cen nutzen “ (1998, 62, Hervorh. im Orig.). Normalisierung, welches die Kommission mit ihrer Lebenswelt-Orientierung anstrebt, ist ein weiterer wichtiger heilpädagogischer Aspekt in der Gestaltung der Angebote für Menschen mit Behinderungen: „ Normalisierung beinhaltet, allen Men- schen mit geistiger Behinderung Lebensmuster und Alltagsbedingungen zugänglich zu machen, die denüblichen Bedingungen und Lebensarten der Gesellschaft soweit als möglich entsprechen “ (Nirje 1994, 177). Hier- bei geht es im Kern um die Bereitstellung von Möglichkeiten und Bedin- gungen, die ein normales Leben weitestgehend unterstützen.

Die Mehrdimensionalität des Menschenbildes der Kommission ist ebenfalls tief im heilpädagogischen Denken verankert. Um den unter- schiedlichen Individuallagen von Menschen mit körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Beeinträchtigungen oder Behinderungen begeg- nen zu können, bedient sich die Heilpädagogik der Erkenntnisse aus Me- dizin, Psychologie, Soziologie, den Rechtswissenschaften, der Theologie und der Pädagogik als Leitdisziplin. Nur durch die „ transdisziplinäre Ans- trengung “ (Gröschke 1999, 24) wird man der Komplexität einer Erkran- kung oder Behinderung gerecht. Die Wissensstände und Erkenntnisse dieser Disziplinen werden auf ihre heilpädagogische Relevanz überprüft, im Zweifel modifiziert und in das heilpädagogische Selbstverständnis in- tegriert und praktisch umgesetzt. Es erfolgt also die „ Reflexion anderer wissenschaftlicher Erkenntnisse unter dem Primat vor allem heilpädagogi- scher Erfordernisse “ (ebd.). Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht wunderlich, dass sich im Laufe der heilpädagogischen Theorieentwicklung die Heilpädagogik derart „breit ausgefächert“ hat. So lässt sich die Heilpä- dagogik als eklektische Disziplin bezeichnen, die komplexe Entwicklungs- bedingungen „ bewusst annimmt und integriert zu einem Gesamtsystem ´ Heilpädagogik` “.(ebd. 1997, 42). Die Fähigkeiten des Heilpädagogen als „ generalisierter Spezialist “ (Ondracek, Trost 1998, 8) zu Offenheit, Au- thentizität, Flexibilität, Sensibilität und gleichzeitiger Anpassungs- und Veränderungsbereitschaft sind grundlegende Fähigkeiten im Sinne pro- fessioneller heilpädagogischer Handlungskompetenz. Speck spricht vom Gesamtzusammenhang, vor welchem sich heilpädagogisches Handeln stets vollzieht und betrachtet werden muss. Das Denken und Handeln des Einzelnen als Subjekt ist untrennbar mit seiner Umgebung, der persönli- chen Lebenswelt verflochten (vgl. Speck 1997, 23).

Es wurde anhand verschiedener Vertreter der Heilpädagogik darges- tellt, dass das personenzentrierte Menschenbild der Kommission und das - überwiegend in der geisteswissenschaftlichen Tradition verwurzelte - Menschenbild der Heilpädagogik Parallelen aufweisen:

1. die Subjektorientierung bzw. Personenzentrierung,
2. die Selbstbestimmung und Normalisierung.
3. die Ganzheitlichkeit bzw. Mehrdimensionalität.

Nun soll auf die zweite fachliche Grundlage der Empfehlungen eingegangen werden: die Lebensfeldorientierung.

2.3.3 Bezug zur Lebensfeldorientierung

Der Ansatz der Lebensfeldzentrierung findet sich besonders in einem recht jungen Konzept der Behindertenpädagogik wieder. Es handelt sich um das theoretische Konzept der Inklusion. Seine praktische Umsetzung erfährt es im handlungsorientierten Community Care Modell. Dieses Kon- zept legt den Fokus professioneller pädagogischer Arbeit auf die Gemein- deorientierung und Individualisierung der Hilfen für Menschen mit Behin- derung.

Der Begriff Inklusion kommt aus dem englischen Sprachraum und lös- te nach Biewer (2000, 152) den Begriff des ‚mainstreaming’ ab, welcher für das gemeinsame Leben von Menschen mit und ohne Behinderung stand. Das englische Wort ‚inclusion’ bedeutet übersetzt: Einschluss oder Einbeziehung.

Während Integration den Bedarf einer Person eher an ihren Defiziten festmachte und auf dieser Grundlage für eine Integration des behinderten Menschen sorgen wollte, orientiert sich Inklusion an der Verschiedenheit der Menschen als positivem Wert. Behinderung ist hiernach keine indivi- duelle Beeinträchtigung, sondern wird erst verursacht durch eine Gesell- schaft, deren ausgrenzende Strukturen Behinderung erzeugen (vgl. Nie- hoff 2002, www.lebenshilfe.de). Aus dieser - bereits von diversen Selbst- hilfe- und Autonomiebewegungen behinderter Menschen geäußerten - Grundkritik an den „ ausgrenzenden Regelstrukturen “ (Niehoff 2004, 3) der Gesellschaft erwächst im Inklusionskonzept die Vision von und Forderung nach einer „ inklusiven Gesellschaft “ (vgl. ebd. 2002, www.lebenshilfe.de). Menschen mit Behinderung möchten demnach „ Bürger sein - uneinge- schränkt und unbehindert “ (Evangelische Stiftung Alstersdorf 2000, zit.n. ebd.), und ihre „ Besonderung “ (Niehoff 2004, 3) in spezialisierte Institutio- nen entspricht nicht dieser Forderung. Die behinderten Menschen sollen in den Regelstrukturen der Gesellschaft verbleiben können und nicht ge- sondert behandelt werden müssen. Dass die Verschiedenheit aller Men- schen die Normalität ist, soll das Leitmotiv sein für eine Veränderung von in der Gesellschaft bestehenden organisatorischen Strukturen und Auffas- sungen der Menschen (vgl. ebd. 2002, www.lebenshilfe.de). Menschen mit Behinderung sollen in der Gemeinde leben können und vorrangig Un- terstützung aus dem eigenen sozialen Netzwerk erhalten (vgl. ebd. 2004, 5). Durch dieses höhere Maß an Normalität sollen Menschen mit geistiger Behinderung eine stärkere gesellschaftliche Position einnehmen, die zu einer besseren Lebensqualität führt (vgl. Schablon 2005, www.erzwiss.uni-hamburg.de). Dies bedeutet für die Fachkräfte eine Ver- änderung ihres Kerngeschäftes: Unterstützung bedeutet nun nicht länger, Hilfe in spezialisierten Einrichtungen zu leisten. Vielmehr geht die Hilfe in die Lebenswelt des behinderten Menschen und Professionelle verstehen sich als „ Brückenbauer in die Gemeinde “ (vgl. Niehoff 2002, www.lebenshilfe.de).

[...]

Ende der Leseprobe aus 115 Seiten

Details

Titel
Der Integrierte Behandlungs- und Rehabilitationsplan (IBRP)
Untertitel
Möglichkeiten und Grenzen seiner Anwendung aus heilpädagogischer Sicht
Hochschule
Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
115
Katalognummer
V83111
ISBN (eBook)
9783638047043
ISBN (Buch)
9783638943376
Dateigröße
798 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Integrierte, Behandlungs-, Rehabilitationsplan
Arbeit zitieren
Christina Nerlich (Autor:in), 2005, Der Integrierte Behandlungs- und Rehabilitationsplan (IBRP), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83111

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